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Ausgabe:

1913 Nr. 14

Spalte:

439-440

Autor/Hrsg.:

Reinach, Salomon

Titel/Untertitel:

Samson 1913

Rezensent:

Gressmann, Hugo

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Seite 1

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439

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 14.

440

giöfer und evangelifcher Freiheit beftimmt. Religion ift
Gotterleben, Gotterleben aber ift Freiwerden von der
Welt. Im Chriftentum bedeutet das durch Chriftus vermittelte
Gotterleben in feinen intenfiven Momenten ein 1
Ahnen und Schmecken der herrlichen Freiheit der Kinder
Gottes, das Leben des Chriften dann den Verfuch einer
Realifierung diefes Freiheitsgefühls, einer Übertragung in
die Wirklichkeit des Lebens. Im Verhältnis zur finnlichen
, zur fittlichen, zur allgemein geiftigen Freiheit wird
dann die Höchftgeltung des religiöfen Freiheitsgefühls
(von .evangelifcher' Freiheit ift hier nicht mehr die Rede!)
ermittelt. In weiteren Abfchnitten, .Evangelifche Freiheit
des Lebens und pietiftifche Gefetzlichkeit', .Evangelifche
Freiheit des Glaubens und des Glaubenszeugniffes und das
Spruchgericht' werden dann beftimmte Folgerungen aus
dem Wefen der evangelifchen Freiheit gezogen. In einem
letzten Abfchnitt (.Evangelifche Freiheit der geiftigen
Kämpfe und das Difziplinargericht') nimmt Verf. Stellung
zum Fall Traub.

Ich kann nicht finden, daß Verf. wirklich feinem Zweck j
entfprechend den gleich ihm vom Gedanken evangelifcher
Freiheit Bezwungenen zur Klarheit und zum freudigen
Bewußtfein des Rechts ihrer Pofition verhilft. Dafür ift j
die Erörterung des Wefens der evangelifchen Freiheit
als folcherviel zu knapp und aphoriftifch (S. 5—7; da- j
von handelt etwa die Hälfte nur von der religiöfen Frei- ;
heit überhaupt): das Evangelium ift doch nicht aus-
reichend definiert als Botfchaft vom unendlichen Wert I
der Menfchenfeele und von der tragenden Vaterliebe
Gottes; und warum der chriftliche Gottesgedanke ein
Bewußtfein abfoluter Verpflichtung, abfohlten Gebunden-
feins in fich fchließt, wird vom Verf. überhaupt nicht als j
der Eröi'terung bedürftiges Problem empfunden. Das
Charakteriftifche des Chriftentums ift nun einmal, daß es
außer den Größen Gott und Einzelfeele noch ein Reich
Gottes kennt; erft in der Eingliederung in dies Reich mit
feinen fittlichen Aufgaben kommt die lebendige Beziehung
des Chriften zu feinem Gott zuftande. Denkt man
das aber klar durch, dann wird es unmöglich, das Chriftentum
fich im Freiheitsgefühl erfchöpfen zu laffen; dies
Gefühl ift vielmehr nur eine Seite des chriftlichen Gottes-
erlebniffes. Von feinen Vorausfetzungen aus kann Verf.
dann auch die von ihm im 2.—4. Abfchnitt behandelten
Einzelfragen nicht in ihrer vollen Tiefe erfaffen und ihnen,
trotz mancher guten Bemerkungen im einzelnen, nicht
allfeitig gerecht werden. Das ift fchade; denn an fich
hätte unter der von ihm gefundenen Frageftellung: ,was
ift evangelifche Freiheit?' eine fehr förderliche .Beleuchtung
unterer gegenwärtigen kirchlichen Lage' gewonnen
werden können.

Halle a. S. K. Eger.

Referate.

Kalt, Edmund: Samson. Eine Unterfuchg. des hiftor. Charakters

v. Rieht. XIII—XVI. (Freiburger theolog. Studien. 8. Heft.)

(XV, 102 S.) Freiburg i. B., Herder 1912. M. 2.40

Reinach, Salomon: Samson. (Extrait de la Bibliotheque de

vulgarisation du Musee Guimet, t XXXVIII.) (30 S.) 8».

Chalon-sur-Saone 1912. (Paris, E. Leroux.)
Kalt behauptet, daß die Simfonerzählungen weder Mythos
noch Sage, fondern .wahre Gefchichte' feien. Diefe Thefe wird
aus inneren und äußeren Gründen, aus Logik und Tradition mit
großer Belefenheit gegen alle Kritik verteidigt. Ein nüchternes,
aber braves Buch, auf das Reinachs Wort vortrefflich paßt: ,il faut
etre un theologien arriere pour voir ici de l'histoire'.

Reinachs Vortrag fprüht Geift und Leben, wenn er auch
bei feinem populären Charakter die Probleme nur ftreifen kann.
Er macht Simfon nicht einfach zu einem Sonnengott, fondern behauptet
, die Simfonfage fei eine altkanaanitifche Erzählung, deren
Held ein Herkules oder Gargantua war. Die heidnifche ,Legende',
in der das Magifche überwog, wurde von den jüdifchen Prieftern
judaifiert, aber die urfprünglichen Farben fcheinen noch hindurch.
Der kanaanitifche Simfon war der Sohn des Baal von Beth-
Schemefch. Aber der Mythus von Simfon ift feinem Urfprunge

nach nicht folar; man erkennt dahinter noch die Elemente einer
.Tierfabel', die ins Menfchliche umgeftaltet worden ift. Ehe er
ein Riefe mit menfehlichen Kräften wurde, war Simfon ein Löwe.
Der Löwe wurde fpäter zum Symbol der Sonne; die Sonne war
der himmlifche Löwe. Beachtenswert ift der Hinweis (S. 14) auf
ein römifches Mofaik von der Infel Malta, wo R. eine phönikifche
Delila zu erkennen glaubt, die ihrem Simfon die Haare fchneidet.
Berlin-Weftend. Hugo Greßmann.

