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Ausgabe:

1913 Nr. 9

Spalte:

271-273

Autor/Hrsg.:

White, Andrew Dickson

Titel/Untertitel:

Geschichte der Fehde zwischen Wissenschaft und Theologie in der Christenheit 1913

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 9.

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kürzlich fein Lehrer Hamann durch Unger erfahren hat,
fo tritt der Fortfehritt über die Linie der Hettner und
Gervinus hinaus erfreulich zutage.

Allein am Ziele find wir noch nicht. Auch K. dringt
nicht tief genug in das eigentümliche Innenleben der
Religion Herders und in die religiös-theologifche Gefamt-
entwicklung der Zeit ein. Um nur den wichtigften Punkt
herauszugreifen: K. verkennt wohl unter dem Banne
deffen, was er felbft als das Ideal der Religion betrachtet,
die ganze religiös-theologifche Fehlentwicklung Herders.
Überall fonft weiß er trefflich zu zeigen, daß Herder
nicht vermocht hat, die Fülle feiner Gefichte einheitlich
zu geftalten, und daß er auf eine abfteigende Linie der
Entwicklung gerät, indem er feine Gedanken moraliftifch
und metaphyfifch begründet. Was hätte näher gelegen,
als unter diefem Gefichtspunkt die religiöfe Entwicklung
Herders zu prüfen? Was fein ganzes Leben durchzieht,
das wird auch in dem religiöfen Nerv diefes Lebens
nicht fehlen. Tatfächlich zeigt fchon Herders Jugend
zwei Elemente in unklarer Spannung: das der gefchicht-
lichen und das der äfthetifch-pantheiftifchen Frömmigkeit.
Im Bückeburger Sturm und Drang fiegt das erfte; aber
es gelingt nicht, feinen Gehalt klar zu erfaffen, ihn durch
die wahrhaft religiöfen Motive der zweiten organifch zu
bereichern oder gar in fieghafte Formen zu prägen. So
behalten die Errungenfchaften diefer Zeit etwas Zufälliges.
Darum wird auch nur ein Teil davon hinübergerettet in
die Weimarer Jahre; im allgemeinen tritt jetzt ohne innere
Notwendigkeit und wiederum ohne klares Bewußtfein das
gefchichtlicheElement hinter einer äfthetifch-pantheiftifchen
Metaphyfik zurück, und eine moraliftifche Wendung trübt
ebenfo diefe wie den Reft der früheren gefchichtlich-felb-
ftändigen Frömmigkeit. Die vielgepriesene Humanitätsreligion
des alternden Herder ift alfo keineswegs der Inbegriff
oder Höhepunkt feiner religiöfen Entwicklung: fie
bedeutet vielmehr eine Vereinfeitigung und Ermattung.
Darum ftehen Schleiermachers Reden nicht fo fehr mit
den etwa gleichzeitigen, äußerlich reifften Schriften Herders
in gefchichtlichem Zufammenhang, als vielmehr mit den
gärungsreichen Werken des Pfarrers von Bückeburg.
Diefe Entwicklung müßte gerade in einem Buche wie dem
K.s fcharf herausgearbeitet und mit der Gefamtentwick-
lung des Helden verbunden werden. Wenn er in der
dritten Auflage feines Buches, die hoffentlich rafch folgen
wird, auf diefe Fragen einginge, fo könnte er fich den
Dank der theologifchen Herderfreunde in noch reicherem
Maße erwerben. Aber diefer Wunfeh foll in keiner Weife
den Dank fchmälern, den wir ihm fchon jetzt fchulden;
ein tieferes Verftändnis Herders im Rahmen der religiös-
theologifchen Gefamtentwicklung ift felbft unter den Theologen
noch fo oft zu vermiffen, daß es von Nichttheologen
unmöglich gefordert werden kann.

Im übrigen würde K. feinem Werke wahrfcheinlich
breitere Kreife erobern, wenn er den gegenüber der erften
Auflage verdoppelten Umfang bei der nächften wieder
befchränkte. Es ift gewiß wertvoll, daß wir jetzt einen
weit reicheren objektiven Stoff als früher und einen um-
faffenderen Einblick in das ganze Werden des deutfehen
Idealismus erhalten. Diefe Bereicherung muß zweifellos
erhalten bleiben. Allein das Werk hat zu fehr den Charakter
einer gewaltigen Predigt, als daß man leicht 613
Seiten vertragen könnte. Und eine Kürzung ift m. E.
ohne Schädigung des Inhalts möglich: fie müßte die zuweilen
recht wortreiche und blühende Sprache, aber auch
manche Inhaltsfkizze ins Auge faffen.

Marburg a. d. L. Horft Stephan.

White, Prof. Dr. Andrew Dickson, LL.D., L.H.D., D.C.L.
Gefchichte der Fehde zwifchen Wiffenrchaft und Theologie
in der Chriftenheit. Autorifierte Überfetzg. nach der vom

Verf. dazu verb. 16. Aufl. von C. M. v. Unruh. Bd. I.
(357 S.) 8°. Leipzig, Th. Thomas (1911).

