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Ausgabe:

1913

Spalte:

26-27

Autor/Hrsg.:

Dryander, Ernst

Titel/Untertitel:

Das Vaterunser, in 8 Predigten ausgelegt 1913

Rezensent:

Bussmann, E. W.

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Seite 1, Seite 2

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2$ Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. r. 26

daß er die,Wirklichkeit nur unter künftlichen ftofflichen
Formen im Intereffe des praktifchen Lebens darftellt. B.
ift durch feine Theorie genötigt, Worte wie ,Leben', .Intuition
', Jnftinkt' zu brauchen, um das zu bezeichnen, was
in Wahrheit eine Art von Wiffen ift: ein Wiffen, das,
wie er fagt, nicht ein Werk des Intellekts ift und das, fo
zu fagen, mit dem Leben felbft eins ift, wo die Wirklichkeit
und die Schauung zufammentreffen. Man mag mit
Bergfon darin übereinftimmen, daß das ,Suchen nach
Wahrheit' in dem Sinne intellektueller Forfchung nach
neuen Tatfachen und neuen Ketten von Urfachen und
Wirkungen nicht die höchfte Aufgabe des Menfchen fei,
obgleich es ein Suchen ift, das feine befondere Stelle und
feine befondere Wichtigkeit hat. Aber darüber ift viel
mehr zu fagen. Geben wir zu, daß die Welt fich felbft

Übertriebenes Vertrauen kann durch furchtbare Unglücksfälle
erfchüttert werden, aber die Überzeugung bleibt und
ift wahr, — letztlich kann der Macht des Menfchen, die
Natur nach feinem Willen zu beherrfchen und zu bilden,
keine Grenze gefetzt werden. Und das fleht in direktem
Widerfpruch mit jenem Gefühl der Abhängigkeit und
dem Gefühl der Not, welche immer wefentliche Elemente
des religiöfen Lebens find. Bergfon hat viel dazu getan
und wird viel tun, um dem menfchlichen Gefühl für
fchöpferifche Kraft die richtige Faffung zu geben. Nach
feiner Anfchauung ift es überfchattet von der Kraft des
Höchften und erfüllt mit dem Gefühl des Ewigen.

Edinburg. S. H. Mellone.

Jolephlon, Konftft.-Rat Dompred. Herrn.: Vater unfer
uns nicht nur als ein Problem zagt das gelöft fem will, Predigten. Buchfchmuck v. Berth. Clauß. (III, 82 S.)
fondern auch in vollerem und reicherem Sinn. JNicnts- | oft „ „ c i_ r-, 1 ' '

deftoweniger zeigt fich die Welt felbft als zu löfendes | 8 • Halle a- S-> Gebauer-Schwetfchke 1912. M. 2.40
Problem. Und wenn wir diefe geiftige Haltung der Welt Dryander, Ob.-Hof- u. Dompred. D. E.: Das Vaterunler,
gegenüber einnehmen, dann, ob wir wollen oder nicht, '< in g predigten ausgelegt. (V, n( S) 8° Halle
Hellen wir in der Tat intellektuelle Vorausfetzungen über l „ Mi.M_,nn TOI. ,, ,'

die Welt auf, die viel weiter gehn, als f.e durch die bloß j Muhlmann 1912. M. 2-; geb. M. 2.25

pragmatifche Anficht Bergfons über den Intellekt geftattet Predigten über das Vaterunfer find fchon von verfind
. Nicht nur das Leben fondern der Intellekt felbft i fchiedenen bedeutenden Predigern veröffentlicht worden:
ift fchöpferifch, wie Kant und Hegel es gezeigt haben, es feien nur Kögel, Stockmayr und der Kellnerpfarrer
Der Intellekt fchafft feine eigenen Formen und ift in fich Schmidt genannt, zu denen nun faft gleichzeitig Dryander
zu unendlichem Fortfehritt fähig. und Jofephfon treten, deren Predigten beide in Halle er-

Balfillie kritifiert Bergfon's Werke, indem er fie der
Reihe der Publikationen nach vornimmt und unterfucht,
um die Haltbarkeit des Syftems zu prüfen und die Phafen
feiner Entwicklung zu bezeichnen. Er beginnt mit dem
erften Buch: Les Donnees Immediates de la Conscience

fchienen find. Der eine ift gebürtig aus Halle, der andere
wirkt heute dort.

