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Ausgabe:

1913 Nr. 17

Spalte:

524-525

Titel/Untertitel:

Zwingliana. Mitteilungen zur Geschichte Zwinglis und der Reformation. 1912. (Bd. II, Nr. 15 u. 16.) 1913

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 17.

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Axiome, wenn auch in die abgeleiteten Detail-Folgerungen (conclusiones)
ein kontingentes Element hineinfpielt (Stockums S. 69, Wagner S. 97).
Damit ift die ,wefentliche Identität' des vernunftnotwendigen ethifchen
Naturgefetzes mit dem Dekalog gegeben (Stockums S. 50), der im erllen
Teil ,das abfolute Gemeinwohl aller Menfchen, Gott felbft' als Ziel hin-
ftellt, im zweiten Teil ,das naturnotwendige Verhalten des Menfchen zu
fich felbft und zu den Mitmenfchen im Intereffe des Gefamtwohls' umfaßt
(ib. S. 83). Natürlich bricht diefe Einheit von apriorifchem Naturgefetz
und Dekalog oder Menfchheitsmoral fofort auseinander, fobald, wie dies
in der fkotiftifchen Schule gefchieht, das ethifche Naturgefetz auf das
eingefchränkt wird, was wirklich im ftrengen Sinne des Worts in fich
notwendig ift, d. h. dasjenige, deffen Gegenteil einen logifchen Widerfpruch
in fich fchließt (Stockums S. 128). Dann find auf alle Fälle nur die
beiden erften Gebote des Dekalogs, und zwar nach ihrer negativen Seite
hin, in fich notwendig und unabänderlich. Denn ,der Gotteshaß' ift nach
Duns ,der einzige in fich unerlaubte Akt' (ib. S. 114). Der zweite Teil
des Dekalogs enthält wefentlich pofitiv göttliche Gefetze ,die erläuternd
anzeigen, wie die von Gott dem Menfchen eingeflößten Prinzipien des
Naturgefetzes im praktifchen Leben verwirklicht werden follen' (ib. S. 116).
In der weiteren Entwicklung des Nominalismus von Durandus bis Occam
wird auch die ethifche Möglichkeit des Gotteshaffes zum Problem (ib.
S. 156). Eine wirkliche Ethik ift dann nur durch .pofitive Anordnung'
von feiten des göttlichen Willens möglich, woraus fich die Superiorität
des Willens gegenüber dem Intellekt ergibt. Stockums fucht die thomi-
ftifche Pofition gegenüber der fkotiftifchen Zerfetzung zu verteidigen.
Aber was Duns zu feiner Kritik führt, ift durchaus nicht, wie er ihm vorwirft
, eine ,Verkennung der fozialen Naturanlage des Menfchen' (S. 131), die
auch vor Erlaß des Dekalogs und außerhalb des Bereichs feiner Promulgation
zu einer natürlichen Sittlichkeit geführt hat, fondern die einfache
logifche Gewiffenhaftigkeit, die uns zu einer ftrengen Unterfcheidung nötigt
zwifchen der Notwendigkeit, die auf dem Satz des Widerfpruchs ruht, und
jeder anderen auf pofitiv-empirifcher Grundlage ruhenden Notwendigkeit,
mögen wir den Wert der letzteren auch noch fo hoch einfchätzen. Der zweite
