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Ausgabe:

1913 Nr. 10

Spalte:

305-306

Autor/Hrsg.:

Tschackert, Paul

Titel/Untertitel:

Dr. Eberhard Weidensee († 1547), Leben u. Schriften 1913

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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305

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 10.

306

Macht des neuen Geiftes, wenn man nicht nur in negativer
, fondern auch in pofitiver Weife ihm entgegentreten
zu müffen als Notwendigkeit erkannte.

Die vorliegende Studie führt uns in die letzten Regierungsjahre
des Herzogs, die vor allem folche Beftrebungen
zeitigten, durch Reformen den alten Glauben ficher zuftellen.
Sie find aber nicht fowohl ein Werk des Herzogs felbft,
als feines Minifters Georg von Carlowitz. Der Herzog
hätte fich nun und nimmer zu weitgehenden Zugeftänd-
niffen herbeigelaffen; zu feft war fein ganzes Denken und
Fühlen mit dem katholifchen Glauben verwachfen. Schon

bedeutfamer Stellung in Niederfachfen verbracht. Nachdem
er als Mitglied des Auguftiner-Chorherrenklofters
zu St. Johann vor Halberftadt in Leipzig ftudiert und
dann als Propft des Klofters zugleich das Pfarramt zu
St. Martin in Halberftadt verwaltet hatte, wurde er
lutherifcher Ketzerei verdächtigt; es wurde ihm der Prozeß
gemacht, und er entfloh nach Magdeburg. Hier wurde
er Pfarrer zu St. Jakobi, verheiratete fleh und betätigte
fleh eifrig im Kampf gegen die Franziskaner, die vor
allem die Sache der altgläubigen Partei in Magdeburg
führten. Von 1526—1533 war er Hofprediger des fpäteren

das Andenken an feine Mutter Sidonia mußte ihn davon j Königs Chriftian III. von Dänemark, damaligen Kronprinzen,
abhalten; denn wie diefe kannte er kein anderes Ziel, als ! in Hadersleben; von 1533 an bis zu feinem Tode Super

die Schuld des ketzerifchen Großvaters, des huffitifchen
Böhmenkönigs, möglichft zu fühnen. Seinen Reform-
verfuchen fehlt deswegen alle innere Kraft; er felbft
fchrickt vor ihrer Durchführung zurück. Anders Carlowitz
. Auch er teilte die Anfchauung des Herzogs, dem
Lande die Einigkeit des Glaubens erhalten zu müffen.
Aber zu fehr hatten ihn erasmianifche Gedanken ergriffen,
als daß er nicht von einer durchgreifenden Reform und
einem einigermaßen genügenden Entgegenkommen gegen
die neue Lehre überzeugt gewefen wäre. Staatsmann
durch und durch fcheute er vor keinem Mittel zurück
und ließ fleh durch keine Schwierigkeit abhalten, feine
Pläne zu verwirklichen. Nur der Tod feines Herzogs ließ
fie fcheitern, nachdem es ihm gelungen war, dasfelbe
Schickfal deffen Kirchenpolitik zu bereiten.

Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden;
wir haben vor uns eine tief eindringende Studie, die nicht
nur den äußeren Gang des Werdens fchildert, fondern
die Perfönlichkeiten in ihrem ganzen Denken und Handeln
uns verftändlich zu machen fucht. Ein feinfinniges pfycho-
logifches Verftändnis zeichnet vor allem den Verfaffer aus.
Aber hier liegt auch eine Gefahr, der er nicht ganz entgangen
ift. Bei derartigen Erörterungen ift man nur allzu
fehr in Verfuchung, das Mögliche und Wahrfcheinliche
als wirklich gelten zu laffen. Man kann die Schilderung
der Perfönlichkeit Herzogs Georg nicht lefen, ohne innerlich
ergriffen zu werden. Aber hält fie auch bei ernfter
Nachprüfung ftand und muß nicht vielmehr der Hiftoriker
fich mit einem non liquet begnügen?

Alfeld bei Hersbruck. Schornbaum.

Tschackert, Geh. Konfift.-R. Prof. D. Dr. Paul: Dr. Eberhard
Weidensee (f 1547), Leben u. Schriften. (Neue
Studien zur Gefch. der Theologie u. der Kirche. 12.)
(VIII, 104 S.) gr. 8°. Berlin, Trowitzfch u. Sohn 1911.

