Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1913 Nr. 9

Spalte:

273-274

Autor/Hrsg.:

Drews, Arthur

Titel/Untertitel:

Die Philosophie im ersten Drittel des 19. Jahrh 1913

Rezensent:

Dorner, August

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

273

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 9.

274

Seiten hin. Das muß man ilch gegenüber einer folchen
Darfteilung doch immer wieder eingeftehen.

Eine andere intereffante Beobachtung gewährt das j
Buch durch feine ftarke Heranziehung amerikanifcher Ver- 1
hältniffe. Es zeigt die ungeheure Macht der Orthodoxie j
über die dortige Gefellfchaft, die noch vor 25 Jahren eine j
von denominationeilen Einflüffen freie, rein wiffenfchaft-
liche Hochfchule überhaupt nicht aufkommen laffen wollte,
aber auch die außerordentlichen Fortfehritte einer modern
wiffenfehaftlichen Denkweife in den letzten Dezennien.
Intereffant ift ferner, daß diefe wiffenfehaftlichen Kreife
einem der neuen Lage angepaßten humanitären Chriften-
tum fehr viel zugänglicher find als die unferigen. Ihnen
fcheint Humanität, Demokratie, Menfchenwürde und Fort-
fchritt eng verbündet mit einer folchen Chriftlichkeit.

Heidelberg. Troeltfch.

Drews, Prof. Arthur: Die Philofophie im erften Drittel des
19. Jahrh. (Gefchichte der Philofophie VI.) (Sammlung
Göfchen 571.) (120 S.) kl. 8°. Leipzig, G.J. Göfchen 1912.

Geb. M. —80

Der Verfaffer behandelt hier in aller Kürze die haupt-
fächlichften Philofophen der angegebenen Zeit. Von Kant
ausgehend, der eine Metaphyfik, nicht als Wiffenfchaft
vom Transzendenten, fondern von den immanenten aprio-
rifchen Bedingungen des Bewußtfeinsinhalts wolle, fo
daß es nur eine apriorifche und apodiktifche Erkenntnis
der fubjektiven apriorifchen Vorausfetzungen der Erkenntnis
gebe, fucht er zu zeigen, wie Schiller den Dualismus
zwifchen Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und
Freiheit äfthetifch ausgleichen wollte, wie ebenfo die
Glaubensphilofophen namentlich Hamann und Herder
diefen Dualismus zu befeitigen fuchten, letzterer durch
eine Kombination von Lockefchem Senfualismus, Spino-
zifchem Pantheismus und Leibnitzifchem Individualismus
zu einem widerfpruchsvollen Perfönlichkeitspanthe-
ismus. In der Gefchichtsphilofophie habe Herder Sendling
und Hegel vorgearbeitet. Ebenfo fucht Jakobi die
Schwierigkeit des Kantfchen Dinges an fich durch das
Erleben der Wirklichkeit im Glauben und Gefühl zu überwinden
. Befonders eingehend behandelt Drews Fichte,
Schelling und Hegel und fucht zu zeigen, daß mit der
Uberwindung des Kantfchen Dinges an fich Fichte die
deutfehe Philofophie über fich felbft hinausgeführt habe.
Wenn er in feiner Darftellung von Schelling einen /Bruch'
in deffen Philofophie annimmt, fo fcheint es mir fraglich,
ob man das wirklich behaupten kann, ob nicht die fpätere
Philofophie Schellings feit der Freiheitslehre, insbefondere
feine Potenzenlehre, doch in der Hauptfache die kon-
fequente Fortfetzung der früheren war. Hegels Philofophie
fieht er als die konfequentefte Fortbildung an, die der transzendentale
Idealismus Kants auf dem Wege über Fichte
und Schelling erhalten habe, zugleich der grandiofe Ab-
fchluß jener ganzen rationaliftifchen Gedankenrichtung,
die feit Plato fich um eine Erkenntnis der Wirklichkeit
aus reiner Vernunft und darum von apodiktifcher Gewißheit
bemüht hat. Schleiermacher habe zuerft auf apodiktifche
Gewißheit der Wirklichkeitserkenntnis verzichtet
und die Identitätsphilofophie eigenartig fortgebildet,
infofern zwar die Identität des Realen und Idealen anerkannt
wird, diefe ihm aber doch eine unvollziehbare Idee
bleibt, weil unfer Denken an die organifche Tätigkeit
gebunden fei. Gott bleibt feinem Wefen nach unbe-
ftimmbar. Gottes Wirksamkeit dagegen fei die natur-
gefetzlich beftimmte Wirklichkeit. Er habe diefen anti- |
chriftlichen fpinozifchen Pantheismus mit den Anfchau- j
ungen chriftlicherDogmatik in fcheinbareÜbereinftimmung
bringen wollen. Auf der anderen Seite erkennt er Schleier-
rnachers Bedeutung in der Religionsphilofophie an, macht
ihn aber zum Urheber der modernen gefchichtlichen
Jefusromantik. In Kraufe und Herbart findet er eine
rückläufige Bewegung von der Identitätsphilofophie zur

