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Ausgabe:

1913 Nr. 11

Spalte:

341-342

Autor/Hrsg.:

Nelson, Leonard

Titel/Untertitel:

Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie 1913

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Seite 1

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341

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. II.

342

tendenzen in einem ftrengen, kalt formelhaften Syfteme
von fcheinbar reinfter Sachlichkeit zufammengefcharrt find,
und dies alles herausgeboren aus der einen Haltung des
Philofophen, nichts anders zu wollen, als nur das Gegebene
zu begreifen!'

Sehr treffend wird vom Verf. hervorgehoben, daß die
.Philofophie' des Avenarius im Grunde genommen Wiffen-
fchaft ift, da fie auf Wirklichkeitserkenntnis abzielt und
daß der naturwiffenfchaftliche Charakter diefer Wiffenfchaft
ein Verftändnis der Gefchichte ausfchließt. Sehr inter-
effant ift ferner der Nachweis, daß auch der Empiriokritizismus
mit Wertgefichtspunkten arbeitet und daß das
Wertmoment diefer Lehre vor allem im Begriff des dauerhaften
' zu fuchen ift.

Wir wünfchen diefem Buch, das fich durch Klarheit
und Überfichtlichkeit der Darftellung fowie durch eine
vornehm abwägende und fcharffinnige Kritik auszeichnet,
einen zahlreichen Leferkreis.

Freiburg i. Br. Georg Mehlis.

Nellon, Leonard: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie.

Vortrag, geh. am 11. April 1911 auf dem Internat.

Kongreß f. Philofophie in Bologna. (35 S.) gr. 8°.

Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1911. M. 1 —
Der auf dem Kongreß zu Bologna gehaltene Vortrag
gibt die aus anderen Schriften des Verf. bekannten Grundlehren
des Göttinger Neu-Friefianismus in kurzen und
zugefpitzten Formeln wieder. Der Titel hat oberflächliche
Beurteiler, gegen die das Vorwort kämpft, irregeführt
und kann leicht irreführen. Er wendet fich nicht gegen
die Tranfzendentalphilofophie an fich, fondern gegen
die Meinung durch Erkenntnistheorie die Gültigkeit der
Erkenntnis felbft zu begründen, ftatt nur ihre Grundfätze,
Methoden und Grenzen feftzulegen unter Vorausfetzung
ihres Wefens als unmittelbar gewiffer Evidenz. Das
widerfpricht Kant nicht, der ja nicht die Gültigkeit, fondern
die Formen und Grundfätze fowie vor allem die Grenzen
der Erkenntnis feftzuftellen unternahm, diefe felbft aber
als mit den Einzelwiffenfchaften und dem noch ungeklärten
Alltagserkennen als gegeben hinnahm. Diefes Gegebenfein
der Erkenntnis ift das hierbei übrig bleibende, fehr
fchwierige Problem, da es weder in Wefen noch Tragweite
etwas für jedermann klares ift. Hier hat Fries auf
die fchließlich rein pfychologifch aufzuweifende Tatfache
unmittelbarer Selbftgewißheit des Erkennens um fich
felbft hingewiefen, im übrigen aber die Auffaffung des
Tranfzendentalismus von Methoden und Grenzen der
Erkenntnis nicht wefentlich verändert, insbefondere an der
hieraus refultierenden Ablehnung der Metaphyfik feilgehalten
. Andere, wie Hegel, Herbart und Lotze, haben
aus der gleichen Anerkenntnis die Wiederausdehnung der
Erkenntnis auch auf metaphyfifche Sätze gefolgert, indem
damit alles aus dem unmittelbaren Denkzwang logifch
Hervorgehende auch als wirklich bezeichnet werden müffe,
während Fries gegen fie die Einfchränkung auf mögliche
Erfahrung fefthielt. Der letzteren Richtung folgt auch N.,
und er hat die Hoffnung, daß mit diefer Grundlegung
der einheitliche Ausgangspunkt und ein fpezielles Gebiet
der Philofophie gefunden fei, während die Erkenntnistheorie
als Lehre von einer erft zu begründenden und
abzuleitenden Gültigkeit der Erkenntnis in alle Wirrfale
des modernen philofophifchen Anarchismus hineingeführt
habe. Den Fundamentalfatz des Verf. habe ich, wie viele
andere, ftets für richtig und für die Herauskehrung des
fchwierigften Problems des Tranfzendentalismus gehalten.
Er hat ihn fehr fcharffinnig bewiefen. Allein die Hoffnung
auf eine von der Pfychologie aus zu erreichende
Einigung vermag ich nicht zu teilen. Denn erftlich hat
diefe Art von Pfychologie noch keinen Ort in der heutigen
Pfychologie; zweitens führt fie in alle Schwierigkeiten
und Relativitäten des genetifchen Pfychologismus
hinein; drittens kann es fich hier nicht um Individual-

