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Ausgabe:

1913 Nr. 9

Spalte:

276-277

Autor/Hrsg.:

Temple, William

Titel/Untertitel:

The Kingdom of God 1913

Rezensent:

Hoffmann, Richard Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 9.

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,Entlaftung' dienen, befpricht ferner im gleichen Sinne das
außerpreußifche Deutfchland und andere Länder, kommt
(unter VI) auf Proftitution und Gefchlechtskrankheiten,
auf die Zahl der ehelichen Geburten (VII), endlich auf
Ehefcheidungen (VIII), ein Gebiet, ,auf dem fich Zahlen
ergeben, die, wenn fie wirklich beweiskräftig wären, den
Einfluß des Proteftantismus in der Tat in ein fchlechtes
Licht fetzen würden.' Verf. meint: um die wirkliche Zerrüttung
der Ehen zu beweifen, müßte eine Statiftik der getrennt
lebenden Ehegatten neben der Ehefcheidungs-Stati-
ftik einhergehen. Ich bemerke dazu, daß auch diefe nur ein
Symptom bedeuten würde. Und wenn er meint, es fei als
ficher anzunehmen, daß auf katholifcher Seite die Zahl
der Separirten größer fei, fo möchte ich mit großer fub-
jektiver Gewißheit das Gegenteil behaupten. Ähnlich wie
die Ehefcheidung, betrachtet Verf. natürlich denSelbftmord.
Nur als ein äußerft relativer Gradmeffer, und auch das nur
im Zufammenhang mit der gefamten Kulturentwicklung
und dem Volkscharakter, könne die Selbftmordzahl ange-
fehen werden; fie fei als Maßftab noch weniger geeignet als
andere einzelne moralftatiftifche Zahlen. Weniger als die
der Strafprozeffe etwa wegen Hausfriedensbruch, Beleidigung
, leichter Körperverletzung — auch die ,gefähr- ,
liehe' ift zum großen Teil viel harmlofer, als die Delikte
find, die unfere Studierenden fich fortwährend ungeftraft
zu Schulden kommen laffen — Sachbefchädigung u. a.,
um von den Vergehungen gegen Sonntagsruhe u. dgl.
zu fchweigenf — Die Moralftatiftik ift eine Eisfläche, auf
der Viele zu Falle kommen. P. Forberg bewegt fich
darauf nicht ohne Gefchick, er hat die Kunft erlernt und
läßt es im allgemeinen bei ihrer Anwendung an der
nötigen Vorficht nicht fehlen. Daß er dennoch nicht
immer mit genügender Kritik verfährt, ift offenbar zum
guten Teile durch die polemifche Abficht verfchuldet.
Ein treffendes Urteil begegnet auf der letzten Seite (92).
Es heißt dort: ,Die Proteftanten zeigen im allgemeinen
mehr die Vorzüge wie die Fehler, die durch die moderne
Entwicklung des geiftigen wie des wirtfchaftlich-fozialen
Lebens begründet find, während die Katholiken mehr die
Vorzüge wie die Fehler der von der modernen Entwicklung
noch weniger erfaßten Kulturperiode aufweifen'.
Ich glaube, wenn Verf. von diefem Satze ausgegangen
wäre, fo hätte fein fchätzbarer Fleiß noch reinere Er-
gebniffe gezeitigt.

Auch das zweite Schriftchen ift verdienftlich. Schon
das Vorwort bekundet eine finnreiche Würdigung der
.Zahlenwüften der Statiftik'. Der Text handelt von
Stammesmifchung, Bevölkerungsdichte, Beruf und Einkommen
, Altersaufbau, Zahl der Frauen; fodann von
Straffälligkeit; unehelichen Geburten; Rückgang der Geburtenzahl
; Proftitution, Gefchlechtskrankheiten, Unzuchtsverbrechen
; Ehefcheidungen; Selbftmord; Trunkfucht;
endlich von kirchlicher Sitte, religiöfer Bewegung, kirchlichen
und wohltätigen Stiftungen und Sammlungen. Als
Gefamtergebnis wird feftgeftellt (S. 53): Sachfen zeige auf
der Grundlage eines Ruhe und Ordnung, Betriebfamkeit
und Vermittelung aller Gegenfätze liebenden, weichen,
verftändigen und gefitteten Volkscharakters, die typifchen
moralftatiftifchen Erfcheinungen eines in der modernen
kulturellen und wirtfchaftlich-fozialen Entwicklung weit
vorgefchrittenen Landes. Schade für die Anwälte oft-
elbifchen Geiftes, daß dies Land mit feinen fozialdemo-
kratifchen Mehrheiten fich nicht als ein Abgrund der
Sittenlofigkeit und Verwilderung darfteilen läßt. — Die
Tätigkeit eines Geiftlichen auf diefem Gebiete möge mit
Genugtuung begrüßt werden. Seit dem herrlichen Johann
Peter Süßmilch haben nicht wenige Theologen den Wert
und die Reize diefer Volksforfchung empfunden. Auch
im 19. Jahrhundert hat ein Theologe, Alexander von Oet-
tingen, mit bewunderungswürdigem Fleiße um die Moralftatiftik
fich Mühe gegeben. Schon durch treue Einzelbeobachtung
ihrer Kirchfpiele könnten manche — dafür
begabte — Pfarrer unfere immer noch fehr mangelhafte

Erkenntnis des wirklichen Volkslebens erheblich bereichern
, zumal wenn fie dabei ftreng auf Feftftellung
von Tatfachen, oder doch auf fchärffte Unterfcheidung
von Tatfachen und Schlüffen, ihre Aufmerkfamkeit richten
wollten. Denen, die zu folchen Studien geneigt find,
können beide wohlfeile Werkchen Forbergers aufs befte
zur Einführung und Förderung empfohlen werden.