Der Überarbeitete Text der Evangelien. In der Revue bene-
dictine, Maredsous, Juli 1912, S. 233—252, erörtert John Chapman
die Anficht, die den Überarbeiteten, den fogenannten Weltlichen,
Text dem Einfluß des Diateffaron von Tatian zufchreibt. Er findet
es rein unbegreiflich und unmöglich, daß Tatians Harmonie die
fyrifche, griechifche, und lateinifche Form der Evangelien in dem
verlangten Maß umgemodelt habe. Dies erhärtet Chapman durch
Hinweis, erftens auf harmoniftifche Lesarten in D und anderen
griechifchen Handfchriften, im Lateinifchen, und im Syrifchen,
die gegen die Einwirkung Tatians zeugen. Sodann legt er
uns gerade folche Fälle in der Apoftelgefchichte vor, wo das
Diateffaron außer Frage fleht. Und drittens zeigt er folche har-
moniftifchen Lesarten im Text Marcions, alfo vor der Zeit Tatians.
Es fcheint mir Zeit zu fein, daß man aufhöre, Tatian als Erfatz
für ,Elektrizität' im zweiten Jahrhundert zu benutzen. Es ift nicht
nötig, ihm alles zuzufchreiben, wofür man bis jetzt keine Erklärung
bereit hat. Ferner aber ift es an der Zeit, daß man das
erkenne und anerkenne, was Westcott und Hort längft klarlegten,
was aber viele Forfcher entweder zu überfehen oder nicht in
Rechnung zu Hellen fcheinen, nämlich, daß der Überarbeitete Text
nicht eine einheitliche Erfcheinung ift. Diefer Text ift nicht ein
weltlicher Text und nicht ein örtlicher Text, fondern ein Text,
der in Proteusverwandlungen überall zu Haufe ift. Die Wurzeln
diefes Texts find ficherlich eher am Schluß des erften Jahrhunderts
als um die Mitte des zweiten zu fuchen. Der Überarbeitete
Text entftand, fing an zu werden, fobald die erften Be-
fitzer von neuteftamentlichen Handfchriften in der Freiheit des
erften Enthufiasmus, unberührt durch Gedanken an fehriftmäßige
Heiligkeit diefer Schriften, und getrieben zum Teil durch eine
noch lebendige Überlieferung, daran gingen, fie bald hier bald
dort leife zu verändern. Cafpar Rene Gregory.

Rickert, Prof. Heinr.: Kulturwirrenfchaft und Naturwifrenrchaft.

2., umgearb. u. verm. Aufl. (VII, 151 S.) gr. 8". Tübingen,
J. C. B. Mohr 1910. M. 2.50

Der im Jahre 1899 erllmalig erfchienene Vortrag erfcheint
jetzt in zweiter, mehr als verdoppelter Auflage. Der Gedankengang
der älteren Falfung ift erweitert und vor allem find die
j Schlußkapitel hinzugekommen, welche die gegen Richerts Auf-
; faffung am nächften liegenden Einwände befprechen. Das Ganze
! ift im Laufe der verftrichenen 14 Jahre fehr bedeutend weiter ge-
j reift, die Trennung zwifchen Hiftoriographie und Gefchichts-
I philofophie viel fchärfer vollzogen und der Charakter der rein
i logifchen, die eine ungeteilte Erfahrung unter berondere begriffliche
! Abftraktionsziele ftellenden Theorie noch deutlicher und glück-
j licher herausgearbeitet. Insbefondere ift das wichtige Gebiet der
Mifchformen von allgemeinbegrifflich-naturwiffenfchaftlicher und
individualbegrifflich-hiftorifcher Methode ganz ausgezeichnet beleuchtet
und klargeftellt. Ich kann nur den Ausdruck der Überzeugung
wiederholen, daß wir in diefer logifch-erkenntnis-
theoretifchen Philofophie das befte Orientierungsmittel befitzen,
das uns heute das philofophifche Denken überhaupt bietet. Vor
allem möchte ich hinzufügen, daß ich bei meinen eigenen
hiftorifchen Arbeiten, die keineswegs von Rickertfehen Thefen
j ausgingen, doch im Effekt die Rickertfche Methodenlehre glänzend
1 bewährt gefunden habe und zu ihr immer wieder zurückkehre,
wenn ich Klarheit über diefe Fragen fuche. Ich Helle nur mehr
die Aufgabe der Gefchichte, hiftorifche Kaufalerklärung zu fein,
in den Vordergrund neben dem Rickertfehen Begriff der hiftorifchen
Individual-Totalitäten, die das kaufal in feiner Genefis zu be-
j fehreibende Objekt find. Ich würde daher in einer weiteren Auf-
' läge auch noch ein Kapitel wünfehen, das die befondere Art der
! hiftorifchen, auf jene Individual-Totalitäten gerichteten Kaufalerklärung
erläutert. Statt deffen ift jetzt nur auf Sergius Helfen,
Individuelle Kaufalität, Studien zum transzententalen Empirismus
1910, verwiefen. An diefem Punkte liegen nach meinem Gefühl
die eigentlichen Bedenken der Rickert opponierenden Gefchichts-
logiker, aber ihnen läßt fich von Rickerts Standpunkt aus fehr
' wohl begegnen oder vielmehr zeigen, daß fie bereits voll berück-
fichtigt und gelöft find.

Heidelberg. ; Troeltfch.