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Ausgabe:

1913 Nr. 16

Spalte:

499-501

Autor/Hrsg.:

Flournoy, Th.

Titel/Untertitel:

La philosophie de William James 1913

Rezensent:

Vorbrodt, Gustav

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499

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 16.

500

Locke zufammengekoppelte Hume bei einer Sonderdar-
fteüung in vollerem Gewicht hervortreten können. Eine
allfeitige, aus dem vollen fchöpfende Aufklärung über die
Struktur des kantifchen Kritizismus gibt P. Menzer
(S. in—1155), der üch hier auf den Forfchungsertrag
eigenfter Studien, namentlich feines ausgezeichneten
Buches ,Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und
Gefchichte'(1911), zu ftützen vermag. In dem Literaturverzeichnis
S. 155 follte auch die Kantmonographie von
Oswald Külpe erwähnt werden, die uns die Philofopheme
des großen Königsbergers mit den kritifchen Augen der
modernen Experimentalpfychologie betrachten und würdigen
lehrt. Die weiteren Artikel, die den Reft des
zweiten Bandes füllen, find folgende: Fichte (S. 159
bis 183) von F. Medicus, Hegel (S. 187—230) von
H. Falkenheim, Schelling (S.231—268) von O. Braun,
Schopenhauer (S. 271—297) und Herbart (S.301—330)
von R. Lehmann, Nietzfche (S.333—360) von A.Pfänder
. Unter ihnen möchte ich den gehaltvollen, z.T. neues
Material benutzenden Artikel des bekannten Schelling-
forfchers O. Braun der Aufmerkfamkeit der wiffenfchaft-
lichen Lefer aufs wärmfte empfehlen.

Zum Abfchluß des gefamten Werkes, das wir mit
Dank begrüßen, legt W. Windelband mit feiner gewohnten
dialektifchen Virtuofität ,die philofophifchen
Richtungen der Gegenwart' (S. 361—377) dar.

Königsberg i. Pr. A. Kowalewski.

Flournoy, Prof. Th.: La Philosophie de William James. (219S.)
kl. 8°. Saint-Blaise, Foyer Solidariste 1911. fr. 2.50

Die Association chretienne d'Etudiants hat in dem
für Theologen beachtenswerten Verlag die vorliegende
Schrift veröffentlicht, die einen vor jenem Verein gehaltenen
Vortrag in erweiterter Form bietet. Bei der
Bedeutung von W.James für das gefamte moderne Geiftes-
leben, das auf den Univerfitäten vom Neukantianismus,
in Wirklichkeit vom Empirismus beherrfcht wird, ift eine
Auseinanderfetzung der Theologie mit James, bez. eine
genauere Kenntnisnahme feiner pluraliftifchen Anfchauung,
die er fogar auf die Gottheit in einer Art Polytheismus
ausdehnt (Flournoy S. 46) erforderlich. Für die Religions-
pfychologie fpeziell kommen auch die von Fl. genau regi-
ftrierten Artikel von James in franzöfifcher Zunge in Betracht
, nämlich Du role de la religion dans la vie humaine
in Annales de philos. chretienne 1903, II, S. 557—64 und
La religion comme fait psychologique in Revue de philos.
1905, S. 5—20. Es dürfte in der Gefchichte theiftifch-
indeterminiftifcher Auffaffung die Kombination diefer mit
Radikalem Empirismus' bei James zum erftenmal begegnen.
Das Bemerkenswerte dabei ift nicht nur die Vielfeitigkeit
feiner Geiftesintereffen, in der er apologetifch chriftliche
Lebensanfchauung hineinftraJalen läßt, fondern auch die
Gefchloffenheit feines Syftems.

1912 ift von Emile Boutroux's Abhandlungen eine
Reihe, unter anderen die über .William James' bei Veit
& Co. in Leipzig überfetzt. Deutet fchon der Vergleich
des Inhaltsverzeichniffes bei B. und Flournoy
auf eine gediegenere und umfaffendere Darftellung bei
Fl., lb erft recht deffen Ausführung. Derfelbe hat in
11 Abfchnitten den Gedankenbau feines wahlverwandten
Freundes beleuchtet: I. Künftlernatur, II. Jugendeinflüffe,
III. Ablehnung des Monismus, IV. Pragmatismus, V. Radikaler
Empirismus, VI. Pluralismus, VII. Tychismus, VIII.
Melior- und Moralismus, IX. Theismus, X. Wille zum
Glauben, XI. Schlußüberficht, Anhang: Flournoy über
James' Varieties, wiederabgedr. aus Revue Philosophique,
Nov. 1892—Febr. 1893. Mit Rückficht auf einen ausführlicheren
, in Zeitschr. f. Phil. u. philos. Kr. zu veröffentlichenden
Auffatz, befchränke ich mich hier auf die
fpeziell theologifchen Fragen und zwar auf a) Theismus
(S. 123—150), b) Wille zum Glauben (S. 151—170), c) die

feinfinnige Beurteilung der Varieties feitens Flournoys im
Anhang (S. 197—219).

