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Ausgabe:

1913 Nr. 15

Spalte:

458-459

Autor/Hrsg.:

Wetter, Gillis Piton

Titel/Untertitel:

Der Vergeltungsgedanke bei Paulus. Eine Studie zur Religion des Apostels 1913

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 15.

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beides ift, fowohl fubjektiv oder individuell, als objektiv
oder inftitutionell. Diefe Einficht ftand den Geiftern noch
nicht offen, durch welche die Religion der Bibel ins Leben
trat, und fie hätte überdies wenig genützt in jenen alten
Tagen. Das Chriftentum ift kein Programm politifcher
und ökonomifcher Reform, fondern eine Begeifterung für
perfönliche und foziale Sittlichkeitsgefinnung' S. 240.
Daß das Chriftentum dann die unteren Klaffen ftärker
an fich gezogen hat als die oberen — wobei die letzteren
nicht fehlen — liegt in der Natur der Sache. Die leidenden
Klaffen find für das Evangelium empfänglicher, und
Jefus wandte fich mit Vorliebe an fie. Aber fchon Paulus,
der für die Chriftusreligion die ganze Welt erobern will,
läßt diefen Zug zurücktreten und betrachtet die Kirche
als Heim aller Klaffen. In der katholifchen Kirche felbft,
die wie alle Inftitutionen auf Befitz und auf Unterftützung
der oberen Klaffen angewiefen war, wird der foziale Geift
des Evangeliums vollends auf Karität und Mönchtum
abgewälzt. Sie wurde wie die jüdifche Priefterkirche
eine ariftokratifche Inftitution. Das fteigerte fich im
Mittelalter durch die Bekehrung der Barbaren und war
begleitet von einer mächtigen Entfaltung der Kirche als
Autorität. Die Entwickelung der Kirche war durch ihre
foziologifche Stellung aufs ftärkfte bedingt und konnte
nicht wohl anders fein, wenn das Chriftentum beftehen
bleiben wollte. Der Proteftantismus war dann eine Verbindung
religiöfer biblifcher Verinnerlichung mit der
Abwendung der Gefellfchaft vom römifchen Syftem,
wurde dann aber bei der Fortfetzung der Einheit von
Staat, Kultur und Kirche im foziologifchen Sinn wefent-
lich eine Dublette des Katholizismus. Wie alle herr-
fchenden Kirchen hat der Proteftantismus die radikal-
fozialen Gedanken der Propheten und des Evangeliums I
verworfen oder umgedeutet; Religion und Erlöfung gingen !
nur das Individuum an; Staat und Gefellfchaft, Autorität
und Inftitutionen lagen in der Hand der oberen Klaffen,
wie in der jüdifchen und katholifchen Kirche. Neue Ver-
hältniffe find erft gefchaffen worden durch die moderne
hiftorifch-kritifche Bibelforfchung, durch die moderne
Trennung von Staat und Kirchen und durch die Ent-
ftehung der modernen fozialen Probleme. Das erfte hat
den dogmatifch-autoritären Charakter der Bibel zerftört
und die biblifche Gefchichte als etkifch-religiöfe Entwicklung
verftehen gelehrt, fteht nun aber erft recht vor
den ethifchen Problemen des biblifchen Radikalismus, der
kulturlofen prophetifchen Ethik. Davor fchreckt die
liberale Theologie zurück und bleibt wie die Orthodoxen
bei einem rein individuellen Gebrauch der Erlöfungsidee.
Das zweite hat die bisher allmächtige Einheit von Religion
und ftaatlich-fozialer Gruppe gelöft und damit die Religion
von ihrer Verfklavung unter Ordnung, Bildung und
Befitz der herrfchenden Klaffen befreit, aber freilich auch
ihre Macht beeinträchtigt und auf rein geiftigen Einfluß
verwiefen. Das dritte zeigt die ungeheure Verwickeltheit
und Eigengefetzlichkeit aller fozialen Gruppenbewegungen
und die Unmöglichkeit mit rein individuellem gutem
Willen oder mit dem bloßen Ideal die Lage der Menfchen
zu verbeffern und zu ändern. Daraus ergibt fleh für die
Kirchen die Notwendigkeit, das vom Evangelium völlig
fpiritualifierte und verinnerlichte hebräifche Ideal der
Brüderlichkeit als Gefinnung und Kraftquelle zu pflegen,
jedes konkretfoziale Programm aber der weltlichen Gefellfchaft
zu überlaffen. Sie würden zur politifchen Partei,
fobald fie beftimmte Wege der Gefellfchaftsreform als
allein richtig bezeichnen wollten, und dann im politifch-fo-
zialen Parteikampf zerrieben werden.

