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Ausgabe:

1913 Nr. 14

Spalte:

432-433

Autor/Hrsg.:

Weber, Ottocar

Titel/Untertitel:

Deutsche Geschichte vom westfälischen Frieden bis zum Untergange des römisch-deutschen Reiches 1648/1806 1913

Rezensent:

Sohm, Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 14.

432

Reinhardt, Heinrich: Studien zur Gelchicbie der katholifchen
Schweiz im Zeitalter Carlo Borromeo's. Nach des Verf.
Tode fortgefetzt u. hrsg. v. Frz. Steffens. 2 Tie. [Aus:
,Nuntiaturberichte a. d. Schweiz. Zeit d. Concil v. Trient'.]
(XI, 434 S. m. 1 Bildnis.) Lex.-8<>. Stans, H. v. Matt
& Co. 1911. M. 8 —

Diefe Studien waren urfprünglich als Einleitung zu
dem Werke ,Nuntiaturberichte aus der Schweiz feit dem
Concil von Trient' (bis jetzt ift ein Band 1906 erfchienen)
gedacht, unter der Hand aber wuchs diefe Einführung
fich zu einem befonderen Bande aus; bis zu Bogen 18
(S. 288) hat Reinhardt den Text bearbeitet, nach feinem
unerwarteten Tode (1906) hat dann fein Arbeitsgenoffe
Steffens — er ift den Hiftorikern durch feine ,lateinifche
Paläographie' bekannt — das Werk unter Benutzung der
Vorarbeiten Reinhardts zu Ende geführt und mit Recht
eine biographifche Skizze von Reinhardts Leben an die
Spitze geftellt. Das vorliegende Buch ift eine Gefchichte j
der Gegenreformation in der Schweiz, in deren
Mittelpunkt mit Recht Carlo Borromeo gerückt wird. Es
ift herausgearbeitet aus dem Aktenmaterial zu dem erwähnten
großen Werke der .Nuntiaturberichte' und gibt
ein forgfam ausgeführtes Bild, dem jede polemifche Spitze
fehlt. Die Grundzüge waren durch das Werk des Churer
Domherrn J. G. Mayer: das Konzil von Trient und die j
Gegenreformation in der Schweiz (1901/03) und das von
R. Feller über Melchior Luffy bekannt, aber wir erhalten
eine Fülle von neuen Details und nicht wenige Berich- j
tigungen, namentlich zu Mayer. Das kann natürlich hier j
nicht alles angegeben werden. Typifch für den großen
Entwicklungsgang ift das päpftliche Werben um die
katholifchen Orte, denen fogar eine päpftliche Hilfeleiftung j
in der Form einer zu deponierenden Geldfumme zugefügt
wird, und die ungeheure Sprödigkeit feiner Aufnahme; bis j
es dann der Energie Borromeos gelingt, wirklichen Erfolg
zu erzielen. Er befaß die Einficht, daß mit diplomatifchen
Liebenswürdigkeiten u. dergl, wie die Nuntien Filonardi
und Raverta es verfucht hatten, nichts zu erreichen war.
Die Objekte für die Gegenreformation waren namentlich !
die Hebung der katholifchen Inferiorität auf dem Gebiete
des geiftigen Lebens, die Heranbildung tüchtiger Kleriker,
die Errichtung eines jefuitifchen Kollegiums; in den ver-
fchiedenften Formen wird an der Realiüerung diefer
Probleme gearbeitet. So find im deutfchen Kolleg in
Rom junge Schweizer, die Priefter werden wollten, ausgebildet
worden, oder der Gedanke der Abtrennung von
Konftanz, das ,nit glicher Nation' war, tauchte bei den fünf
Orten auf, in pofitiver Form: Begründung eines Bistums
auf nationaler Grundlage. Von päpftlicher Seite aus
kommt ein energifcher Zug in die Gegenreformation erft
durch Pius V hinein (S. 99 ff.), wenn auch das Verhältnis
der fchweizerifchen katholifchen Orte zu feinem Vorgänger
Pius IV perfönlicher und intimer gewefen war. Sein Mittelsmann
für die Verbindung mit der katholifchen Schweiz
war merkwürdigerweife ein Laie, der Hauptmann der
Schweizergarde in Rom, Joft Segeffer; er nimmt geradezu
die Pofition eines Nuntius ein, da die offizielle Nuntiatur
mit dem Tode Pius IV erlofchen war. Sehr intereffant
ift die, auch von den Schweizern befuchte Konftanzer
Synode von 1567, deren Reformdekrete bei den Äbten
und dem Weltklerus ,Befchwerden' hervorriefen, doch trat
die Obrigkeitin Luzern, dem Vororte des fchweizerifchen
Katholizismus, mit einem Reformationsmandat, unerachtet
klerikaler Oppofition, energifch gegen die Mißftände,
namentlich die Konkubinenwirtfchaft, auf. Luzerns Plan
freilich eines Konkordates der Kurie mit den fünf katholifchen
Orten fcheiterte, es konnte nur 1570 die Verkündigung
der tridentinifchen Dekrete von den Kanzeln aller
fünf Orte erzielt werden. Die von dem Verf. eingehend
gefchilderte Perfönlichkeit Borromeos imponiert durch ihre
ftrenge Sittlichkeit und Zielbewußtheit. Wie ganz anders

