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Ausgabe:

1913 Nr. 12

Spalte:

373

Autor/Hrsg.:

Lüttge, Willy

Titel/Untertitel:

Die Trennung v. Staat u. Kirche in Frankreich u. d. französische Protestantismus 1913

Rezensent:

Lachenmann, Eugen

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373

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 12.

374

Lüttge, Priv.-Doz. Lic. Willy: Die Trennung v. Staat u. Kirche

in Frankreich u. der franzöfifche Proteftantismus. (XII,
208 S.) gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1912. M. 4.80

Seit der Trennung von Kirche und Staat ift die Entwicklung
der kirchlichen Verhältniffe im franzöfifchen
Proteftantismus fo ftark im Fluß, daß jeder Verfuch einer
zufammenfaffenden Darftellung der Gefahr ausgefetzt ift,
ehe er an die Öffentlichkeit tritt, von den Ereigniffen
überholt zu werden. Auch Lüttges Arbeit ift diefem
Schickfal nicht entgangen. Sie wurde im Mai 1912 ab-
gefchloffen: im Juni 1912 fand die Parifer Synode ftatt,
auf der die Mittelpartei nach fechsjähriger Sonderexiftenz
mit den Liberalen zur Union nationale des Eglises re-
formees de France fich zufammenfchloß. Mit diefem Teilerfolg
werden fich ja wohl die kirchlichen Einigungs-
beftrebungen unter den franzöfifchen Reformierten vorerft
und auf lange hinaus begnügen müffen. Denn der
Widerftand der Orthodoxie wird nicht durch kirchen-
politifche Verhandlungen gebrochen werden, fondern durch
die wachfende Einficht in die großen religiöfen und fo-
zialen Aufgaben des franzöfifchen Proteftantismus und
durch den kommenden Sieg der frommen und freien
Theologie eines A. Sabatier und E. Menegoz, die auch
im kirchlichen Herrfchaftsgebiet der Orthodoxie immer
mehr fich durchfetzt. L. konnte die Parifer Synode vom
25—28. Juni 1912 nur noch anhangsweife erwähnen. Trotzdem
ftehe ich nicht an, feine Arbeit als eine durchaus
gediegene und zuverläffige Skizze der neueften Gefchichte
des franzöfifchen Proteftantismus aufs wärmfte zu empfehlen
. Das Buch bietet weit mehr, als wir fonft von
Veröffentlichungen, die das Material einer Studienreife
verarbeiten, gewöhnt find. Nachdem L. in einfachen
Umriffen die Vorgefchichte der Trennung von Kirche
und Staat gezeichnet und die wichtigften Beftimmungen
des Gefetzes vom 9. Dez. 1905 mitgeteilt hat, gibt er im
II. Kapitel einen nach großen Gefichtspunkten orientierenden
Überblick über die Vergangenheit und Gegenwart
im franzöfifchen Proteftantismus. Kap. III fchildert die
Wirkung des Gefetzes auf die innerkirchlichen Verhältniffe
und gibt ein zutreffendes und unparteiifch.es Bild von
den unguten kirchenpolitifchen Kämpfen, die zur Trennung
der Mittelpartei von der Rechten führte. Der Staatsftreich
der Rechten auf der Synode in Orleans (1906), der die
Einigung aller Reformierten trotz des ernftgemeinten und
felbftlofen Entgegenkommens der Liberalen hintertrieb,
gehört zu den betrübendften Proben kirchlicher Parteipolitik
. Die beiden letzten Kapitel bieten noch einen kurzen
Aufriß der finanziellen und adminiftrativen Neuordnung
des kirchlichen Lebens in den Einzelgemeinden und in
den größeren Verbänden mit wertvollen ftatiftifchen und
kirchenkundlichen Mitteilungen.

Leider ift die Zahl der Druckfehler, befonders in den franzöfifchen
Texten und in den Eigennamen, eine ungewöhnlich große. Dazu ift wohl
auch (S. 64) London ftatt Loudun zu rechnen. Unter consistoires mixtes
(S. 77) verfteht man in der Regel Konfiftorien, die aus reformierten und
lutherifchen Gemeinden zufammengefetzt find (in Algier), nicht Konfiftorien
die aus liberalen und orthodoxen Gemeinden beftehen. Die Zeitung
.L'Eglise libre', kann nicht als .Organ der Freikirchen' (S. 112) gelten. Sie
war auch nach ihrem theologifchen und kirchenpolitifchen Gehalt Privateigentum
ihres Herausgebers Ch. Luigi und vertrat bisher eine dogmatifche
Intranfigenz, die von den leitenden Männern der Freikirchen nicht geteilt
wird. Der Xame der theologifchen Vorbereitungsfchule in Nlmes hat
mit St. Vincent nichts zu tun, fondern foll eine Ehrung für Samuel Vin-
cent, den Erneuerer des theologifchen Studiums im frauzöfifchen Proteftantismus
bedeuten, der in Nimes 17S7 geboren wurde und von 1809
an als Pfarrer wirkte ff 1837).

Leonberg (Württ.). E. Lachenmann.

Fichte, J. G.: Die Anweifung zum feiigen Leben. Nach der
1. Ausgabe mit Nachwort neu hrsg. v. Erich Frank.
(X, 268 S.) 8°. Jena, E. Diederichs 1910.

