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Ausgabe:

1913 Nr. 14

Spalte:

438-439

Autor/Hrsg.:

Tribukait, Hans

Titel/Untertitel:

Was ist evangelische Freiheit? 1913

Rezensent:

Eger, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 14.

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fen Auffaffungen foll eine Reihe normaler und patho-
logifcher Ericheinungen unter den pfychologifchen Vorgängen
des Alltagslebens, der Völkerpfychologie und der
eigentlichen Nerven - und Geifteskrankheiten erklärt werden.
M. geht noch einen Schritt weiter als Freud und fagt:
Die (phyfiologifche) Grundlage des Lebens ift der Wille
zur Luft im engeren und weiteren erotifchen Sinne und
der Schutz gegen unluftbetonte, dem Sexualtrieb entgegen-
ftehende Erlebniffe. Der gefunde Menfch greift felbft in
die Umwelt ein und fucht die Verhältniffe in feinem Sinne
zu geftalten oder findet fich mit ihnen ab. Der Neurotiker
und der Geifteskranke fuchen die Unluftquelle zu umgehen
oder verfchleiern fie fich durch einen Selbftbetrug. Aus
diefen feelifchen Konflikten remitiert die Krankheit. Im
weiteren zeigt dann M. ganz im Sinne Freud's wie diefe
Beftrebungen fich in einzelnen Formen von Neurofen und
Pfychofen äußern und wie ihre Quelle, das urfprüngliche
den Konflikt hervorrufende Erlebnis, durch die Pfycho-
analyfe, namentlich auch durch die Erklärung der Träume
der Kranken wieder erkannt werden kann. Hier hat die
Freud'fche Schule zahlreiche, z. T. fehr geiftreiche Hypo-
thefen eingeführt, insbefondere die fog. Traumfymbolik:
jeder Traum ift ein Wunfehtraum und ftellt den Konflikt,
der den Träumer im Leben quält, als überwunden dar,
bedient fich aber Symbole, die oft das Gegenteil des Ge-
wünfehten find. Ebenfo betätigt fich die Neurofe oder
Pfychofe des Kranken oft in Symptomen, die das Gegenteil
des im Leben erwünfehten darftellen. Im einzelnen
kann auf diefe Ausführungen hier nicht eingegangen
werden. Für den Lefer diefer Zeitfchrift mag aber von
Intereffe fein, daß von vielen Vertretern der Freud'fchen
Schule auch religions-pfychologifche, kulturhiftorifche und
pädagogifche Themata in den Kreis diefer Betrachtung
gezogen werden. ,Die Religion ift mit der Erotik innig
verbunden, weil Schaffen und Zeugen im Grunde dasfelbe
ift.' Alle diefe Dinge werden in dem Buch teils geftreift,
teils ausführlich erörtert und viele gute Gedanken vorgebracht
, die für Ärzte, wie für gefunde und kranke Laien
lefenswert find. Wer ein guter Arzt ift, dem ift es nicht
neu, daß er bei feinen Patienten auch die eingefchlafene,
fittliche Perfönlichkeit wieder wach rütteln muß, wenn er
dazu auch nicht fo große, ftolze Worte anwendet, wie
der Verfaffer diefer Bücher. Ich glaube aber nicht, daß
der Verf. mit diefen nicht neuen Wahrheiten das erfetzen
kann, was er vernichten will, nämlich eine klinifche Syftematik
, ohne die eine genaue klinifche Erforfchung und
Umfchreibung von Krankheitsbildern nicht möglich ift.
Wir müffen doch daran fefthalten, daß Krankheiten eben
Krankheiten find und mit Weltanfchauung allein nicht
erklärt werden können; fonft verlieren wir Arzte uns
wieder in die philofophifchen Spekulationen, von denen
fich die medizinifche Wiffenfchaft vor 100 Jahren mühfam
befreit hat. Und für das, was wir aufgeben, wenn wir
den Boden natumiffenfchaftlicher Erkenntnis verlaffen,
ift es kein genügender Erfatz, wenn uns getagt wird, daß
,die Gefchlechtlichkeit der Inhalt der Neurofe' fei, auch
wenn uns der Verf. dafür an Stelle der von ihm verworfenen
klinifchen Syftematik eine fpekulative philofo-
phifche Syftematik bildet. Endlich, fo fehr ich davon
überzeugt bin, daß der Arzt, insbefondere der Nervenarzt
, fich um das Seelenleben feines Patienten kümmern
muß, fo wenig halte ich die Grenzüberfchreitung für berechtigt
und erfprießlich, wenn der Arzt die Rolle des
Seelforgers und Priefters übernehmen will.

Chemnitz. Weber.

