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Ausgabe:

1913 Nr. 18

Spalte:

547

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Edv. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Textbuch zur Religionsgeschichte 1913

Rezensent:

Bousset, Wilhelm

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547

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 18.

548

Textbuch zur Religionsgefchichte. Hrsg. von Prof. D. Edv. I
Lehmann. (Sammlung theologifcher Lehrbücher.) (VIII,
372 S.) gr. 8°. Leipzig, A. Deichert, Nachf. 1912.

M. 6 —; geb. M. 7.20

Die religionsgefchichtlichen Text- und Lefe-Bücher
mehren fich, ein erfreuliches Zeichen für das immer inten-
fiver erwachende Intereffe an der allgemeinen Religionsgefchichte
. Neben die Werke von Söderblom und Bertholet
tritt nun das von Lehmann. Söderbloms wertvolle
Sammlung ift ja leider nur dem des Schwedifchen Kundigen
zugänglich. Aber auch neben Bertholets Buch ift
das von Lehmann keineswegs überflüffig. Bertholet hat
leider feine Sammlung zunächft auf die Religionen be-
fchränkt, die einen Kanon reproduziert haben und ver-
tröftet die Lefer hinfichtlich der übrigen auf einen zweiten
Band. Und innerhalb des Rahmens, den er fich gefleckt, er
halten die indifchen Religionen einen ganz unerlaubten
Vorzug der Ausführlichkeit (rund 250 von 380 Seiten). Die
hier offenbleibenden Lücken füllt das Buch Lehmanns
mit feinen Texten aus der ägyptifchen, babylonifch-afly-
rifchen (diefer Abfchnitt befonders gut und ausführlich),
griechifchen, römifchen, germanifchen Religion vortrefflich
aus. Die indifchen Religionen find auf das ihnen gebührende
Maß zurückgedrängt (85 von 372 Seiten!). Auch das
ift ein Fortfehritt in der Anlage, daß wiederum innerhalb
diefes Abfchnittes der Buddhismus mit feiner verhältnismäßig
einfachen Struktur nur 15 Seiten (faft etwas zu
wenig gegenüber den 109 Seiten bei B., aber auch das
ift unter dem Gefichtspunkt der gegenfeitigen Ergänzung
der beiden Bücher zu begrüßen) bekommen hat. So ift
Raum gewonnen für die vedifche, jainiftifche (I fehlt bei
B. ganz), brahmanifche und hinduiftifche (fehlt ebenfalls
bei B) Literatur. — Auch der Abfchnitt, der die perfifche
Religion behandelt, ift hier reichlicher und inftruktiver
ausgefallen, obwohl Geldners Auswahl bei B bereits gut
und feinfinnig war. Der Iflam fcheint mir in beiden Textbüchern
etwas zu kurz gekommen zu fein. — Über Methode
und Prinzip der Auswahl wird man natürlich im
einzelnen auch hier rechten können, doch fcheint das
gegenüber der gefamten vortrefflichen Leiftung kaum
angebracht. Nur ein paar Spezialwünfche hätte ich.
Vielleicht könnte der Manichäismus, diefe Religion, die
einmal auf dem Wege war, Weltreligion zu werden,
etwas ausführlicher behandelt werden. Auch ift der Fih-
rift nicht mehr, wie angegeben wird, die Hauptquelle,
daneben ja davor müffen die Originalquellen, die man in
Turfan und auf chinefifchem Boden gefunden, fowie die
vorzügliche Darltellung des Theodor bar Kuni genannt
werden. Und dann müßten wir gerade vom Standpunkt
des theologifchen Intereffes eine Quellenfammlung zu dem
religiöfen Synkretismus der helleniftifch-römifchen Zeit
haben (Regentenkulttexte, Piutarch [de Iside et Ofiride],
Lucian, Apuleius — Zauberpapyri [einiges fchon vorhanden
S. 378], liturgifche Texte, aftrologifche Zeugniffe —
Cicero-Seneca, vielleicht auch Philo —- gnoftifche Texte, —
alfo Stoff in Hülle und Fülle). — Vielleicht könnten bei
einer neuen Auflage diefe Defiderien erfüllt werden. —
Jedenfalls wünfehe ich dem Buche viele Lefer.

Göttingen. Bouffet.

Dürkheim, Prof. Emile: Les Formes elementaires de la Vie
religieuse. Le Systeme totemique en Australie. (647 S.
m. 1 Karte.) 8U. Paris, F. Alcan 1912. fr. 10 —

Ein förmliches abgerundetes Syftem der Religions-
philofophie. Es will nicht nur Auskunft erteilen über
Wefen und Urfprung, fondern zugleich über Wert und
Wahrheit der Religion.