Eutin. Ferdinand Tön nies.

Temple, William: The Kingdom of God. A course of four
Lectures, delivered at Cambridge during the Lent Term,
1912. (V, 144 S.) kl 8°. London, Macmillan & Co. 1912.

s. 2. 6

Verf. ift in diefen Vorlefungen bemüht, gewiffe re-
ligiös-fittliche Grundgedanken des Chrifitentums, auf die
er befonderen Wert legt, feinen Zuhörern in fchlichter,
anfprechender Weife darzulegen. Der erfte Abfchnitt ift
biblifch-theologifcher Natur und befchäftigt fich mit der
Gründung des Gottesreiches (S. 1—39). Dabei geht es
freilich ohne mancherlei Umdeutungen und Spirituali-
fierungen nicht ab. Leben und Lehren Jefu hätten Israel
nicht überzeugt, deshalb fuche er es durch feinen Liebestod
am Kreuz zu gewinnen. Auf Grund diefes Opfertodes
wolle er das Gottesreich in den Herzen feiner
Gläubigen begründen. Sein .Kommen in Herrlichkeit' fei
mit diefer Gründung identifch.

Stellen wie Matth. 12, 28 find hier außer Acht geladen. In feinen
Heilungswundern fieht Jefus in Wirklichkeit die Gegenwart des Gottesreiches
gewiihrleiftet. Zwar foll über diefelben Stillfchweigen bewahrt
werden; aber nicht, weil fie ihm in keinem organifchen Zufammenhangc
mit feinem Heilandswerk ftehn, fondern weil er Meffias im Verborgenen
fein will.

Ein zweiter Vortrag:Religion undEthikS.40—66
ift energifch bemüht, die Selbftändigkeit der fittlichen Vernunft
gegenüber der Religion darzutun. Das fittliche
Ideal bedarf aber, führt T. aus, zu feiner Verwirklichung
der Hilfe des Glaubens. Denn die moralifche Umkehr
wird nur durch das Bewußtfein bewirkt, daß die Sünde,
die Jefum ans Kreuz gebracht, auch unfere Sünde ift,
und daß wir uns gegen den Böfe und Gute liebenden
Gott verfündigt, den ,Verrat eines Freundes' an ihm begangen
haben.

Zu dritt wird das Verhältnis des Gottesreiches zur
Welt beleuchtet (S. 67—100), die Miffionspflicht der
Chriften betont, aber auch die möglichfte Verchriftlichung
der Gefellfchaft, in der wir leben, als fittliches Ziel hin-
geftellt. Verf. zeigt die große Bedeutung des öffentlichen
Urteils und der fozialen Einrichtungen für den Stand der
Sittlichkeit. Er fchlägt fich ehrlich mit der Frage herum,
ob und inwieweit gegenüber den ftrengen moralifchen
Forderungen des Chriftentums Kompromiffe mit der
Welt ftatthaft find. Wo es fich um Politik, Krieg, Ehe-
gefetze, um den Konkurrenzkampf des kaufmännifchen
Lebens handelt, kommt man nach feiner Anficht ohne
folche Kompromiffe nicht aus. Was den Krieg anlangt,
fo meint er freilich, eine völlig chriftliche Nation würde
fich weigern zu kämpfen, auch fich felbft zu verteidigen,
in dem Falle, daß nur ihr eigenes Intereffe dabei auf dem
Spiel ftände (S. 91). In der Ehegefetzgebung plädiert
er dafür, daß zwar nicht der Staat, wohl aber die Kirche
den ftrengen idealen Standpunkt vertrete, ein Meffen mit
zweierlei Maß, das ich für fehr bedenklich halte.

Der vierte Vortrag bringt eine zumeift freilich nur
fkizzenhafte Auseinanderfetzung mit außerchriftlichen
Weltanfchauungen (S. 101—130). Des ,abfoluten Idealismus
' Bradleys wird gedacht, mit dem Einwand, daß er

i den Wert des Guten nicht fcharf genug vertrete, ferner
der Nietzfchefchen Lehre vom Übermenfchen, — einer

; ,rein äfthetifchen Anfchauung' (S. in). Nietzfche felber
fucht T. als eine Synthefe von Schopenhauer und Darwin
fich verftändlich zu machen. SodannwirdBernardShaw

' erwähnt, der in feinen Dramen auf Geiftesklarheit dringt

! und an die großen heroifchen Leidenfchaften nicht glauben