Vaterunfer-Predigten können eine verfchiedene Aufgabe
haben. Die nächfte und vielleicht auch die fchwerfte
ift wohl, dazu mitzuhelfen, daß das Herrengebet von

und endet mit den Vorlefungen, die B. kürzlich in London, ganzem Herzen gebetet wird in dem Sinn der Jünger
Birmingham und Oxford gehalten hat. Er verfucht zu j bitte: Herr, lehre uns beten. Das ift nach der Vorrede
zeigen, daß das Syftem voll von Widerfprüchen fei; — auch Dryanders Abficht. — Oder man hat eine befon-
und das ift alles, was er tut. Diefe Art der Kritik ift dere Auffaffung und originale Erklärung zu bieten, wie
bis zu einem gewiffen Grade in der Philofophie von In- Schmidt es z. B. zu erklären fucht: Aus dem Leben des
tereffe und notwendig, aber wenn fie für fich allein fleht, j Herrn. — Endlich kann der Prediger fich auch die Auf-
ift fie in verfchiedener Hinficht falfch. In Balfillie's Händen [ gäbe Hellen, in unferer apologetifch gerichteten Zeit den
ift fieihxem Charakter nach zu negativ und läuft nur auf j in den einzelnen Sätzen des Gebetes enthaltenen Glaubensinhalt
darzulegen, um fo zu zeigen, was mit dem Gebrauch
diefes Gebetes fchon bekannt wird. Ich gehe wohl nicht
fehl, wenn ich nach der Einleitung zur erften Predigt
diefe letzte Aufgabe als die Abficht Jofephfons bezeichne.

Seine Predigten, die in einem auffälligen, etwas aufdringlichen
Gewände erfcheinen, haben ohne Zweifel
manche Vorzüge, befonders nach der formal homiletifchen
Seite. Manchmal finden fich auch gute Anfätze in den
Ausführungen, aber nur zu oft erfcheinen beftimmte
Kategorien, die den Eindruck machen, als feien fie zur

eine Darlegung der Schwierigkeiten hinaus. Sie vermifcht
Darftellung und Kritik und zitiert faft garnicht Bergfon's
eigene Worte; daher kann fie für einen Lefer, der nicht mit
dem Text von Bergfon's Schriften vertraut ift, irreführend
fein. Vor allem aber: die Kritik geht nicht tief genug.
Balfillie zeigt, daß viele von Bergfon angewandte Auf-
ftellungen unvollkommen find und einander angepaßtwerden
müffen. Aber ihm gelingt es nicht, zu zeigen, daß der
eigentliche Sinn derfelben falfch ift. Überdies müffen wir
uns daran erinnern, daß Bergfon bis jetzt noch keinerlei

vollftändige fyftematifche Überficht feiner Philofophie als Stoffauffind'ung nötig gewefen. Damit hängt wohl zu

eines Ganzen gegeben hat und wiffen nicht, wie fie fich ihm
felbft augenblicklich darfteilt. Sein erftes Buch Les Donnees
etc. wurde 1889 veröffentlicht (7. Aufl. 1910), Matiere et
Memoire 1896 (6. Aufl. 1910) und L'rLvolution Creatrice
195» (6. Aufl. 1910). Wir müffen auch befonders daran
erinnern, daß Bergfon noch nicht die Bedeutung feiner
philofophifchen Prinzipien für die Hauptfragen der Religion
auseinandergefetzt hat.

Der große Wert von Bergfon's Philofophie für den
religiöfen Denker beruht darin, daß er uns frei macht von
jeder Vorftellung eines Weltalls, in dem wir Werkzeuge
eines blinden Schickfals oder eines unerbittlichen Gefetzes
find. Der menfehliche Geift wird von allem angezogen,
was fortdauernd neue Bahnen eröffnet und neue Möglichkeiten
enthüllt. In unferm 20. Jahrh. haben wir
mehr als je zuvor das Bedürfnis, daß unfere Taten vom
Gefühl des Ewigen ergriffen find.

Die größte Gefahr, die aller echten Religion droht,
entlieht aus der um fich greifenden Entdeckung der Tatlache
, daß der Menfch felbft fchöpferifch ift. Dinge, die
man als alleiniges Vorrecht der Gottheit anzufehn pflegte,
lieht man jetzt im Bereiche der Macht des Menfchen.

fammen, daß die Predigten im Ganzen keine befondere
Eigenart offenbaren, wie man fie gerade bei Predigten
über das Vaterunfer wünfehen möchte. Sie bewegen fich
zu leicht und zu häufig in ausgetretenen Gleifen und
bleiben gerade da an der Oberfläche, wo Gelegenheit
gewefen wäre auf Fragen einzugehen, die den Kindern
unferer Tage zu fchaffen machen. Das erweckt aber den
Verdacht, als habe der Prediger keine Antwort auf fie,
fondern gehe lieber mit verbundenen Augen an ihnen
vorüber, anftatt ihnen offen ins Angefleht zu fchauen.
So bezweifele ich, daß diefe Predigten die in der erften
Predigt geftellte Aufgabe wirklich erfüllen können. An
einzelnen Stellen zeigen fie geradezu eine fpielerifche Art.
Das Gebet und befonders das Vaterunfer ift ein fo zarter
und feiner Gegenftand, daß alle Manier und alles Platte
fem gehalten werden follte. Hier zeigt fich gefliehte
Geiftreichelei zuweilen fchon in der Anlage der Predigt,
fo z. B. bei der vierten Bitte, wo zum Schluß jedes Teils
ähnliche Fragen auftreten. Überhaupt find die paräne-
tifchen Fragen manchmal gehäuft und weit hergeholt.
Wir Prediger müffen das Wort Riehls beachten, daß die
aufdringlichften Predigten nicht immer die eindringlichften