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Ausgabe:

1913 Nr. 10

Spalte:

314

Autor/Hrsg.:

Scheler, Max

Titel/Untertitel:

Über Ressentiment u. moralisches Werturteil 1913

Rezensent:

Weber, Wilhelm

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Seite 1

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313 Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 10. 314

Vorländer, Karl: Immanuel Kants Leben, dargeftellt. 1.—
3. Tauf. (XI, 223 S.) kl. 8°. Leipzig, F. Meiner 1911.

M. 3 —; geb. M. 3.60; in Gefchenkbd. M. 4.20

Das vorliegende Buch kommt wirklich einem dringenden
Bedürfnis entgegen. Schon lange fehlte uns eine
Kantbiographie, die das mannigfach berichtigte und ergänzte
Quellenmaterial nach dem neueften Stande der
Forfchung zufammenfaffend verarbeitet. Gewiß handelt
es fich da z. T. um manche kleinen Äußerlichkeiten, die
die phüofophifche Individualität Kants anfcheinend wenig
berühren, wie z. B. die urkundliche Feftftellung, daß Kant
,von Anfang an' mit K und nicht mit C gefchrieben
wurde, daß die und die Leute aus dem Volke mit dem
großen Denker korrefpondiert oder gefprochen haben,
daß er als Rektor bei offiziellen Akten fich fo oder fo
benahm, die und die Vorlefungen wirklich hielt und nicht
bloß ankündigte. Aber der Hiftoriker darf nichts für zu
geringfügig halten. Seine intimfte Kunft befteht gerade
darin, diefe Imponderabilien teils bei der Ausmalung
einzelner Charakterzüge anzubringen, teils bei der Milieu-
fchilderung als Maffen zufammenwirken zu laffen. Vorländers
Kantbiographie ftellt alle bisherigen Leiftungen
auf dem Gebiete in den Schatten, nicht nur durch die
breitere und tiefere Wiffenfchaftlichkeit, fondern auch
durch die anheimelnd frifche, nicht feiten mit köftlichem
Humor gewürzte Darftellungsform. Das Werk wird bald
zu den "Lieblingsbüchern der gebildeten Welt gehören,
ebenfo wie manche andere Publikation des geiftvollen
Neukantianers.

Ich möchte nur folgende Anmerkungen machen, die
vielleicht bei der zweiten Auflage berückfichtigt werden
können.

Die Titel der kantifchen Schriften follten — wenig-
ftens bei der erften Erwähnung — ftets bibliographifch
genau wiedergegeben werden. Ihre fchwülftige Form, die
uns vielfach unerträglich klingt, bildet ein Stück der damaligen
Gelehrtenfitte, von der fich übrigens der Philo-
foph in feinen reifften Werken bezeichnenderweife frei
gemacht hat. Aus den bibliographifch genauen Titeln
kann zudem die befondere fchriftftellerifche Tendenz
beffer erkannt werden. — Der akademifche Konkurrent
Kants Buck, der S. 77 und 85 vorkommt, möchte an
hiftorifcher Realität gewinnen, wenn der Lefer zugleich
etwas über die Arbeiten des Mannes erführe. Buck hat
ein Buch verfaßt, das fo recht den gewaltigen Abftand
von der kantifchen Größe empfinden läßt: ,Lebens-
Befchreibungen derer verftorbenen Preußifchen
Mathematiker überhaupt und des vor mehr denn
hundert Jahren verftorbenen großen Preußifchen Mathematikers
P. Christian Otters insbefondere in zwey
Abtheilungen glaubwürdig zum Druck befördert von
D. Friedrich Johann Buck. Königsberg und Leipzig
verlegts feel. Joh. Heinr. Hartungs Erben und J. D. Zeise.
1764'. Jeder, der diefes merkwürdige Buch noch nicht
kennt, follte es fich einmal anfehen: eine fleißige Sammlung
von Material ohne jeden höheren Gefichtspunkt.

Königsberg i. Pr. A. Kowalewski.

Behm, Ob.-Kirchenr. Super. Dr. Heinr.: Der Begriff des allgemeinen
Prieltertums. (4<oS.)gr. 8°. Schwerin, F. Bahn
1912. M. —75

Jedenfalls ein trefflicher Anfang neuer monographifcher
Behandlung des an Problemen reichen Begriffs! Ich finde
Grundlinien für die Erörterung der folgenden. 1. Ift er
ein rein religiöfer oder auch ein kirchenrechtlicher Ver-
faffungsbegriff? 2. Ift er individualiftifch oder kollektivi-
ftifch geartet, für den einzelnen Chriften oder für die
Gemeinde gültig? 3. Ift er der Rechts- und Pflichttitel
für die Aktivität der Laien in der chriftlichen Gemeinde?
4. Ift nach Luther das geiftliche Amt ,nicht Produzent,
fondern Produkt der Gemeinde, Projektion des allgemeinen