Philofophie der Aufklärung, befpricht dann noch den
Pfychologismus von Fries und Benecke, um fchließlich
Schopenhauer unter allen Philofophen diefesZeitabfchnitr.es
die Palme zu reichen. In der Würdigung des tiefften
Wefens der Religion, insbefondere des Erlöfungsbegriftes
und der peffimiftifchen Vorausfetzungen des religiöfen
Bewußtfeins, übertreffe Schopenhauer alle Philofophen der
erften Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, insbefondere
auch deshalb, weil er den Theismus der pofitiven Religionen
bekämpfe und mit der ganzen chriftlichen Religionsentwicklung
breche, womit er nach Hartmann eine neue
Epoche in der Kulturgefchichte der europäifchen Völker
inauguriert und der pantheiftifchen Philofophie dadurch
erft die Augen über die Schärfe ihres Gegenfatzes zu
aller theiftifchen Philofophie geöffnet habe. Kurz, Drews
beurteilt die Entwicklung diefes Abfchnitts der Gefchichte
der Philofophie von feinem bekannten religionsphilofo-
phifchen Standpunkt aus, den ich feinerzeit eingehend
in der Zeitfchrift für Miffionskunde und Religionswiffen-
fchaft 1906 H. 7 u. 8 und in der Zeitfchrift für Philofophie
und philof. Kritik, Bd. 105. S. 36 f. beurteilt habe, was
hier zu wiederholen der Raum verbietet.

Königsberg i. Pr. Dorne r.

Forberger, Paft. Johs.: Moralftatiftik u. Konfeffion. (Flug-
fchriften des Ev. Bundes Nr. 315—317.) (93 S.) 8°.
Halle 1911. Berlin, Verl. des Ev. Bundes. M. l —

— Moralftatiftik des Königr. Sachfen. (53 S.) 8«. Ebd. 1912.

M. — 80

Die erfte Schrift behandelt nach kurzer Einleitung
I. Kriminalität und Konfeffion, 2. Ehe und Konfeffion,
3. Selbftmord und Konfeffion. Sie ift polemifch gehalten,
und zwar apologetifch, befonders gegen Behauptungen,
die von dem tüchtigen Statiftiker Krofe S. J., ausgehen.
Sie glaubt beweifen zu können, daß die Proteftanten, wie
fie in wirtfehaftlicher und kultureller Beziehung den
Katholiken unzweifelhaft überlegen feien, fo auf dem
Gebiete der Kriminalität, in Deutfchland fowohl als in
anderen Ländern günftiger ftehen. Ebenfo gelangt der
Verf. zu verhältnismäßig günftigen Schlüffen in der
zweiten Betrachtung, und wenn er in der dritten nicht
leugnen kann, daß der Selbftmord bei den Proteftanten
im allgemeinen häufiger, vielfach weit häufiger ift, fo
glaubt er die Urfache vor allem in Volkstum, Bildung,
Beruf, Wohnort, wirtfchaftlich-fozialerEntwickelung fuchen
zu dürfen; da außerdem der Selbftmord fehr oft durch
Geifteskrankheit verurfacht werde, fo fei ein moralftatifti-
fcher Vergleich nur von fehr bedingtem Werte. ,Für alle
moralftatiftifchen Zahlen, die bei einem Vergleiche der
Proteftanten und der Katholiken in Frage kommen, gilt
der Satz: Wenn man, wie gerechterweife notwendig ift,
die einflußreichen Faktoren des Wohnortes, des Berufes,
der Kinderzahl ufw. mit berückfichtigt, fo ergibt fich,
daß die Proteftanten auf allen Gebieten der Sittlichkeit
viel günftiger ftehen, als es nach den bloßen Ge-
famtzahlen fcheint' (S. 91). Nach den bloßen Ge-
famtzahlen darf man überhaupt nicht urteilen, und der
Verf. tut es immer noch zu fehr. Wenn er S. 32 den
,Einfluß' der Konfeffion auf die Kriminalität aus den
Daten des deutfehen Reiches, und 32/34 fogar auch aus
denen von Öfterreich-Ungarn bewiefen zu haben glaubt,
fo ift er im Irrtum. Wenn er fonft im ganzen mit Einficht
die verfchiedenen Faktoren analyfiert, fo ift doch
ein richtiges Urteil über die rohen Zahlen noch fchwie-
riger als er glaubt. Auch ift die Erörterung S. 36, wie
weit die Kriminalftatiftik als Maßftab der Sittlichkeit
gelten könne, nicht ausreichend. — In dem Abfchnitte
über uneheliche Geburten in Preußen ftellt Verf. einen
auffallenden, aber durch die amtliche Statiftik verfchul-
deten Irrtum Krofes feft. Er ,erklärt' fodann die Mehr-
belaftung der Proteftanten durch Umftände, die zu deren