Fittbogen. Gottfried: Die Probleme des proteftantifchen
Religionsunterrichts an höheren Lehranftalten. (XII,
240 S.) 8°. Leipzig, B. G. Teubner 1912. M. 3.20;

geb. M. 3.80

Das Buch zerfällt in drei Teile: Grundfätzliche Darlegung
, Einzelheiten (im wefentlichen Beifpiele), Montags-

anfprachen. Die .Grundfätzliche Darlegung' beginnt mit
einem recht radikalen Kapitel: Wider den Katechismus
als Schulbuch. Der Verf. geht der Frage mit der ihm
eigenen refoluten und hellen Art zu Leibe. Er zeigt, daß
der Katechismus urfprünglich nur als Surrogat für die
Bibel in den Religionsunterricht eingedrungen ift und daß
er zu verfchwinden hat, feitdem die Bibel für jeden er-
fchwinglich geworden ift und die Wiffenfchaft uns die
beften Hilfsmittel darreicht, in den unerfchöpflich reichen
Inhalt der Bibel einzudringen, — zu verfchwinden hat
um fo mehr, als der Katechismusunterricht es den Kindern
erfchwert oder gar unmöglich macht, den rechten Glaubensbegriff
zu gewinnen, und auch den Lehrer fortdauernd
einer Gefahr ausfetzt, nämlich immer wieder in Verfuchung
bringt, unaufrichtig zu reden. Unter dem Eindruck diefes
erften Kapitels erwartet man weitere revolutionäre Vor-
fchläge, ift aber fehr bald — ich meine: angenehm —
enttäufcht. Der Verfaffer hält den preußifchen Lehrplan
für gar nicht fo fchlecht. Es find nur verhältnismäßig
geringe Korrekturen vorzunehmen. Der Verfaffer fchlägt
folgende Stoffverteilung vor: ATliche bzw. NTliche Ge-
fchichten in VI bzw. V (in Übereinftimmung mit dem
Lehrplan), dann für IV: ifraelitifche und jüdifche Ge-
fchichte, für Illb: Jefüs und Paulus, für lila: Luther und
die Gefchichte des Proteftantismus bis auf die Gegenwart,
worauf fich, wieder in wefentlicher Übereinftimmung mit
dem Lehrplan, der vierjährige Kurfus von IIb—Ia an-
fchließt Für die Darbietung des Stoffs fordert F. vor
allem ,Vergegenwärtigung,' damit der viele gefchichtliche
Stoff nicht bei den Schülern den Eindruck erwecke, Religion
fei eine Sache, die der Vergangenheit angehört,
göttliches Wirken findet fich eigentlich nur in früheren
j Jahrhunderten'. An den verfchiedenften Beifpielen aus
1 der biblifchen und Kirchengefchichte macht F. klar, wie
er fich diefe Vergegenwärtigung denkt. Das Buch unter-
fcheidet fich überhaupt fehr zu feinem Vorteil von vielen
anderen ähnlich betitelten dadurch, daß es keine allgemeine
Rederei enthält, fondern direkt ,aus der Praxis für
die Praxis' gefchrieben ift.

In einigen Punkten kann man ja anderer Anficht fein. So möchte
ich die .deutfehe Theologie' und Luthers .Schrift von der Freiheit" lobgleich
letztere auch P. Fiebig vor kurzem ausdrucklich ,für die reiferen
Schüler und Schülerinnen höherer Lehranftalten vergegenwärtigt' hat
— Tübingen, Mohr, 1911) nicht für den Religionsunterricht in deu Ober-
klaffen empfehlen. Was Religion ift, lernen unfere Primaner am beften
aus Schleiermachers Reden, was Chriftentum ift, aus Spener, Zinzendorf
uud Wesley. Ferner fcheint mir der Verfaffer über den Nachteilen, die
die Benutzung eines Quellenlehrbuchs mit fich bringen kann, die überragenden
Vorteile, die fich dem Lehrer und Schüler bieten, zu verkennen.
Und Sienkiewicz' Quo vadis ? rechne ich nicht unter die gefunde Schülerlektüre
. Aber im allgemeinen wird wohl jeder Berufsgeuoffe das Buch
mit freudiger Zuftimmung und reichem Nutzen lefen. Am liebfteu Hellte
ich hier einige der treffendften Urteile und beften Winke zufammen, muß
mich aber begnügen mit Wiederholung einer Stelle aus der Einleitung
zum dritten Teil, zur Theorie der Montagsanfnrachen: .Alles päda-
gogifch Lehrhafte hat hier zu fchweigen. Wer die Andacht benutzt,
um den Schülern pädagogifche Ermahnungen und Moralpauken, die er
ihnen in der Klaffe ohne Erfolg hat angedeihen laffen, jetzt mit dem
Nimbus des Religiöfen verbrämt an den Kopf zu werfen, verkennt feine
Aufgabe. Denn er trennt fich von den Schülern, während das Eigentümliche
einer religiöfen Anfprache gerade darin liegt, daß beide, Lehrer
und Schüler, hier auf gemeinfamen Boden treten uud fich beide ge-
meinfam vor derfelben höheren Welt beugen'.

Zwickau i. S. O. Clemen.

Tribukait, Pfr. Hans: Was ift evangelifche Freiheit? Eine
Beleuchtg. unferer gegenw. kirchl. Lage. (III, 92 S.) 8°.
Tübingen, J. C. B. Mohr 1912. M. 140

In den gegenwärtigen Kämpfen derer, für die ,evan-
gelifch' und .Freiheit' im Grunde identifch find, und derer,
die auf Grund des Evangeliums Gebundenheit wünfehen,
nimmt Tr. mit Entfchiedenheit feinen Standpunkt auf
feiten der erfteren; er will mit feiner Schrift denen, die
; vom Gedanken evangelifcher Freiheit bezwungen find,
zur Klarheit und zum freudigen Bewußtfein des Rechts
; ihrer Pofition verhelfen. Zunächft wird das Wefen reli-