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Ausgabe:

1913 Nr. 13

Spalte:

404-405

Autor/Hrsg.:

Bergson, Henri

Titel/Untertitel:

Einführung in die Metaphysik. 2. u. 3. Tsd 1913

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 13.

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überhaupt befeitigen. Hierin fehe ich die größte Gefahr
der Lage und in der Begünftigung diefer Entwickelung
durch die heutige ,pofitive' Politik deren bedenkliche
Kurzfichtigkeit. In Wahrheit ift ja die wiffenfchaftliche
Theologie eine höchft konfervative Macht, eine Sammlung
und Erhaltung der hiftorifchen religiöfen Kräfte unferer
Kultur. Nur von der kirchlichen Parteipolitik aus gefehen,
erfcheint fie am linken Flügel. Wenn fie nun fo von
rechts und links her zerrieben wird, fo ift fie freilich das
erfte Opfer der Lage, und die ,Pofitiven' können triumphieren
, wenn fie auch ähnlich wie die Katholiken nicht
aufhören werden über diokletianifche Verfolgung und
Befchimpfung zu klagen, folange fie nicht alles in der
Hand haben. Aber das zweite Opfer werden die theo-
logifchen Fakultäten felbft fein, und, wenn ich auch mit
Jülicher trotz alledem an den Fortfehritt der Wahrheit und
Religion glaube, fo wird man doch ein wichtiges Organ
diefes Fortfehrittes und der befonnenen Ausgleichung verloren
haben. Der Sieg der Pofitiven über uns könnte
leicht zum Pyrrhusfiege werden.

Alles das ift bei Jülicher und bei mir nicht fo zu
verftehen, als ob wir nicht auch unter den Pofitiven
namhafte und bedeutende Gelehrte anerkännten. Aber in
dem gewaltfamen Auftrieb des pofitiven Nachwuchfes ift
vieles hervorgetrieben worden, was mit ernfter Wiffenfchaft
überhaupt nichts zu tun hat. Darüber werden fich die
pofitiven Häupter felbft fehr klar fein. Auch werden fie
an ihrem Nachwuchs vermutlich nicht bloß Freude erleben.
Überhaupt ift die Gewaltfamkeit, mit der eine widerftre-
bende Bevölkerung einen klerikalifierten Pfarrftand erhalten
foll, und nicht das ,Pofitive' an fich für uns der Stein
des Anftoßes, wie wir denn unfererfeits allein durch die
Gewalt und nicht durch die pofitiven Leiftungen uns bedrückt
fühlen. All das hat Jülicher vortrefflich klargeftellt,
und es darf über feiner Anklage nicht die Bereitwilligkeit
zur Zufammenarbeit mit anderen Richtungen über-
fehen werden, fofern diefe natürlich und frei aus der Lage
hervorwachfen und auf die ,fcharfe Tonart' verzichten.

Jülicher erklärt fich in kirchlichen und religiöfen
Dingen der Gegenwart und der nächften davon abhängigen
Zukunft als Peffimiften. Ich kann diefem Peffimismus
nicht widerfprechen. Wir dürfen uns aber durch folchen
Peffimismus nicht erbittern und lähmen laffen. Nun muß
erft recht in aller Ruhe und Objektivität gearbeitet
werden. Irgendwo findet unfere Arbeit doch ihr Echo
und ihre Wirkung, und fie ift gewiß nicht vergeblich. Solange
Männer wie Harnack und Jülicher an unferer Spitze
flehen und ihre warnende Stimme erheben, werden wir
den Mut nicht zu verlieren brauchen.

Vifcher ift in feiner Rektoratsrede in der glücklichen
Lage, die Exiftenzberechtigung der theologifchen Fakultät
als freier rein wiffenfchaftlicher Staatsanftalt für allgemein
anerkannt erklären zu können, was um fo mehr Bedeutung
hat, als Bafel bekanntlich die Trennung von Staat und
Kirche durchgeführt hat. Er betont aber mit Recht eine
Schwierigkeit, die aus dem rein wiffenfehaftlichen Charakter
einer folchen Fakultät hervorgeht, das Überwiegen
der theoretifchen und hiftorifchen Ausbildung über die
praktifch-religiöfen Intereffen und die Zurückftellung des
konfeffionellen Charakters. Diefen Mängeln flellt er die
Forderung von Predigerfeminaren gegenüber. Gewiß mit
Recht, wenn diefe tüchtig geleitet find und auf die prak-
tifchen Fragen des modernen Lebens eingehen. Vielleicht
kann aber auch fchon die Univerfität felbft praktifcher
fein, indem fie weniger Dogmatik und Dogmengefchichte
treibt und dafür mehr die Kenntnis der modernen gei-
ftigen Strömungen, der praktifch-karitativen Arbeit, der
fozialen und fozialgefchichtlichen Verhältniffe betreibt Das
,Praktifche', deffen wir bedürfen, liegt vor allem in der
Kenntnis des heutigen realen Lebens, nicht in Katechetik
und Homiletik u. ä.