Punkt, in welchem die immanente Spannung der fcholaftifchen Ethik zutage
tritt, ift die Kollifion zwifchen der am Gefamtwohl der Menfchen orientierten
Ethik des Dekalogs und derMoral deraltteftamentlichen Erzählungen.
Als typifche Beifpiele für die letztere werden in den fcholaftifchen Summen
immer 3 Fälle angeführt, der Befehl an Abraham, feinen unfchuldigen
Sohn zu töten, die Mitnahme der geliehenen Gefaffe der Ägypter durch
die Juden, und die Ehe des Propheten Hofea mit einer Hure. Für Duns
löft fich diefe Schwierigkeit einfach. ,Unmöglich für Gott ift nur dasjenige
, was einen inneren Widerfpruch in fich fchließt' (ib. S. 128). Wenn
Gott daher von der gewöhnlichen Regel, die er im Dekalog feftgefetzt
hat, abweicht, fo liegt darin .nichts anderes als ein Zurücktreten der
potentia ordinaria vor der potentia absoluta' (S. 129). Thomas muß fich
durch eine eigentümliche Diftinktion helfen. Nicht das fittliche Naturgefetz
felbft wird in diefen Ausnahmefällen aufgehoben, fondern das Objekt
, auf das es fich bezieht, wird fo verändert, daß es dem Gefetz entzogen
ift, genau wie beim phyfifchen Wunder nicht das Naturgefetz aufgehoben
wird, fondern die Bedingungen aufgehoben werden, an welche
die Geltung der natürlichen Ordnung geknüpft ift (ib. S. 85 f.). ,Was die
Ifraeliten wegnahmen, war nicht mehr fremdes, fondern ihr eigenes Gut,
weil es durch befondere Verfügung Gottes ihr eigenes geworden war',
alfo dem Bereich des 7. Gebotes entzogen war. Hofea ,ging zu einer,
die gemäß der Anordnung Gottes fein Weib war'. Das .Objekt der Handlung
' war alfo fo umgeflaltet, ,daß es für das fechfte Gebot nicht mehr
in Betracht kam' (ib. S. 89). Diefe .indirekte Dispenfation', der die
Kritik von Duns nach Stockums nicht gerecht geworden ift, unterfcheidet
fich natürlich nur fcheinbar von dem fkotiftifchen Rekurs auf die potentia
absoluta. Denn die .Objektsveränderung', die von der abfoluten Macht
Gottes vorgenommen wird, fetzt fich zum fittlichen Naturgefetz in einen
ebenfo fcharfen Widerfpruch wie die direkte Dispenfation. Diefe nahe
Verwandtfchaft der thomiftifchen Löfung mit der fkotiftifchen wird durch
das Seitenreferat Wagners illuftriert, der, weil er Duns nicht zum Vergleich
heranzieht, die feine thomiftifche Unterfcheidung zwifchen dem Gebot an
fich und dem Objekt des Gebots übergeht und die Löfung des Thomas
einfach in dem Gedanken zufammenfaßt, ,daß Gott Herr über alle Dinge
ift, und was daher auf feinen direkten Befehl gefchieht, nicht unrecht fein
kann' (Wagner S. 94). Er fcheint nicht zu bemerken, daß bei diefer
Formulierung der thomiftifchen Löfung das Fundament der thomiftifchen
Ethik unterminiert ift, nämlich die Identität des im Dekalog entfalteten
.Naturgefetzes' mit dem unabänderlichen Gefetz der göttlichen Vernunft

