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Ausgabe:

1913 Nr. 11

Spalte:

335-337

Autor/Hrsg.:

Franz, Hermann

Titel/Untertitel:

Alter und Bestand der Kirchenbücher insbesondere im Großherzogtum Baden 1913

Rezensent:

Bossert, Gustav

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33S

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. Ii.

336

Grenzlinie überfehen, welche den von ihm vertretenen |
Ariftotelismus von dem der Averroiften fchied' (S. 13).
Noch deutlicher und dogmatifch unbefangener ausge- 1
drückt: Diefe ,Grenzlinie' zwifchen zwei verfchiedenen
Arten von Ariftotelismus war im 13. Jahrhundert zunächft
noch gar nicht vorhanden, fondern wurde erft gezogen,
indem Thomas gewiffe Elemente des arabifchen Ariftotelismus
, befonders die Lehre von der Anfangslofigkeit der j
Welt und von dem einen allen Menfchen gemeinfamen
intellectus agens, ausfchied und den Reft mit der augufti-
nifchen Lehrtradition verfchmolz. Solange man, wie es
auch v. Hertling dem katholifchen Standpunkt entfprechend
tut, den Ariftotelismus des Thomas und den Averroismus
als zwei von vornherein durch eine ,fcharfe Grenzlinie'
gefchiedene Weltanfchauungen auffaßt, wird es hiftorifch
unerklärlich, daß 1277 von Bifchof Tempier Lehrmeinungen
der thomiftifchen Schule zufammen mit den averroifieren-
den Sätzen von Siger von Brabant und Boetius dem Da-
zier verurteilt wurden, daß fich auch innerhalb des Dominikanerordens
felbft in Oxford eine fcharfe Oppofition gegen
die Neuerung des Thomas erhob, und daß es nur durch
gewaltfames Einfehreiten des Generalkapitels (1278) gelang
, diefe Oppofition im Kreis der eigenen Familie zum
Schweigen zu bringen und die kirchliche Autorität des
Thomas gegenüber fo gewichtigen Gegnern, wie es der
Erzbifchof von Canterbury, der Franziskaner Johann Peck-
ham, war, allmählich durchzufetzen. v. Hertling fieht den
tiefften Grund diefer Oppofition gegen den thomiftifchen
Ariftotelismus in der erkenntnistheoretifchen Differenz
zwifchen Auguftinismus und ariftotelifcher Philofophie.
Die neuplatonifche Lehre Auguftins von den ewigen
Wahrheitsnormen und dem göttlichen Licht, in dem wir
bei der Erkenntnis die Wahrheit fchauen, ift ,der Aprioris-
mus in theologifcher Form' (S. 17). Ihm fteht der ,Em-
pirismus' des Äriftoteles gegenüber, für den das Wiffen
nicht aus überempirifchen Ideen, fondern ,aus dem Zu-
fammenwirken zweier Faktoren, der Vernunft und der
Erfahrung', erwächft. Daß Thomas den Grundgedanken
des Äriftoteles erneuerte, bedeutet gegenüber dem Neu-
platonismus Auguftins ,einen zweifellofen Fortfehritt'.
Denn der Apriorismus hat fich in jeder Form als unzulänglich
erwiefen, fowohl in der Form des kritifchen Idealismus
Kants, der nur zu ,inhaltlofen', dem Stoff fremden
Formen führt, als in der Form des fpekulativen Idealismus
, der uns ,endgültig davon überzeugt hat, daß gefetzmäßig
fortfehreitende Vernunfttätigkeit allein niemals einen
wirklichen Inhalt des Bewußtfeins hervorbringen kann'
(S. 19).

Auch wenn man von der Entgleifung abfieht, welche die beiläufige
Bemerkung über Kant enthält, kann es fehr fraglich fein, ob mit diefer
erkenntnistheoretifchen Differenz der Punkt getroffen ift, um den fich im
Mittelalter der Streit zwifchen dem Thomismus und der Franziskaner-
fchule drehte. Die neuplatonifche Erkenntnislehre war wohl nur eine
Begleiterfcheinutig der religiöfen Empfiudungsweife, deren Recht die
auguftinifche Richtung dem eindringenden Ariftotelismus gegenüber verteidigte
. Es handelte fich um das Recht der myftifchen Unmittelbarkeit
Gott gegenüber, die durch die ariftotelifche Auflöfung diefer Unmittelbarkeit
in ein mittelbares Kaufalverhältnis gefährdet war. v. Hertlings
frühere, fehr wertvolle Arbeit über ,Auguftinus-Zitate bei Thomas von
Aquin' illuftriert diefe Gefahr der gewaltfamen kaufalen Umdeutung der
auguftinifchen Sätze von unferer unmittelbaren Teilnahme am göttlichen
Urbild aufs fchlagendfte. Nur weil das myftifche Heilsgut hier bedroht
war, empfand man den Thomismus bei feinem erften Auftreten als eine
philofophifche Methode, die mit dem dem Islam entflammenden, die
Perfönlichkeit zerftörenden averroiftifchen Rationalismus im Zufammen-
hang ftand.

Halle a. S. Karl Heim.

