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Ausgabe:

1913 Nr. 15

Spalte:

470-471

Autor/Hrsg.:

Maurenbrecher, Max

Titel/Untertitel:

Das Leid. Eine Auseinandersetzung mit der Religion 1913

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 15.

470

Weltliteratur, der franzöfifchen, aber auch vielfach der
deutfchen. Alfo nicht bloße Referate werden geleiftet, fondern
z. B. in Band 22 an der Hand (a propos) von:
L. R. Farnell, The higher aspects of greek religion, London
1912 ,die Durchdringung des fozialen Lebens mit reli-
giöfen Ideen bei den alten Griechen und die Gründe diefer
Durchdringung' von J. De Decker dargelegt. Wir find gewöhnt
, nur die wechselnden Lebenseinfchnitte wie Taufe,
Heirat, Tod von der Religion begleiten zu laffen, anders bei
den Griechen, bei denen die Götter zugleich Staatsbürger
waren, wofür Decker auf eine Stelle bei Minucius Felix
ausführlich verweift. In demfelben Bande wird an der
Hand von: J. B. Carter, The religious life of ancient Rome,
London 1912 von einem anderen Mitarbeiter für Religions-
fozialpfychologie R. Kreglinger über die Einführungsarten
von Fremdgöttern in das römifche Pantheon gehandelt
, und zwar find diefe in Folge von Eroberung,
von Beziehungen mit Nachbarvölkern und von Sonderzwecken
eingefchleppt. Derfelbe Autor handelt in Band 21
an der Hand von Rieh. Hartmann's Auffatz über Volksglaube
und Volksbrauch in Paläftina, vergl. Archiv für Re-
ligionswiffenfchaft XV, 1912 und an der Hand von E.Gold-
smith's Sacred symbols in art, New-York 1911 über Uberlebensformen
verfallener Götter und gibt feine Bemer-
kuno-en z. B. über Fortwuchern des Ölbaumkults in der
chriftlichen Symbolfprache, die diefen Baum als Sinnbild
des Friedens und Attribut des Erzengels Gabriel wählt.
Wenn die Religionspfychologie vorläufig fich aus allen
möglichen Nachbargebieten der Pfychologie erft noch
konftituieren muß, fo dürfte kaum eine günftigere Gelegenheit
geboten fein, fpeziell auch für die fozialpiycho-
logifchen Fundamentierungen der .Kirche' auf empirifcher
Grundlage als in den vorliegenden Achives.

Hier find zugleich die Vorausfetzungen zu einer Ge-
fchichtspfychologie gegeben, die die Religionsgefchichte
ergänzen und fie vor Verblaffung in Kantifierende Ideen
bewahrenkann. Derfelbe Kreglinger beleuchtet z.B. inBd. 19
H. v. Schuberts Anfänge des Chriftentums bei den Burgundern
, Heidelberg 1911 unter dem Gefichtswinkel von:
Rolle der Religionen als Faktoren kollektiver Individuali-
fation und meint damit, daß man fich nicht fowohl an
die religiöfen Motive halten müffe zur Beurteilung einer
Glaubensentwicklung als zugleich oder ausfchließlich an
profane, wie es bei den Germanen die Sicherung der
Autonomie gegenüber Rom gewefen ift, als fie im Aria-
nismus verharrten.1

In Bd. 18 ift S. 1 ein fyftematifcher Darftellungs-
verfuch aller jener Beiträge fowohl der Methode als auch
dem Inhalt nach gegeben, namentlich kommt ebenda S. 12
für Religionspfychologie in Betracht: Verfuch einer allgemeinen
Theorie der Riten und Zeremonien in Bd. 13,
Urfprung und Entwicklung von Ideen auf Grund des
zukünftigen Lebens in Bd. 15, Wechfelfeitiger Einfluß von
Ritus und Glaube in Bd. 11 ufw.

Zuweilen mag die Soziologie als Deckmantel für
jedwede Empirie begegnen, wie bei uns in Deutfchland
Religionsgefchichte oder Völkerpsychologie für alles
Mögliche herhalten muß, immerhin ift diefer breite Boden
ein gemeinfames Arbeitsfeld, das gerade in feiner Weite
die Religionspfvchologie befruchten kann.

b) Die Chronik wiffenfehaftlichen Betriebs bringt eine
Anzeige neuerer Arbeiten der Weltliteratur, foweit diefelben
auf die Soziologie Bezug haben. Auch die Religions-
wiffenfehaft wird fleißig regiftriert; nachdem z. B. Bd. 22
S. 1353L eine genaue Inhaltsüberficht von E. Dürkheim,
Elementarformen religiöfen Lebens, Paris 1912 wiedergegeben
ift, wird als foziologifche Thefe des bekannten Autors
notiert: Die Gefellfchaft ift keineswegs etwas Wider- oder
Unlogifches, Unzufammenhängendes oder Phantaftifch.es
. . . fondern das Kollektivbewußtfein ift höchfte Form

1 Näheres liehe in meiner Brofchüre: Zur theologifchen Rpfycho
logie, Leipzig 1913.

feelifchen Lebens, da es das Bewußtfein der Bewußtfeine
ift. Eine Fülle von Literatur und bequeme Überfichtlich-
keit machen die Archives zu einem angenehmen Handbuch
der wichtigften Neuerfcheinungen auf dem Boden
der phyfiologifchen Pfychologie, foweit fie nicht in die
fpeziellen Fach- und Experimentalunterfuchungen gehören.

