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Ausgabe:

1913 Nr. 1

Spalte:

20-21

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Gustav

Titel/Untertitel:

D. Wilhelm Hölscher. Ein Lebensbild 1913

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 1.

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öffentlichungen über C. Neumann und J. J. Rambach fchöne
Proben gegeben, zu dem Ganzen der vorliegenden Schrift
zu erweitern und abzurunden. Reichlich treten auch hier
die bekannten Vorzüge des Meifters neuerer Predigt-
hiftorie entgegen: die ruhige Klarheit der Darfteilung;
die fichere Bewältigung großer durch unermüdlichen
Sammel- und Lefefleiß aufgehäufter Stoffmaffen; die
reiche Illuftration, feftere Begründung, Ergänzung und
Berichtigung der überlieferten Erkenntnis durch die Fülle
der aus den Primirquellen gefchöpften Details; der fcharfe
Blick für das Wefentliche und Wirkfame; die Objektivität
und Gerechtigkeit des Urteils. Indem die Gegenfätze der
orthodoxen und der pietiftifchen Predigt deutlich auseinandertreten
, wird zugleich der Streit und das Unterliegen
der erfteren, wie die höhere Konvergenz, die in zahlreichen
Bindungen beide aufeinander weift, um fo ver-
ftändlicher. Einen befondern Vorzug empfängt die Abhandlung
durch die prinzipielle Stellung, die der Verfaffer
zur homiletifchen Gefchichte einnimmt. Die vielgepflegte
Sitte, der technifchen Homiletik eine Gefchichte der Predigt
als befonderen Teil einzuverleiben, führt in der
Regel nicht über eine Sammlung von Prediger- und
Predigtfkizzen hinaus, die als Fremdkörper in die Kunft-
lehre felbft eintritt, ohne daß man eine fonderliche Einwirkung
auf diefe wahrnähme. Dem gegenüber betont
Sch. mit Recht, einmal, daß die Gefchichte der Predigt
mit folcher Skizzenfammlung aus der Praxis nicht abgetan
fei, fondern um vollftändig zu fein, auch die Entwicklung
der homiletifchen Theorie ins Auge faffen müffe;
zum andern, daß fie, eben als Gefchichte, fleh zugleich als
Selbftzweck, als organifchen Teil der Gefamtgefchichte
des geiftigen Lebens in dem jedesmaligen Zeitalter begreifen
und zur Darfteilung bringen müffe. Beiden Aufgaben
ift der Verfaffer ausgiebig und umftchtig gerecht
geworden. Je fchwankender die Umriffe der ,Durch-
fchnittspredigt', die feftzulegen eine Lieblingsneigung des
Verfaffers ift, bei der Mannigfaltigkeit der Erfcheinungen
und der Unüberfehbarkeit und mehr als teilweifen Unerreichbarkeit
des Maffenftoffes ausfallen müffen, um fo
klarer tritt aus den Theorien der führenden Geifter die
Geftalt der treibenden Kräfte, ihrer Gegenfätze wie ihrer
Annäherung hervor. Ebenfo reichlich und umftchtig
werden die kulturellen Einflüffe der neuerwachten Richtung
auf Pflege der deutfchen Sprache und Rede, der
franzöftfchen und englifchen Predigt, der neuen Philofophie
zur Anfchaung gebracht, die dem Pietismus in der Überwindung
der fcholaftifchen Predigt zur Seite gingen,
nicht ohne manche feiner Charakterlinien zu verfchieben und
zu verwifchen. Immerhin bleiben, wenn namentlich der
letztgenannte Einfluß deutlich das Endabfehen des Verfaffers
auf die folgende Aufklärungszeit kenntlich macht,
in anderer Richtung manche Lücken inbezug auf Voll-
ftändigkeit des Zeitbildes fpürbar. In einer Darftellung,
die auch noch Reinbeck und Mosheim umfaßt, vermißt
man die Bezugnahme auf den vom Verf. völlig ausge-
fchalteten fchwäbifchen Pietismus. Die zweckmäßige
Teilung der Darfteilung durch das Jahr 1700, dem nach
Anficht des Verfaffers nur die Anfänge der Bewegung
vorausgehen, ließe einen Blick auf die Erfcheinung erwarten
, daß die recht herben Kämpfe diefer Anfänge —
man denke nur an Hamburg — den Pietismus im innigen
Zufammenhang mit jenem Auflodern lutherifcher Myftik
zeigen, das — letzlich auf J. J. Boehme zurückgehend —
die Neige des Jahrhunderts erfüllt, und von deffen Funken-
fprühen fich das mildere Leuchten des Pietismus nur
recht allmählich losgelöft hat: das Freylinghaufenfche
Gefangbuch von 1704 zeigt, wie eng noch die Bindung
war. Wie denn überhaupt das völlige /ibfehen Sch.s von
der Wechfelbeziehung zwifchen Predigt und Hymnik —
der ganz vereinzelte Hinweis auf Loefchers Geiftliche Lieder
S. 33 A. 3 füllt die Lücke nicht — zwar in der thema-
tifchen Stoffbegrenzung eine formale Rechtfertigung hat,
aber einen gerade für diefen Zeitraum wichtigen Schlüffel