Franz, Dr. Heim.: Alter und Beftand der Kirchenbücher ins-
befondere im Großherzogt. Baden. Mit einer Überficht
üb. fämtl. Kirchenbücher in Baden. (154 S.) gr. 8°
Heidelberg, Carl Winter 1912. M. 3.50

Duncker, Pfr. M.: Verzeichnis der württembergifchen Kirchenbücher
. Im Auftrag der Württembergifchen Kommiffion

f. Landesgefchichte gefertigt. (XXIV, 193 S.) gr. 8°.
Stuttgart, W. Kohlhammer 1912. M. 2.80

Gleichzeitig haben die beiden Nachbarn Baden und
Württemberg Verzeichniffe ihrer Kirchenbücher erhalten.
Beide haben ihre eigenartigen Vorzüge. Franz fchickt
eine Abhandlung voraus, in welcher er fich über die Ge-
fchichte der kirchlichen Standesregifter vor der Reformation
und ihre Entftehung in Deutfchland im Zeitalter
der Reformation und ihre Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert
, dann über die ftaatliche Gesetzgebung im 18.
und 19. Jahrhundert und endlich über die Kirchenbücher
in außerdeutfehen Ländern verbreitet. Im zweiten Teil
behandelt er die Kirchenbücher in Baden und zwar in
erfter Linie die evangelifchen Gebiete, dann die katholifchen
nach den einzelnen Diözefen und die dort geltenden
Vorfchriften in den verfchiedenen Jahrhunderten; endlich
berührt Franz die altkatholifchen und ifraelitifchen
Standesbücher und die Militärkirchenbücher, deren erftes
in Colmar für die Armee Bernhards von Weimar 1643
(S. 33) angeordnet wurde.

Leider find manche Angaben für Württemberg von Franz, welche
Ref. nachprüfen konnte, unhaltbar. Niedernau hatte nicht fchon 1534,
fondern erft 1584 ein Taufbuch. In der Kirchenordnung von 1553 fteht
nichts von den Kirchenbüchern. Die württembergifche Kirchenordnung,
welche die Taufbücher anordnete, ift nicht 10, fondern 26 Jahre jünger
als die Brandenburg-Nürnbergifche. Übrigens kennen wir jetzt, was auch
Duncker noch nicht feftftellen konnte, das annähernd genaue Datum und
den Modus der Einführung des Taufbuchs, das zunächft allein gefordert
wurde. Auf dem erften Blatt des Taufbuchs von Hedelfingen bei Cann-
ftatt fagt Pfarrer Peter Venetfcher: Anno a reddita orbi per Christum
salute 1558 iussi sumus omnes ministri ecclesiarum Würtembergensium
a visitatoribus nostris nomine illustrissimi prineipis nostri Christophori —
cunetos infantes, mox ut baptizati fuerint, libro speciali ad hoc adornato
et concinnato inscribere. Quorum iussioni ego Petrus Venetseherus eo tempore
ecclesiastica munera, licet indigne, hic Hcdelfinge obieus morem gerere
opere pretium duxi. Cunetos igitur infantes aqua sacramentali hic Hedel-
finge a me tinetos ego protinus cum anno, die ac nominibus patrum si-
mui atque patriuorum consreibere in album hoc undeeima Junü man-
datum aeeipiens una volui. Am 19. Juni 1558 beginnen nun die Einträge.
Ehebuch und Totenbuch beginnen erft 1565 und 1531. Der Erlaß der
Überkirchenbehörde (Vibration) wird wohl vom Ende Mai oder Anfang
Juni ftammen. Überfehen hat Franz, daß die jetzt badifchen Orte Alt-
iußhein und Kürnbach ihre Kirchenbücher Württemberg verdanken.

Duncker hat feine Einleitung auf das Notwendige be-
fchränkt, aber fein Verzeichnis, das genau die Territorialherrfchaft
angibt wie Franz, ift überfichtlicher, da er genau
den Beginn jeder einzelnen Klaffe von Standesbüchern
angibt. Er hätte gut daran getan, wenn er nicht nur die
von den Pfarrern, fondern auch die von den Rabbinern
geführten ifraelitifchen Standesbücher aufgenommen hätte
und auch die evangelifchen Württemberg eigenen Kirchenkonventsprotokolle
verzeichnet hätte, die zwar keine Standesbücher
find, aber für die Ortskirchengefchichte diefelbe
Bedeutung haben wie die Protokolle der reformierten
Gemeinden am Niederrhein und die der Konfiftorien für
die Landeskirchen.

Statt des Eintrags im Gerabronner Taufbuch von 1533 S. IX wäre
die Brandenburg-Nürnbergifche Kirchenordnung anzuführen gewefen.

Für die Kirchengefchichte und Kulturgefchichte ift
bedeutfam, daß wohl Anfätze zum Verftändnis der Bedeutung
der kirchlichen Regifter vor der Reformation
vorhanden waren, regte fich doch das Verftändnis für den
Wert eines Verzeichniffes der Getauften felbft in Wieder-
täuferkreifen in Eßlingen (Nicoladoni, Bünderlin 191, 194).
Aber erft die Reformation half dem Gedanken zur gefetz-
lichen Verwirklichung. Die katholifche Kirche mußte erft
durch das Beifpiel der reformatorifchen Kirchen zu dem
Befchluß des Tridentiner Konzils in der 24. Sitzung und
zu Synodaldekreten veranlaßt werden. Aber beide Verzeichniffe
beweifen, wie fchwerfällig die hierarchifche
Mafchine in der katholifchen Kirche arbeitet, wie langfam
fich Konzils- und Synodaldekrete wirklich durchfetzen.
Nichts ift bezeichnender, als daß die den Vifitatoren durch
die Konftanzer Synode 1569 aufgelegte Vorfchrift, die
Führung der angeordneten Kirchenbücher zu kontrollieren,
auf dem Papier blieb. In den vom Ref. veröffentlichten