M. 4 — ; geb. M. 5 —

Über die hier aufs neue herausgegebenen Vorlefungen,
die Fichte im elften Viertel des Jahres 1806 in Berlin

hielt, fchreibt Zelter an Goethe, der ihn erfucht hatte, über
diefe .Sonntagskollegien' zu berichten: ,Fichtens Vorlefung
habe ich mit großer Satisfaktion gehört. Ich habe
nie eine Fichtifche Vorlefung ohne eigentliche Erbauung
verlaffen, obgleich es mir nicht möglich wäre, darüber
zu referieren, denn ich würde etwas ganz anderes von
mir geben, wenn ich es wieder erzählen follte, und vor der
Welt zu Schanden werden' (S. 249). Auch heute noch
und ohne die Wirkung der mächtigen Perfönlichkeit des
Redners ift der Eindruck diefer Reden ein ftarker. Aber
es ift nicht mehr der Fichte der erften ,Wiffenfchaftslehre',
(1794), der uns darin entgegen tritt und deffen ,Ich' fein
Wefen in dem unendlichen niemals zum Ziele kommenden
Streben hat, fondern es ift der Spinoza fich nähernde
Fichte, deffen Denken in einem abfoluten Sein Ruhe
findet. Der Himmelsftürmer wird zum Myftiker — ohne
freilich die tatlofe Betrachtung gut zu heißen. Echt
Fichtisch in der Schärfe der Antithefe ift aber fchon
der einleitende und grundlegende Gedanke der erften
Vorlefung. In dem Ausdruck ,feiiges Leben' liegt der
wahren Anficht nach etwas Überflüffiges. ,Nämlich: Das
Leben ift notwendig feiig, denn es ift die Seligkeit; der
Gedanke eines unfeligen Lebens hingegen enthält einen
Widerfpruch. Unfelig ift nur der Tod.' Leben, Liebe
und Seligkeit find fchlechthin eines und dasfelbe. Einen
reinen Tod und reines Nichtfein gibt es allerdings nicht.
Wohl aber gibt es einen Schein und diefer ift die
Mifchung des Lebens und des Todes, des Seins und
des Nichtfeins. Der ,geliebte Gegenftand des wahrhaftigen
Lebens ift dasjenige, was wir mit der Benennung Gott
meinen, oder wenigftens meinen Tollten; der Gegenftand
der Liebe des nur fcheinbaren Lebens, das Veränderliche
ift dasjenige, was uns als Welt erfcheint, und was wir
allo nennen' (S. 7). Das Element, der Äther, die fubftantielle
Form diefes wahrhaftigen Lebens find aber nicht gewiffe
Empfindungen und Gefühle, die doch ,vom Ohngefähr
abhängen', auch nicht tugendhafte Taten und Handlungen,
die vielmehr fein Vorhandenfein bereits vorausfetzen,
fondern nur, die fich felbft durchfichtige und ihr ganzes
Innere frei befitzende Flamme der klaren Erkenntnis'.
Der Gedanke, die einzige und abfolute Bedingung des
feiigen Lebens ift alfo die Erfaffung des Einen und
Ewigen mit inniger Liebe und Genuffe. Diefe Erfaffung
gefchieht aber in der klaren Erkenntnis des abfoluten
Seins, und das Wiffen von ihm ift zuletzt das göttliche
Dafein felber, das freilich mit Notwendigkeit in dem
Leben und Handeln des gottergebenen Menfchen heraustritt
. So wandelt fich Fichtes Denken aus einer Philo-
fophie des im unendlichen Streben fich verzehrenden fitt-
lichen Bewußtfeins zu einer Philofophie des im abfoluten
Sein befriedigten religiöfen Bewußtfeins, fcheidet fich aber
von dem klaffifchen Vertreter des letzteren, von Schleiermacher
, durch die Identifikation desfelben mit dem abfoluten
Wiffen.

Die erfte Auflage der Fichte'fchen Schrift von 1806
enthielt zwei Beilagen. Die erfte derfelben gibt eine
weitere Auseinanderfetzung über die in der fechften Vorlefung
befprochene ,Hauptlehre des Chriftentums, als
einer befondern Anftalt, Religion im Menfchengefchlecht
zu entwickeln: daß in Jefu zu allererft und auf eine keinem
anderen Menfchen alfo zukommende Weife, das ewige
Dafein Gottes eine menfchliche Perfönlichkeit angenommen
habe, daß alle übrigen nur durch ihn und vermitteln: der
Wiederholung feines ganzen Charakters in fich, zur Vereinigung
mit Gott kommen könnten, fei ein bloß hifto-
rifcher, keineswegs aber ein metaphyfifcher Satz' (S. 103,
213). Auch die in der zweiten Auflage vom Jahre 1828
fortgelaffene ,zweite Beilage', die deshalb auch in den
diefer Auflage zu Grunde liegenden .fämtlichen Werken'
Fichtes fehlt, ift mit Recht in diefer Ausgabe wieder
zugänglich gemacht. In der Jenaifchen Allgemeinen
Literaturzeitung' vom 17. und 18. April 1806 erfchienen,
erregte fie in der literarifch-intereffierten Welt jener Zeit