Prieltertums auf einen einzelnen Berufsftand' (Rendtorff)
oder, ,fofern es Amt der Gnadenmittelverwaltung ift, von
Gott geftiftet und ... tatfächlich Produzent der Gemeinde'
(Behm S. 29/30. 35)? 5. Inwieweit begünltigt Luthers Aufgebot
des eigenen Urteils des Einzelgewiffens die ,enthu-
fiaftifchen', .fubjektiviftifchen' Tendenzen Sohms, des
Independentismus, des theologifchen und kirchlichen
Liberalismus? 6. Wie verhält fich Luthers Vorausfetzung
des Herzensglaubens bei feiner Gründung des allgemeinen
Prieltertums auf die Taufe zu der (von Behm bei Spener,
Wichern ufw. bekämpften) Gründung desfelben auf den
Glauben ftatt auf den character indelebilis der Taufe?

Bei 5 fcheint mir Behm der gefchichtlichen, theore-
tifchen und praktifchen Tragweite jenes Aufgebots gar
nicht gerecht zu werden und bei 6 jene Vorausfetzung
(vgl. Drews, ZThK. 1908, Ergänzungsheft S. 5 ff.) nicht
gewürdigt zu haben. Zu 4 möchte ich fragen, ob es fich
mit Luthers Unterordnung des Amts unter die Gemeinde
fo einfach verhält, wie unfre Lehrbücher der praktifchen
Theologie, z. B. Rietfchels Liturgik II, § 49, darltellen.
War das Hochluthertum ganz ohne Anknüpfungspunkte
in Luther? Man vgl. auch Lommatzfch, Luthers Lehre ufw.
1879, 5loff. Aber man muß doch nicht mit Behm das
Amt .tatfächlich Produzent der Gemeinde' nennen. Damit
hat er ja recht, daß die Gnadenmittel .nicht Ausdrucksmittel
des Chriftentums der Gemeinde find' (S. 35). Weil
fie aber .gottgegebenes Gemeingut der Gemeinde' (S. 19)
find, halte ich es für lutherifch, das Amt, durch das die
Gemeinde fich mit der ihnen .ureigenen Gottesmacht'
(S. 19) dienen läßt, als Erzeugnis der Gemeinde anzufehen,
als Projektion des allgemeinen Prieftertums auf einen einzelnen
Berufsftand. — Zur einfchlagenden Literatur gehören
auch Schlatters Abhandlungen über den chriftlichen
Dienft in feinen .Beiträgen' I, 1 (1897); IX, 6 (1905).

Leipzig. K. Thieme.

Sc hei er, Max: Über Relfentiment u. moralifches Werturteil.

Sonderdruck aus der Zeitfchrift f. Pathopfychologie.
I. Band. (103 S.) gr. 8°. Leipzig, W. Engelmann 1912.

M. 1.80

Unter R. verfteht der Verf. nach dem Vorgang von
Nietzfche eine Gefühlsreaktion, die durch Verdrängung
eines anderen Affektes zuftande kommt und eine be-
ftimmte Einftellung auf die Art des Werturteils zur Folge
hat. Die Ausgangspunkte für das R. find Affekte, wie
Rache, Neid, Schadenfreude und es ftellt einen feelifchen
Zuftand dar, bei dem das Bewußtfein des Anlaffes verloren
gegangen ift. Das Gefühl des R. haftet aber nicht
an einem beftimmten Gegenftand oder Erlebnis, fondern
richtet fich, wie beim Hämifchen oder Scheelfüchtigen
auf viele Wertmomente an Menfchen und Dingen; es
zeigt fich hauptfächlich bei dem Beftehen einer gewiffen
Ohnmacht und Verbiffenheit und bei Leuten in abhängigen
oder dienenden Stellungen oder bei Menfchen,
die durch einen körperlichen oder feelifchen Defekt oder
durch ein ungünftiges Schickfal ins Hinterteffen geraten
find. Bei allen diefen Zuftänden werden die aktivern
Affekte der Rache, des Neides, Grolles verdrängt durch
das Gefühl der Ohnmacht und Angft. Unter dem Einfluß
des R. vollzieht fich im Menfchen eine Umgeftaltung
des Weltbildes, indem er fich die Werte von Menfchen,
Begebenheiten und Dingen verfälfcht. Diefer pfycho-
logifche Faktor ift wichtig für das Verftändnis von Vorgängen
des praktifchen Lebens und der moralifchen An-
fchauungen einzelner Stände, wie gefchichtlicher Perioden.
In fehr intereffanten Ausführungen zeigt Vf., daß der R.
keine Rolle fpielt bei dem chriftlichen Liebesbegriff, daß
aber manchmal die Form der chriftlichen Liebe und
Selbftaufopferung das Gefühl des R. verbirgt, wofür er
z.B. die Novelle von Meyer: ,Der Heilige' anführt.

Chemnitz. Weber.