M. 4.80; geb. M. 6 —

Das Buch von White, dem feiner Zeit vielgenannten
amerikanifchen Gefandten in Berlin, ift von der ,deutfchen
naturwiffenfchaftlichen Gefellfchaft' dem deutfehen Publikum
zugänglich gemacht worden als glänzendes Mittel der
Aufklärung über den Gegenfatz des alten theologifchen
Denkens und des modernen naturwiffenfchaftlichen und
hiftorifchen Denkens und über die Entftehung der modernen
Wiffenfchaft. Es eignet fich dazu noch überdies
befonders gut, weil es fern von jedem antichriftlichen
Radikalismus das eigentliche Wefen der chriftlichen
Frömmigkeit mit großer Hochachtung behandelt. Es hat
bereits in Amerika diefen Dienft in 16 Auflagen geleiftet,
und es wäre fehr zu wünfehen, daß es bei uns in den
Kreifen, die es noch nötig haben, die gleiche Wirkung
ausübe. Freilich ift das fchwierig, denn bei uns hat man
eine eigentümliche Art, fich diefe Dinge vom Leibe zu
halten. Man fagt, die Bibel fei kein phyfikalifches ufw.
Lehrbuch und fchränkt die Beeinfluffüng der profanen
Natur- und Gefchichtswiffenfchaft durch die Bibel möglichft
ein, bekümmert fich aber um deren pofitive Bedeutung
und Wirkung gar nicht und ftellt die Heilslehre dar, als
ob es keine profanen Natur- und Gefchichtswiffenfchaft
gäbe oder als ob fie keinerlei Konfequenzen hätten. Gegen
diefe den einigermaßen Gebildeten am meiften befremdende
und abflößende Art könnte das Buch trefflich Abhilfe
bringen.

Es ftellt mit einer Staunenswerten Belefenheit und
Weltkenntnis überall den Weg von der fakralen Lehre
über Schöpfung, Geographie, Aftronomie, Geologie, Ethnologie
, Anthroplogie, Meteorologie, Urgefchichte ufw. zu den
modernen wiffenfehaftlichen Erkenntniffen dar. Überall
zeigt es den zähen Widerftand der Kirchen beider Kon-
feffionen gegen den wiffenfehaftlichen Geift und die Mißhandlung
der Forfcher bis zum Durchbruch der wiffenfehaftlichen
Methode. Auch zeigt es, wie diefe fakrale
Wiffenfchaft einen Bruch mit den von der Antike bereits
erreichten Erkenntniffen bedeutete und mit der Entwertung
alles Irdifchen durch das alte Chriftentum ebenfo zufammen-
hängt wie mit deren Anklammerung an die biblifche
Autorität. Das Bild wirkt in feiner Totalität erfchreckend
und erfchütternd auch auf den, der das Alles wenigftens
im Allgemeinen fchon weiß.

Für den rein wiffenfehaftlich denkenden Menfchen
gibt das Buch überdies eine fehr anfehauliche Erkenntnis.
Die ,fakrale Wiffenfchaft' beider Konfeffionen entflammt
nicht dem wiffenfehaftlichen Geifte, fondern in ihrem Stoff
dem antiken mythifchen Denken des Orients und Okzidents
fowie den in die Bibel übergegangenen mythifchen Elementen
. Diefes mythifche Denken ift dann zunehmend
mit ariftotelifchem Wiffen kombiniert werden. Aber Wiffenfchaft
konnte aus diefer Kombination auch nicht in dem
Sinne entftehen, wie das Denken des Ariftoteles Wiffenfchaft
gewefen war, weil die Grundfätze der Bearbeitung
gänzlich äußerlicheundformaliftifchelogifcheSchematafind.
Wiffenfchaft entftand erft, wo man das Schlechthin Gegebene
nicht mehr dem Mythus und der Bibel, fondern der Erfahrung
und Beobachtung entnahm und wo man den Zufammenhang
des Gegebenen aus Prinzipien im Gedanken
nachzuerzeugen verfuchte, d. h. wo man kritifche Beobachtung
und konftruktive Hervorbringung des Ganzen
aus dem Gedanken vereinigte. Descartes und Galilei find
erft die Ausgangspunkte einer der Antike wieder gleichkommenden
und über fie hinausführenden Wiffenfchaft.
Die kirchliche Zwifchenperiode kannte nur den äußerlich
logifch arrangierten Mythos. Das war in vieler Hinficht
poetifcher und der Entfaltung tiefer Innerlichkeiten gün-
ftiger, aber als gewaltfam behauptetes Syftem war es doch
ein entfetzlicher Geiftesdruck und eine furchtbare Hemmung
der menfehlichen Entwickelung nach vielen wichtigen