a) Wenn die philofophifche Grundvorausfetzung bei
James nach Fl. die Verhöhnung der fittlich-religiöfen Forderungen
mit der exakten Wiffenfchaft gewefen ift, fo liegt
ein bemerkenswerter Beweis dafür fogar im Titel eines
feiner erften Auffätze vor: .Reflexwirkung und Theismus',
1881. In der deutfchen Ausgabe von Will to believe ift
jener Auffatz nicht mit überfetzt — in einer Reihe deutfcher
Überfetzungen von James ift das Weglaffen von Hauptpartien
zu beklagen —, auch fonft von Bufch, W. James'
pragmatifche Religionsphilofophie in .Religion und Geiftes-
kultur' 1910 u. Ii fowie in feiner ähnlich lautenden Differ-
tation, Göttingen 1911 nicht wiedergegeben. Nach Fl.
führt James aus: Vermöge der Verknüpfung von Leib und
Seele muß unfer Geiftesleben diefelbe Gefamtftruktur tragen
wie unfer Nervenfyftem, das aus einer Verkettung von
3 Schichten befteht. Die mittlere (Reflexzentren einfchließ-
lich Hirnrinde) dient als Durchgang der erfteren mit
fenüblen Nerven zur dritten mit motorifchen und hat die
einzige Funktion, nämlich die von der Peripherie her in
bunter Reihe zugeführten Erregungen in koordinierte und
dem Organismus angepaßte Reaktionen umzufetzen. Diefelbe
Teleologie muß fleh im Geiftesleben wiederholen,
das ebenfalls 3 Schichten umfaßt: Wahrnehmung, Intellekt
und emotiv-volitive Reaktionen, die die Lebensanfchauung
(conduite, behaviour) ausmachen. Die Zentral-
fchicht des Intellekts dient alfo als Mittelglied zwifchen
dem Chaos der Wahrnehmungen und der Lebensauf-
faffung, in der fleh die Perfönlichkeit entfaltet. Die Philo-
fophie als höchfte Betätigung des Intellekts hat daher die
Idee des Univerfums herauszuarbeiten, entfprechend der
Roh-Erfahrung und zur Stütze der Lebensauffaffung. Der
Intellekt hat vorläufig nur die letztere berückfichtigt; ein
befriedigender Gottesbeweis (NB. als Kombination eines

1 kosmo-, ontologifch-moralifchen) läge erft im Ausgleich
der erften und dritten Schicht, aber unfere Naturwiflen-

| fchaft fagt vorläufig von Sinnesdaten noch wenig zu-
gunften des Theismus aus, auf den jede Philofophie nach
James hinauslaufen muß. Der fchlichte Glaube (die in
Wobbermins Ausgabe von The Varieties S. 156 fkizzierte
Frömmigkeit ift nach Flournoy S. 149 die von James

J felbft) hat bis dahin die Exiftenz Gottes zu fichern.

I Diefer Glaube von James erftem Auffatz fcheint nach Fl.
dem Pluralismus feiner letzten Lebenszeit, der jedes
höchfte, abfolute Prinzip ausmerzte, zu widerfprechen.
Mit der pragmatifchen Methode aber find hier die zwei
Hauptauffaffungen Gottes, die fcholaftifche und pan-
theiftifche zu beleuchten. Afeität, Perfeität und dergl.
haben, fo hochtönend fie find, kein praktifches Intereffe.
Gegen den Pantheismus wendet James mit Nachdruck
die Tatfachen des Böfen und Übels ein, ebenfo aber den
Tatbeftand des freien Willens, der Vielheit, der nicht
durch Monismus, fondern nur durch Pluralismus interpretiert
wird. Der wirklich erlebte Gott als großer
Lebenskamerad offenbart fleh im Unterbewußtfein, wie
es religiöfe Pfychotherapie, plötzliche Bekehrung andeuten.
Gegen diefe praktifche Gottesvorftellung hat man die
allgemeinen Naturgefetze fowie die Pfychopathologie ins
Feld geführt. Indes jene Gefetze find nur leere Ab-
ftraktionen und Formeln, die die gewohnten Beziehungen
ausdrücken. Ferner fchweigt die Naturwiflenfchaft vor
jenen Myfterien des Unterbewußten; Religion widerfpricht
nicht derfelben, fondern geht über diefe hinaus, die die
Hypothefe zulaffen muß, daß im Unterbewußtfein, als

i einer Wirklichkeitsfphäre Individuen und Gottheit fich
berühren, worauf die Telepathie hinweift, freilich ein
persönlicher Überglaube.

b) Bei jeder Art Philofophie oder Rationalität ift der
Grundzug der Wille, deffen Bedeutung für den Glauben
erkannt zu haben Flournoy einem James als größtes Ver-

| dienft anrechnet; diefer ift Nerv und Höhepunkt feines
! Pragmatismus. Für Intellektualiften gibt es keine be-