Zunächft Wefen und Urfprung! Der Autor erweift
fich bei Unterfuchung der Frage als einen Vertreter der
ethnologifchen Schule. Freilich fo fchwärmerifch vermeffen
ift er nicht mehr, daß er es für möglich hielte, wiffen-

fchaftlich feftzuftellen, wie genau die allererfte Glaubensform
befchaffen war, und wie fie entftanden ift. Nein,
lediglich darauf kommt es an, die bleibenden Urfachen
und Grundlagen aufzudecken, auf denen die Religion ihrem
Wefen nach beruht. Um zur Löfung diefes Problems zu
gelangen, ift es aber deshalb am zweckmäßigften, vom
Studium der Naturvölker auszugehen, weil uns da der
religiöfe Glaube verhältnismäßig einfach und wenig kompliziert
entgegentritt. Und zwar hält fich der Autor
fpeziell an die auftraiifchen Völker. Von da ausgehend,
lehnt er die Tylorfche Theorie ab, die einft fo einflußreiche
Lehre, daß der ,Animismus' die ältefte Religionsform
gewefen fei. Aber ebenfo den JXfaturismus', die Anfchauung,
daß der Kultus gewaltiger Naturerfcheinungen am Anfang
der Entwicklung geftanden habe. Er behauptet dagegen,
die erfte unferer Beo bachtung zugängliche Religionsform
fei der ,Totemismus' gewefen, wie wir ihn heute
noch bei den auftraiifchen Völkern in mehr oder weniger
reiner Ausprägung vorfinden. Das ift der Glaube an eine,
noch wefentlich unperföniieh gedachte, Macht oder Kraft,
die fich im Totemgegenftand (gewöhnlich einem Tier oder
einer Pflanze), in den einzelnen mit dem Totemgegenftand
fich identifch wiffenden Gliedern der Gemeinfchaft und
ganz befonders in den Abbildern des Totemgegenftandes,
den Emblemen des Clans darltellt. Diefe Macht oder
Kraft verehrt man. Von ihr fühlt man fich abhängig; zu
ihr blickt man vertrauend und hoffend auf. Man leitet
von ihr eine Reihe von Geboten und Verboten ab. Kurzum
, es handelt fich, wenn gleich die Macht, der das alles
gilt, noch nicht perfönlich fondern nach Art des ,Mana'
oder ,Orenda' mehr oder weniger unperföniieh vorgeftellt
wird, um eine wirkliche Religion.

Aus dem Totemismus entwickelte fich dann ganz von
felbft fchon früh der Geifterkult (Ahnengeifterkult und
Naturgeifterkult), fpäter auch der Polytheismus und
Monotheismus, wie in fcharffinniger, oft überfcharffinniger
Ausführung dargelegt wird.

Was weiter fpeziell die Entftehung der Religion betrifft
, fo ift abermals und erft recht die bekannte, mit
Träumen und Vifionen operierende, Theorie Tylors unhaltbar
. Desgleichen das ,Primus deos fecit timor.' Bloße
Furcht hat die Götter nicht gefchaffen. Wohl aber beruht
die Religion auf Erfahrungen eigener Art, die man mit
einem vom Verfaffer felbft nicht gebrauchten, jedoch
gemeinten Ausdruck als ,emotionale' bezeichnen kann.
Sie ift ja, wie insbefondere der Totemismus beweift, Verehrung
einer die ,Gefellfchaft' durchwaltenden Macht. Als
folche ift fie erzeugt durch die Gefühle der Abhängigkeit
und erft recht der Stärkung und Förderung, welche das
Wirken der Gefellfchaft im Menfchen hervorruft.

Was endlich die Frage nach dem Wert und der
Wahrheit der Religion anbelangt, fo kann Dürkheim den
erfteren gar nicht hoch genug anfchlagen. Buchftäblich
alles verdankt die Menfchheit der Religion. Aus ihr ift
nicht nur die Moral, das Recht, die Kunft hervorgegangen,
fondern auch die Wiffenfchaft. Unfere wiffenfchaftliche
Begriffsbildung, unfere Kategorien, das Denkmaterial, mit
dem wir forfchend arbeiten, find durch fie in unfer Geiftes-
leben eingeführt worden. Und die Religion ift auch wahr.
Gott exiftiert. Das Objekt, das der Fromme fich in
Bildern und Symbolen vorftellig macht, und dem er
huldigt, ift eine Realität. Es ift, wie wiederum der Totemismus
beweift, im Grunde nichts anderes als — der Lefer
wolle nicht ftolpern bei folchem Sprung —: eben die
Gefellfchaft, die zugleich empirifche und ideale Gefellfchaft.
Deshalb ift auch der religiöfe Kultus, die religiöfe Moral
und, was damit zufammenhängt, berechtigt. Die Gefellfchaft
verdient ja Verehrung und Gehorfam. Die Wiffenfchaft
aber, die aus der Religion hervorgegangen ift und
heute gelegentlich gegen die Mutter frondiert, kann diefer
fchließlich Erhebliches nicht anhaben. Wahrheit und
Berechtigung der Religion muß fie doch anerkennen,
Sie kann fie auch nicht, wie der jüngere Comte meinte.