M. 3.80

Es ift bewundernswert, mit welcher Frifche und Energie
der verblichene Verfaffer in den etwa 20 Jahren feiner
Göttinger Wirkfamkeit fich in die Kirchengefchichte
Niederfachfens eingearbeitet hat. Er hat nicht nur immer
Vorlefungen aus dem Gebiet der niederfächfifchen Kirchengefchichte
gehalten, hat nicht nur niederfächfifche kirchen-
hiftorifche Studien gefördert und zu ihnen angeregt; er
hat auch eine ganze Reihe wertvoller Spezialarbeiten zur
niederfächfifchen Kirchengefchichte geliefert. U. a. hat er
(1897) das Leben des Göttinger Superintendenten Joh. Sütel
befchrieben, dann hat er — fein Hauptwerk auf diefem
Gebiet — zu deffen 4COjährigem Geburtstag das Leben
und den Briefwechfel des Ant. Corvinus herausgegeben,
endlich hat er dem Goslarer Superintendenten Joh. Amandus
und dem Hannoverfchen Reformator Autor Sander ein
biographifches Denkmal gefetzt. Die Studien, die er
Sütel und Amandus gewidmet, haben ihn dann auch wohl
zu unferer Biographie geführt, die er kurz vor feinem Tode
noch vollendet hat.

Eberhard Weidenfee ift wahrfcheinlich auch von Geburt
Niederfachfe; er foll in Hildesheim geboren fein.
Jedenfalls hat er die letzten 14 Jahre feines Lebens in

intendent in Goslar. Namentlich als folcher hat er eine
bedeutfame Rolle in der Reformationsgefchichte gefpielt.

In dem Leben aller Reformatoren tritt das polemifche
Element naturgemäß ftark hervor; vielleicht bei Weidenfee
befonders ftark; von den 12 Schriften, die wir von
ihm kennen, trägt mehr als die Hälfte polemifchenCharakter,
zum weitaus größeften Teil antirömifchen; eine Schrift, in
Hadersleben gefchrieben, ift gegen Melchior Hoffmann
gerichtet. Vielleicht hat der kräftig antirömifche Zug den
Verfaffer der .Evangel. Polemik' befonders angezogen.
Dennoch hätte er ihm nicht den breiten Raum in der
Lebensgefchichte gewähren follen, den er ihm gewährt
hat. Die aufbauende Tätigkeit Weidenfees tritt ftark zurück
, und man gewinnt von feinem Leben zu fehr den
Eindruck, daß es in Hader und Streit verlaufen ift. Wenn
nicht direkt über Weidenfee die Quellen floffen, fo konnten
die allgemeinen Verhältniffe, fpeziell Goslars, aus der
letzten Lebenszeit des Mannes doch am Ende noch
Material gewähren. Eine derartige Ausgeftaltung der
Lebensgefchichte hätte mehr angefprochen, als wenn jetzt
die Biographie in eine Reformationsgefchichte Goslars
bis zum Paffauer Vertrage ausläuft; ein folcher Ausblick
konnte das Buch fchließen, durfte aber nicht in die Darfteilung
des Lebens fich eindrängen; diefes mußte zuvor
mit der Schilderung der Lage, wie Weidenfee bei feinem
Tode (1547) fie vor Augen hatte, feinen klaren Abfchluß
erreichen. Der Tätigkeit Weidenfees bei der Reformation
in Bockenem (1541?), zu der wenigftens klar zu ftellen gewefen
wäre, wie der quellenmäßige Bericht aus dem Jahre
1542 (Kayfer, Kirchenvifitationen S. 69 ff.) fich zu ihr verhält
, und der Schrift .Brevis recensio actorum visitationum
et reformationis eccles. Cimbricarum' (Dreyer, not. libror.
manuscript., Wism. 1759, S. LVII) wäre am Ende doch
noch mehr nachzugehn gewefen; daß nach forgfältigem
Suchen Tfchackert die unter Nr. IX im Verzeichnis (S. 96 f.)
aufgeführte Schrift (die oben erwähnte gegen Melchior
Hoffmann) in einem letzten Exemplar noch in der Königl.
Bibliothek in Kopenhagen aufgefunden hat, läßt die Hoffnung
nicht fchwinden, daß auch jene,Brevis recensio' noch
irgendwo verborgen liegt, und fie könnte über die Haders-
lebener Tätigkeit Weidenfees noch Nachricht geben.

Hätte nicht fchon Krankheit dem verehrten Verfaffer
die Hand gefchwächt, gewiß wäre manches in der Schrift
vollkommener geraten. Aber auch fo empfangen wir
dankbar diefe letzte Arbeit des Entfchlafenen als einen
Gruß über das Grab hinaus.

Jlfeld a. H. Ferdinand Cohrs.

Troeltfch, DD. Ernft: Die Bedeutung des Proteftantismus
für die Entitehung der modernen Welt. (Hiftorifche Bibliothek
. 24.Bd.) (103 S.) 8°. München, R. Oldenbourg
1911. Kart. M. 2.80

Der am 9. deutfehen Hiftorikertag gehaltene Vortrag
erfcheint hier in zweiter, um mehr als die Hälfte vermehrter
Auflage. Der ftarke Zuwachs ift weniger durch die Angriffe
und Einwände gegen den Text der erften Auflage
verurfacht (Troeltfch berückfichtigt in den Anmerkungen
fipeziell Loofs und Rachfahl) als durch die eigenen weiterführenden
Studien des Verfaffers, aus denen inzwifchen