Alt-Jeßnitz. G. Vorbrodt.

j Gwinner, Wilhelm von: Schopenhauers Leben. Dritte, neugeordnete
und verbefferte Ausgabe. Mit 4 Porträts
und 1 Steindrucktafel. Leipzig, F. A. Brockhaus 1910.
(XV,439S.)8°. M.6 —;geb. M.7.50; inHalbfrz.M.9 —

Daß der einzige noch lebende perfönliche Freund
J Schopenhauers, Geheimrat Dr. Wilhelm von Gwinner in
Frankfurt feine zuerft 1862, dann 1878 in zweiter Auflage
j erfchienene Biographie Schopenhauers nun noch einer
neuen Bearbeitung unterziehen konnte, ift ein nicht ge-
| wohnlicher literarifcher Vorgang. Das vielfach aus-
! gefchriebene und benutzte Buch zog dem verdienten
! Forfcher mancherlei Angriffe von Seiten der .Evangeliften'
I Schopenhauers zu, unter denen er fich befonders mit
I Frauenftädt und Lindner im Vorwort auseinanderfetzt.
| Mit Recht gilt Gwinners Werk bis zum heutigen Tage als
die befte Quelle für das Leben Schopenhauers, von der
f aft alle anderen Darftellungen mehr oder weniger abhängig
find. Ihm kommt nicht bloß die perfönliche Bekanntfchaft
des Verfaffers mit Schopenhauer zu Gute, fondern auch
fein gefundes, gerecht abwägendes Urteil, das die große
Perfönlichkeit würdigt, ohne die Schwächen zu vertufchen.
Eine Reihe von Originalquellen und autobiographifchen
handfehriftlichen Aufzeichnungen hat Gwinner überhaupt
erft zugänglich gemacht. Der neuen Auflage find ver-
fchiedene Porträts beigegeben: ein Jugendporträt Schopenhauers
aus feinem 21. Jahre, ein Porträt aus dem Greifenalter
nach einem von Julius Hamel gemalten Ölbild, ein
Porträt feiner Mutter, der bekannten Romanfchriftftellerin
Johanna Schopenhauer und ein — hier überhaupt zum
erftenmal veröffentlichtes — Bild feines Vaters Heinrich
Floris Schopenhauer, des Danziger Großkaufmanns, deffen
Charaktereigenfchaften, befonders feine Reizbarkeit und
Heftigkeit, der Sohn bei fich felbft wiederfindet. Auch
im Text der neuen Ausgabe ift vieles ergänzt und berichtigt
, auch einiges auf Grund genauerer Prüfung aus-
gefchaltet worden, fo daß die zahlreichen Lefer Schopenhauers
feinem greifen Freunde zu erneutem Danke verpflichtet
find.

Dresden. Th. Elfenhans.

Maurenbrecher, Max: Das Leid. Eine Auseinander-
fetzung mit der Religion. 1.—4. Taufend. (184 S.) 8«
Jena, E. Diederichs 1912. M. 3—; geb. M. 4_

Diefes ernfte eindrucksvolle Buch ftellt eine Ge-
fchichte der Auffaffung des Leides dar von den primitiven
Religionen an bis zum Sozialismus der zweiten
Generation.

Es ift alfo eine religionsgefchichtliche Behandlung
des Leidensproblems. Damit hat M. fowohl diefes Problem
aus der umfaffendften religiöfen Gedankenwelt
herausgehoben, wie auch die Religionen an ihrem ent-
fcheidenden Punkte gefaßt. In der griechifchen Religion,
die M. nach den großen Tragikern darftellt, bedeutet
der tragifche Held den löfenden Gedanken. Sind diefe
Abfchnitte am gründlichften durchgearbeitet und mit
ftärkfter, wenn auch verhaltener eigener Beteiliguno- oe-
fchrieben, fo wird uns M.s Behandlung der biblifchen
Gedanken trotz aller gewollten Gerechtigkeit nicht befriedigen
; es liegen im A. und N. T. doch noch tiefere
Gedanken als die des ungefattigten Glückverlangens vor.
Sehr fein ift wieder die indifche Gedankenwelt, befonders der
Zusammenhang und Unterfchied zwifchen'Brahma und
Buddha dargeftellt. Von ihr und ihrem Erneuerer Scho-