So find diefe beiden Schriften durch die Schwierigkeiten
, in die fie fich beim Nachweis der Unüberbietbarkeit
des thomiftifchen Standpunkts verwickeln, eine in-
tereffante Illuftration dafür, daß der Thomismus infolge
feiner Entftehung aus heterogenen Quellen von Anfang
an den Keim zu feiner Zerfetzung und damit zu einer
über ihn hinausgehenden Entwicklung der Ethik in
fich trug.

Halle a. S. Karl Heim.

Heuckelum, Mercedes van: Spiritualiftilche Strömungen an
den Höfen v. Aragon u. Anjou während der Höhe des Ar-

mutsftreites. (Abhandlungen zur mittleren u. neueren
Gefchichte. 38.) (V, 91 S.) gr. 8°. Berlin, Dr. W. Rothfchild
1912. M. 3 —

Diefe auf eine Anregung Finkes zurückgehende und
aus feinen wertvollen Quellenpublikationen und fonftigen
Mitteilungen fchöpfende Arbeit ftellt fehr gefchickt und
anziehend zufammen, was von Angaben über Einwirkungen
fpiritualiftifch gefinnter Männer, von Laien und Theologen,
und über ihre Anhänger und Anhängerinnen an den Höfen
von Aragon, Sizilien und Neapel vom Ende des 13. bis
in die vierziger Jahre des 14. Jahrhunderts fich hat finden
laffen. Von den bedeutenden fpiritualiftifchen Führern
treten hervor Arnald von Villanova, der Laientheologe,
Petrus Johannis Olivi, Philipp von Mallorka, Michael von
Cesena; von den Fürften und Fürftinnen Jakob (Jayme)
II. von Aragon, Friedrich III. von Sizilien, Robert von
Neapel und vor allen feine Gemahlin Sancia von Mallorka,
die Schwefter Philipps von Mallorka. Es ift fehr feltfam,
daß der Hof der Anjous von Neapel, den fich der päpft-
liche Stuhl zu Danke verpflichtet glaubte, feit etwa 1328
für die Spiritualen ein tatkräftiges, im Grunde gegen die
Kurie gerichtetes Intereffe zeigte. Am Hofe von Aragon
hat das übertriebene Spiritualentum nur in der Perfon
Arnalds von Villanova eine und zwar fehr flüchtige Rolle
gefpielt, während Friedrich III. von Sizilien die Spiritualen
dauernd fchützte. Doch find diefe Höfe niemals unter
der Einwirkung der fpiritualiftifchen Gedanken foweit gegangen
, fich von der Autorität des Papfttums loszufagen.
Als Gründe für diefe anfcheinend überrafchende Verbreitung
und Einwirkung der Spiritualen nennt van
Heuckelum die übermäßige Steigerung des Luxus und
Verflachung der gefamten Lebenshaltung, eine weitverbreitete
Skepfis der Weltanfchauung und die fteigende
Abneigung gegen die verweltlichte Kurie und das immer
ausfchließlicher politifch-finanzielle Tendenzen hervorkehrende
Papfttum. Es ift fehr erfreulich, daß die Schuld
des Papfttums nicht verfchwiegen wird; nur hätte fie, fo-
viel ich urteilen kann, viel deutlicher hervorgekehrt und
feine Haltung, die, weil fie fo gut wie ganz politifch ift,
von religiöfen Gefichtspunkten aus gefehen, in den meiften
Fällen unchriftlich erfcheint, viel fchärfer beurteilt werden
müffen. Dann wären auch die vielen fcharfen Urteile
über die Spiritualen, die fich bei van Heuckelum finden,
wie Verfchwommenheit, unklares Gemifch von Devotion
und Anmaßung uff. ficherlich ermäßigt worden. Man muß
die Spiritualen meffen an dem, was ihnen Autorität war,
und nicht an dem, was den Anhängern des Papfttums
als höchfte Autorität erfchien. Tut man dies, fo wird
man auch die große Bedeutung fich erklären können,
die der Tatfache zukommt, daß fpiritualiftifche Gedanken
an den genannten Höfen Vertretung fanden; fie bereitet
künftige Geftaltungen vor. Es ift ein großes Verdienft
der vorliegenden Arbeit, ein bedeutendes Stück der Gefchichte
der Spiritualen weiteren Kreifen bekannt gemacht
zu haben.

Kiel. G. Ficker.

Zwingliana. Mitteilungen zur Gefchichte Zwingiis u. der
Reformation. Hrsg. vom Zwingliverein in Zürich. Red.:
G. Meyer v. Knonau. Jahrg. 1912. 2 Nrn. [II. Bd.,
Nr. 15 u. 16] (S. 451—519 m. 2 Taf.) gr. 8°. Zürich,
Zürcher u. Furrer. M. 1.50

Der Jahrgang 1912 der Zwingliana, der den 2. Band
abfchließt, bringt eine Reihe Beiträge zur Zwinglibiographie.
Wir lernen den Boden kennen, auf welchem Zwingli als
Knabe bei feinem Ohm Bartholomäus aufwuchs in Wefen.
Auffehen erregt die neue Nachricht, daß Zwingli fchon
im Winter 1498/99 in Wien infkribiert, aber ausgefchloffen
und im Sommer 1500 wieder eingetragen wurde. Der
erfte Eintrag lautet: Vdalricus Zwinglij de Glaris, dem von