pfychologie, fondern nur um das gefchichtliche Geiftes-
leben im ganzen handeln, womit er fich der Hegelfchen
Phänomenologie nähert. Aus alledem ergeben fich aber
die fchwierigften und verwirrendften Fragen, und wir
werden fchwerlich beffer daran fein als vorher. Es ift
eben auch nicht die ,Pfychologie', die über die unmittelbare
Vorausfetzung entfcheidet, fondern eine gewiffe Intuition
und eine ethifche Willensftellung zu der Frage
des Sinnes und Zieles der Erkenntnis. Nur diefe befiegen
die Skepfis. Das aber heißt, daß die Vorausfetzungen der
Wiffenfchaft in etwas liegen, das nicht felbft Wiffenfchaft
ift; und da man über diefes fich nicht mit dem Zwang
des Beweifes einigen kann, fo ift an eine Einigung nicht
zu denken. Das galt und gilt vom Tranfzendentalismus,
der den Streit zu befeitigen und einen ganz feften Ausgangspunkt
zu befitzen meinte. Das wird auch vom Neu-
friefianismus gelten, der den Kantfchen Ausgangspunkt
nur dadurch feiler legt, daß er ihn in ein höchft kontro-
verfes Gebiet verfenkt.

Heidelberg. Troeltfch.

Schlatter, Prof. D. A.: Briefe über das chriltliche Dogma.

(Beiträge zur Förderg. chriftl. Theologie 16, 3.) (85 S.)
8°. Gütersloh, C. Bertelsmann 1912. M. 1.50

Die achtundzwanzig Briefe, in denen Schlatter fich
mit verfchiedenen über fein Werk ,Das chriftliche Dogma'
(ThLtztg. 1912, Nr. 9) geäußerten Urteilen auseinanderfetzt
, verbreiten fowohl über feine dogmatifchen Grundfätze
im allgemeinen als über einzelne Punkte feiner
Lehre ein wertvolles und höchft willkommenes Licht.

,Der Name »Biblizift«, mit dem man ihn fchmückt,
macht ihn nicht fchamrot; in unferer heutigen Lage hat
der paulinifche Satz ,ich fchäme mich des Evangeliums
nicht', ohne weiteres den konkreten Sinn: ,ich fchäme
mich der Bibel nicht' (56). Er lehnt aber den Namen ab,
wenn derfelbe bedeuten follte, daß ,lediglich die forma-
liftifche Autorität der Schrift die religiöfe Erkenntnis hervorbringe
'; er verwirft jeden Schriftgebrauch, der ,die
Autorität der Bibel zur Gewaltherrfchaft entftellt und die
eigene Wahrnehmung und Entfchließung durch ihre An-
I rufung zu hindern fucht' (58). Auf eine folche Wahrnehmung
und Beobachtung kommt es in der Tat an.
,Ich bezeichne die Formel »Wahrnehmung« als für meine
Methode und mein Ziel zutreffend; fie charakterifiert das,
was mir vorfchwebt, und macht den Gegenfatz in allen
Richtungen, fowohl gegen die Scholaftik als gegen die
fyllogiftifche Methode, die die deduzierten Syfteme fchafft,
als gegen die Bewußtfeinstheologie mit ihrer auf die Selb 11-
beobachtung gerichteten Tendenz erkennbar' (85. vgl. 20
—22. 49—50. 56—57). Von hier aus gewinnt Schi, eine
feftbegründete und klare Stellung zur dogmatifchen Tradition
der Kirche. ,Ich lege Gewicht darauf, daß fich die
Kirche nicht nur in der Vergangenheit umfchaue und fich
dadurch die Gefahr bereite, nur noch ein Wiffen vom
Wiffen anderer zu haben und felbft kein folches mehr zu
befitzen. Denn einzig mit dem gefchichtlichen Rückblick
verfchaffen wir uns nie ein Dogma, nie die Gewißheit, die
uns felbft geftaltet und mit einander einigt' (37). Aus
jenen Prämiffen ergibt fich auch Schlatters Stellung zur
Philofophie. Er baut feine dogmatifchen Ausfagen nicht
auf philofophifche Vorausfetzungen auf. Vielmehr ftellt
fich für ihn die Philofophie nicht an den Anfang, fondern
an den Schluß der Arbeit, denn er erblickt das Ziel der
theologifchen Arbeit in der exakten Auffaffung der re-
ligiöfen Tatbeftände. Die Frage, welche Vorftellungen
aus der Philofophie als Arbeitsmittel anzueignen find, ergibt
fich aus der Erwägung, welche Vorftellungen fich
als taugliche Mittel für die Beobachtung bewähren (16—17).
Auch in der Anordnung des Stoffs will Schi, lediglich als
Beobachter verfahren; für die Gruppierung der einzelnen
Lehrftücke ift allein die Frage entscheidend, an welcher