zum vollen Verliehen beifeite legt. In ähnlicher Richtung
läge eine Erweiterung des kulturgefchichtlichen
Horizonts, die auch für die Gefchichte der Predigt nicht
unfruchtbar fein möchte. Ift es Zufall, daß, nachdem fich
| der Kunfttneb der mittelalterlichen Kirche in ihrer Architektur
ausgelebt hatte, feine Einfchränkung aufs Wort im
I Luthertum die Gebilde der orthodoxen Kunftpredigt ans
j Licht trieb, die mit jener Baukunft nicht bloß den Schema-
i tismus, fondern auch die ornamentalen Schnörkel und
Mätzchen gemeinfam haben? Und daß, nachdem der
Pietismus durch einen Hauch warmen Lebens die Verwitterung
diefer ftarren Formen befchleunigt hatte, dies
ältere Luthertum feine charakteriftifche und fpezi'fifche
Kulturhöhe nicht in der Predigt, fondern in der Kunft
der Mufik durch J. S. Bach erklommen hat? — Auch auf
das Schlußrefultat des Verfaffers fcheint fein Endabfehen
j auf die rationaliftifche Predigt nicht ohne Einfluß ge-
! blieben. Er felbft hat den einen Zentralgedanken der
I pietiftifchen Homiletik, die wefenhafte Bedeutung der
| Perfönlichkeit des Predigers für die Predigt, mit wiederholtem
Nachdruck eindringlich hervorgehoben. Um fo mehr
vermißt man neben den berechtigten Einfchränkungen, die
er hier am Schluß der Bedeutung der pietiftifchen Predigt
widerfahren läßt, den Hinweis darauf, daß der Pietismus
1 mit jenem Zentralgedanken der Kirche ein dauerndes Erbe
| hinterlaffen hat, das auch durch die intellektualiftifch und
j daher unperfönlich gerichtete Übergangsftufe der ratio-
naliftifchen Predigt nur vorübergehend hat verdunkelt
werden können.

Berlin. P. Kleinert.

D. Wilhelm Hölfcher. Ein Lebensbild. Mit e. Porträt
(96 S.) kl. 8°. Leipzig, J. C. Hinrichs 1912. M. 1.25

Das Bild Wilhelm Hölfcher's — lebenswahr fleht es
auf der erften Seite diefes Büchleins und ebenfo tritt es
uns aus feinen Schilderungen entgegen, die im wefent-
lichen fchon in der einft von Hölfcher herausgegebenen
Ev. luth. Kirchenzeitung geftanden haben. Es ift wertvoll
daß uns vor allem fein Werdegang gefchildert wird, aus
dem fo vieles an feiner Perfönlichkeit und in feinem
Wirken fich erklären läßt. Seine oftfriefifche Heimat,
wo er als Knabe fchon hoch- und plattdeutfch, hollän-
difch und englifch fprechen lernte, war ihm die Schule
der Gewandtheit, mit der er fo manche Sprache be-
herrfchte. Auf dem Gymnafium zu Osnabrück war er
noch der Schüler Bernhard Rudolf Abekens, der Hauslehrer
bei den Kindern Schillers gewefen war. Da er
zuerft Medizin oder Naturwiffenfchaft zu fludieren gedachte
, führte ihn fein Univerfitätsftudium in Tübingen,
Berlin, Göttingen nicht nur in die Theologie, fondern in
die mannigfachften Gebiete deutfcher Wiffenfchaft ein.
Tüchtig philofophifch gefchult war er zugleich ein kundiger
Botaniker, und noch in feinen letzten Lebensjahren
löfte er zu feiner Unterhaltung in Mußeflunden mathe-
matifche Gleichungen. Sein fünfjähriger Aufenthalt als
Hauslehrer bei der Familie von Medem in Kurland
förderte feine gefellfchaftliche Bildung, und eine längere
Reife nach Rom, die darauf folgte, legte den Grund zu
feinen ungewöhnlich eingehenden künftlerifchen und kunft-
wiffenfchaftlichen Kenntniffen. Jahrelang war er dann
Pfarrer in feiner Vaterftadt Norden und darnach Studiendirektor
in Lockum. So boten ihm die erften vierzig
Jahre feines Lebens viel Anregung, aber auch Sammlung
und Stille genug zur vertiefenden Arbeit, aus der er 1885
in fein unruhiges, vielbefchäftigtes Leipziger Amt als
Nachfolger Ahlfelds und Panks berufen wurde.

Sein geiftliches Amt war der Mittelpunkt feines
Lebens, aber auch an der Univerfität als Leiter des
katechetifchen Seminars am Predigerkollegium war er
tätig. Als Herausgeber der Kirchenzeitung, als tatfäch-
licher Leiter der ev. luth. Heidenmiffion trat er an Lut-
hardt's Stelle. Lange Zeit war er Vorfitzender der Innern