Ich habe den Inhalt fo ausführlich wiedergegeben,
weil das Buch vermutlich an nicht allzuviele deutfehe
Lefer gerät. Es ift eines der anregendften und lehr-
reichften, die mir feit lange zur Hand gekommen find.
Der Hauptteil betrifft das Alte Teftament, wo ich das
Urteil den Fachgelehrten überlaffe. Doch fcheint mir
die Konftruktion in der Hauptfache völlig überzeugend

und erleuchtet aufs einfachfte die Gefchichte von Religion
und Ethos. Betreffs des Evangeliums ift es verwunderlich
, daß der Verf. nicht auf die Gottesreich-
Predigt Jefu eingeht, die das alte hebräifche Ideal humani-
fiert und verinnerlicht bis zum letzten Reft, aber mit ihm
fichtlich zufammenhängt und wie jenes auf komplizierte
Kulturverhältniffe äußerft fchwer anzuwenden ift. Der
Übergang zum Chriftuskult fcheint auch mir das Ent-
fcheidende, aber fein Verhältnis zur Gottesreich-Predigt
Jefu nicht fo belanglos. Alles Weitere ift dann zwar wefent-
lich richtig, aber fehr unvollftändig und fehr grob. Da
glaube ich mit meinen ,Soziallehren' das Thema ertragreicher
fortgefetzt zu haben. Alles in allem, es ift der
Weg, den die theologifche Forfchung befchreiten muß,
wenn fie die Gefchichte der religiöfen Ethik verftehen
will. Mann könnte nur wünfehen, daß die Wandlung
des urfprünglich Rein-Soziologifchen ins Religiöfe, d. h.
jene Metamorphofe der Zwecke, noch feiner analyfiert
worden wäre in Wirkung, Tragweite und daraus ent-
fpringenden inneren ethifchen Schwierigkeiten.

Heidelberg. Troeltfch.

Wetter, Gillis Fiton: Der Vergeltungsgedanke bei Paulus.

Eine Studie zur Religion des Apoftels. (III, 200 S.)
gr. 8°. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1912.

M. 4.80

Nach einer kurzen Skizze der jüdifchen Vorftellung
von der Vergeltung unterfucht der Verf. zunächft die
Anfchauung des Paulus von der ftrafenden Gerechtigkeit
Gottes. Hier befchäftigt er fich vor allem mit dem Begriff
der ogyrj d-sov, einem Element der paulinifchen
Theodizee, wie mit Recht gefagt wird, und kommt bei
feiner genaueren Definierung zu interefiänten Ergebniffen.
Zorn Gottes ift nämlich nach W. nicht mehr Affekt
Gottes, fondern eine immanent wirkende Reaktion gegen
die Sünde, die Folge des göttlichen Zorns, die ftrafende
Vergeltung, das Vergeltungsgefetz der Welt bisweilen
klingt es, als fei ogyrj eine neben Gott flehende Hypo-
ftafe, ja im eschatologifchem Zufammenhang erhält fie
die Bedeutung einer widergöttlichen Macht, jedenfalls ift
fie für den Menfchen gleichbedeutend mit Verderben und
für den Chriften gehört fie zu den Mächten, von denen
ihn Chriftus erlöft. Ähnlich fteht es mit dem Begriff
xgifia, der gleichfalls die von Gott losgelöfte, ohne Vermittlung
der Sünde folgende vergeltende Strafe bezeichnet.
Was fo die beiden Worte zeigen, charakterifiert die ganze
Vergeltungslehre des Paulus; wie bei den Rabbinen vollzieht
fich die Vergeltung ganz unperfönlich und mecha-
nifch einem immanenten Zwange folgend.

Diefe Feftftellungen, an denen ficher vieles Richtige
ift, führen nun aber zu einer bedenklichen Konfequenz.
Weil die Vorftellung von der Vergeltung als einer mecha-
nifch, immanent wirkenden Macht mit der eschatologifchen
Idee eines von Gott abgehaltenen Endgerichts nicht recht
harmoniert, foll man annehmen, daß Paulus in feine
Eschatologie nur Formeln übernommen habe, in Wahrheit
aber an eine perfönliche Vergeltung, an ein Strafgericht
über die Sünder nicht glaube: der Tod der
Sünder ift die einzige Vergeltung, ein Auferftehen der
Sünder kennt Paulus nicht, alfo auch kein Gericht
über fie. Diefe Anficht fcheint mir fehlzugehen; es ift
ganz unmöglich, die eschatologifche Seite der ogyrj, d. i.
die Erwartung eines furchtbaren Ausbruchs der ogyrj am
Ende der Tage zu ftreichen: Stellen wie I. Thess. I, 10;
Rom. 2,5; 5,9, Col. 3,6 fprechen zu deutlich dafür und'find
nicht als formelhafte Wendungen aufzulöfen; ob P. dabei
nur an die überlebenden Sünder gedacht hat, oder eine
! Sammlung aller Sünder aller Zeiten vorausfetzt, ift eine
Frage zweiter Ordnung und nach dem uns vorliegenden
fpärlichen Material fchwer zu entfeheiden.

Weiter unterfucht W. in lofe, nicht immer logifch
aneinander gereihten, auch nicht immer klar durchge-

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