er als etwa der ebenfalls eingehend charakterifierte Mark
Sittich v. Hohenems! Sein berühmter Befuch 1567 in dem
zum mailändifchen Sprengel gehörigen teffinifchen Gebiete
und feine Schweizerreife 1570 haben ungemein gewirkt:
manverfteht aber durchaus das Urteil, das ein Landpfarrer
über den 29jährigen Asketen in fein Tagebuch fchrieb:
Ecce sacerdos magnus, qui in diebus suis placuit deo! Wie
waren aber auch die Zuftände! Dem ,Vicario' der Riviera
mußte unterfagt werden, feine Kinder während der Meffe
des Vaters fich dem Altare nähern zu laffen! Über den
Verlauf feiner Schweizerreife hat Borromeo felbft einen
genauen Bericht erftattet, an den er feine Reformvorfchläge
anknüpft, an deren Spitze die Errichtung der Nuntiatur
im tridentinifch-borromäifchen Sinne ftand neben der
Forderung eines Seminars in Luzern.

Noch mancherlei wäre aus dem wertvollen Buche anzuführen
, wie die Streitigkeiten um den Churer Bifchofsfitz
zwifchen den Familien Salis und a Porta oder die Re-
organifation des Klofters Diffentis, in dem zeitweilig nur
ein einziger Ordensmann war, aber ich breche ab, den
Verfaffer und Herausgeber des Dankes aller Freunde
fchweizerifcher Gefchichte verfichernd.

Zürich. Walther Köhler.

Weber, Prof. Dr. Ottocar: Deutlche Gefchichte vom weft-
fälifchen Frieden bis zum Untergange des römifch-
deutfchen Reiches 1648/1806. (Bibliothek derGefchichts-
wiffenfchaft.) (VIII, 204 S.) 8°. Leipzig, Quelle & Meyer
1913. Geb. M. 3.40

Man muß fich fragen, ob der im vorliegenden Werke
gefchilderte Zeitraum deutfcher Gefchichte (1648—1806)
nicht zu reichhaltig an Ereigniffen und Entwicklungen ift,
um in einem Bande von 196 Seiten gefchildert zu werden.
Es gilt hier ja nicht nur die Entftehung der modernen
deutfchen Einzelftaaten darzuftellen und dabei dem fri-
derizianifchen Preußen, dem Öfterreich Marien Therefiens
und Jofephs II. gerecht zu werden, fondern das Zeitalter
Ludwigs XIV., des amerikanifchen Befreiungskrieges, der
franzöfifchen Revolution will die deutfche Gefchichte eingereiht
fehen in Wandlungen von weltgefchichtlicher Bedeutung
. Es tritt dazu der komplizierte Charakter, den
die politifche Gefchichte des Abfolutismus trägt: eine
Gefchichte, die im verwirrenden Kleinhandel der Familienverbindungen
und Kompromiffe doch'die einfachen Größen
des 19. Jahrhunderts vorbereitet. Jede Vergeiftigung verfällt
hier doppelt leicht in die Gefahr, zu einer blaffen
Darftellung zu führen; allzuviel Anfchaulichkeit trübt den
Blick auf die allgemeine Entwicklung. Weber widmet fich
durchaus der anfchaulichen Schilderung. Es zwingt ihn
dies, zumal bei der Gefchichte der kleineren deutfchen
Territorien (§ 19) zu einer allzureichen Stoffmitteilung.
Dagegen kann er dank diefer Technik andererfeits gerade
an die Schilderung der führenden Perfönlichkeiten anfpre-
chendeDarftellungenderzeitgenöffifchen Kultur anfchließen
(§ 6: der große Kurfürft, § 17 die Kaifer, § 18 Friedrich
der Große. Gern hätten wir noch ein Bild Marien Therefiens
gefehen, fchon um des Gegenfatzes ihren klugen
inneren Politik willen zu den Theorien des Jofephinismus).
In wohl abfichtlich einfacher Sprache werden die poli-
tifchen Ereigniffe ruhig entwickelt. Keine Klagen und
Befchönigungen verhüllen den traurigen Zufammenbruch
des Reichs. Die volkswirtfchaftliche Seite des 17. und
18. Jahrhunderts findet ihre Würdigung im Anfchluß an
die Darfteilung der inneren Politik der Fürften. Nur wenig
Raum ift dem künftlerifchen Gehalt der Zeit gewidmet,
und doch möchte man gern einen Blick auf den Weg
vom Meffias bis zur Iphigenie werfen, um am Ende der
Darfteilung ein Gefühl für die geiftigen Kräfte des zertrümmerten
Reichs zu gewinnen. Eine Würdigung des
theologifchen, religiöfen und philofophifchen Lebens liegt
nicht in der Abficht des Verfaffers und des Programms