Heidelberg. _ Troeltfch.

Bergron, Henri: Einführung in die Metaphyfik. (Autorifierte
Überfetzung.) 2. u. 3. Taufend. (58 S.) 8°. Jena,
E. Diederichs 1912. M. 1.50; geb. M. 2 —

Die vorliegende Schrift ift bis jetzt nicht als eine
felbftändige Publikation im Franzöfifchen erfchienen.
Wenigftens war das vor kurzem noch nicht der Fall. Sie
ift die Überfetzung — und zwar keine fchlechte — einer
in der Revue de Metaphyfique et de Morale, Januar 1903
veröffentlichten Abhandlung. Aber fie ift von der größten
Bedeutung für das Verftändnis der Weltanfchauung Berg-
fons. Sie ift das bequemfte Eingangstor in das Syftem
diefes Denkers, deffen ungeheuer fchnell gewachfene
Popularität doch nicht etwa nur Modefache ift, fondern
auf einer feltenen Kombination von genialer Originalität
und ehernem Fleiße beruht, und der nachgerade auch
in der deutfehen Wiffenfchaft einen Einfluß auszuüben
beginnt wie feit A. Comte und H. Spencer kein aus-
ländifcher Philofoph.

Was hier dargeboten wird, find wefentlich methodo-
logifche Erörterungen. Der Autor unterfcheidet zwei Erkenntnismittel
: die ,Intuition' einerfeits; die ,Analyfe'
anderfeits. Die Intuition ift das Werkzeug, deffen fich
die ,Metaphyfik' zu bedienen hat; die Analyfe dasjenige,
mit dem die .exakte Wiffenfchaft' operiert. Was mit diefen
beiden Erkenntnismitteln genauer gemeint ift, läßt fich
in Kürze wohl am beften durch eine, den Lefer hoffentlich
nicht ermüdende, Serie von Antithefen kennzeichnen.

Die Intuition ift jene Art von intellektueller Einfühlung,
' kraft deren man fich in das Innere eines Gegenftandes verfetzt
, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unaus-
drückbarem befitzt. Die Analyfe dagegen ift das Verfahren,
das den Gegenftand auf fchon bekannte, alfo diefem und
anderen Gegenftänden gemeinfame Elemente zurückführt'.
Die unintereffierte Intuition erlebt die Wirklichkeit unmittelbar
, fchaut fie an, wie fie tatfächlich befchaffen ift.
Die auf praktifche Zwecke gerichtete Analyfe zerlegt die
Wirklichkeit, greift einzelne Ausfchnitte daraus heraus,
faßt diefe unter Begriffen zufammen und transformiert fo
die Wirklichkeit. Die auf die Intuition geftützte Metaphyfik
erreicht deshalb die abfolute Wahrheit; die mittels
der Analyfe vorgehende exakte Wiffenfchaft nur die
relative Wahrheit. Die von der intuitiven Betrachtung
,unferer eigenen Perfon in ihrem Verlauf durch die Zeit'
ausgehende und weiterhin durch Intuition in die Wirklichkeit
fich verfenkende Metaphyfik erkennt die Wirklichkeit
ihrem Wefen nach als .Dauer', als eine derartige
Bewegung und .Veränderlichkeit', in der das Vergangene
ftets in dem Gegenwärtigen nachwirkt und aufgehoben
ift, und in der das Gegenwärtige das Zukünftige vorbereitet
, ohne daß je Wiederholung ftattfände. Die ana-
lyfierende exakte Wiffenfchaft verdichtet das an fich
Fließende und fleht in der Wirklichkeit ein Aggregat von
feftgewordenen Zuftänden, aus deren nachträglicher Zu-
fammenfetzung fich dennoch niemals die wirkliche Wirklichkeit
, die ,Dauer' wieder herftellen ließe, die aber geeignete
Angriffspunkte darbieten für das Handeln. Die
Analyfe .arbeitet' .immer mit dem Unbeweglichen', während
die Intuition fich in die Beweglichkeit oder — was
auf dasfelbe herauskommt — in die Dauer verfetzt'. Die
intuitive Metaphyfik kann niemals ihre Ergebniffe eigent-
j lieh mitteilen; fie kann nur, indem fie durch Häufung von
verfchiedenen Bildern den Sachverhalt zu befchreiben
ftrebt, Anregung geben zur Erneuerung der Intuition
durch andere. Die analyfierende Wiffenfchaft teilt ihre
Ergebniffe mit unter Benutzung allgemeiner Begriffe, die
der Wirklichkeit nicht beffer angepaßt find als Konfektionskleider
den individuell differenzierten Körpern. So ver-
fchieden nun aber die intuitive Metaphyfik und die analyfierende
Wiffenfchaft find, keine kann die andere völlig
entbehren. Denn die exakte Wiffenfchaft verdankt unter
Umftänden einer voraufgegangenen Intuition großartige
Leiftungen auf ihrem eigenen Gebiet; anderfeits wird die