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Ausgabe:

1913 Nr. 8

Spalte:

248-250

Autor/Hrsg.:

Stange, Carl

Titel/Untertitel:

Christentum und moderne Weltanschauung 1913

Rezensent:

Stephan, Horst

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247 Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 8. 248

Stange, Prof. D. Carl: Chrittentum und moderne Welt-
anfchauung. (IV, 115 S.) 8". Leipzig, A. Deichert Nachf.
I911- M. 2—; geb. M. 2.50

Rein formal betrachtet, fleht die vorliegende Schrift
auf der wiffenfchaftlichen Höhe, die wir längft von den
Arbeiten ihres Verfaffers gewöhnt find. Vor allem bezeugt
er auch hier feine philofophifche Schulung und
durchdringende Energie des Denkens fowie feine Selb-
ftändigkeit in der Auffaffung der Probleme. Inhaltlich
findet Referent manche Erörterung unwiderleglich; fo, um
ein wichtiges Beifpiel zu nennen, die Kritik an der Schleier-
macherfchen Verwertung des fchlechthinigen Abhängigkeitsgefühls
als der umfaffenden Formel für das Wefen
der Religion (S. 52 ff.). Doch möchte ich hier keine Einzelheiten
heranziehen, ebenfowenig zuftimmend wie polemifch,
wozu allerdings die Wiederholung mancher, aus St.s Anti-
kaftan bekannter Urteile u. a. kräftig reizt.

Faßt man vielmehr das Ganze ins Auge, fo bietet
St. hier ein Mufterbeifpiel für die Tatfache, daß die Entwicklung
der theologifchen Wiffenfchaft weder in ihren
Fortfehritten noch in ihren Irrgängen an den Grenzen
der ,Richtungen' Haltmacht. Seine Schrift, die den in feiner
Knappheit schwer verftändlichen ,Grundriß der Religions-
philofophie' (1907) erläutern foll, behandelt die neuerdings
fo ftark betonten Probleme, die aus dem Verhältnis des
Beweisführung fortfehreitende und doch von edler Wärme | Chriftentums zu den andern Religionen und zu der rao-
getragene Darfteilung deffen, was man in der Regel als j dernen Entfaltung der übrigen Geiftesgebiete notwendig
.Einleitung in die Philofophie' bezeichnet. Die erften Vor- erwachfen, aber von den älteren Richtungen ungenügend ge-
lefungen behandeln den Begriff der Philofophie, die nach würdigt worden find. Infofern fpiegelt fie einen bedeut-
der fubjektiven Seite als .Wiffenfchaft der freien Erkennt- famen Fortfehritt der neueren Theologie und kann ver-
niffe', nach der objektiven als .Wiffenfchaft von den Ge- ! dienftvoll wirken, indem fie brennende Fragen klären und

auch nach der Verkürzung zu einem Band zum Teil
noch bleibenden Breite von eigenartiger Wirkung. Wir
atmen den Geift einer großen Zeit und wir treten einer
edlen Perfönlichkeit nahe, welche mitten in diefer Zeit
flehend, iür ihre Ideale des Wahren, Guten und Schönen
kämpft und für eine freie ftaatliche Gemeinfchaft eintritt,
in welcher Wohlftand, Geiftesbildung und Gerechtigkeit
herrfchen. ,Vergleiche die Refultate unterer Betrachtungen',
fagt Evagoras. ,Was ift das Wefen der fittlichen Ideen?
Reine Kraft des Geithes. Was ift die Idee der Wahrheit?
Geiftesfelbftvertrauen. Was der Grundgedanke der reli-
giöfen Gefühle? Selbftändigkeit des Menfchengeift.es. Was
ift endlich das Erhabene? Seelengröße. — Und das Schöne ?
Reine Erfcheinung des geiftigen Lebens!' (S. 104h Der
Zwiefpalt zwifchen Wiffen und Glauben, zwifchen der
naturgefetzüchen Erfcheinungswelt und der Welt der
ewigen Wahrheit löft fich in der .Ahndung', die uns im
Gefühl ohne Begriff ,das Durchfcheinen' jener höheren
Welt durch die endliche Welt erleben läßt (vgl. befonders
S. 442 ff).

Heinrich Schmid, deffen Vorlelungen über das
Wefen der Philofophie R. Otto neu herausgegeben hat,
war 1830 bis 1836 außerordentlicher Profeffor der Philofophie
in Heidelberg. Das Buch erfchien zuerft im Jahre
1836, dem Jahre feines Todes. Es gibt eine klare, von
nicht gewöhnlichem Lehrgefchick zeugende, in gefchloffener

fetzen und Bedingungen der menfehlichen Erkenntnis' be-
ftimmt wird, hierauf die .pfychologifche Entwicklung der
philofophifchen Erkenntnisweife', wobei die Betonung des
apriorifchen Charakters aller philofophifchen Erkenntnis,

ins Bewußtfein der Theologen rücken hilft. Allein fie
verfällt dabei derfelben Gefahr, die m. E. vielfach in der
modernen religionsphilofophifchenTheologie zu Tage tritt:
fie eilt vorzeitig vom religiös-dogmatifchen zum apologe-

deren wir uns aber durch Selbftbeobachtung bewußt > tifchen Gefichtspunkt hinüber. Das El fte für den chrift
werden, die Beziehung zu Fries befonders deutlich her- j liehen Theologen müßte doch wohl fein zu fragen, wie
vortreten läßt. Es folgen fodann Vorlefungen über den das heute fo viel eindrucksvollere Auftreten der fremden
Zweck der Philofophie, wobei die Philofophie als .wefent- Religionen und der nichtreligiöfen Geiftesgebiete unferen

liches Erfordernis der allgemein-menfchlichen Bildung überhaupt
' bezeichnet wird und über die Gegner der Philofophie:
die Feinde der-Geiftesfreiheit, die Praktiker, die Populariften
oder den fog. gefunden Menfchenverftand und das unmittelbare
Gefühl. Was hier über die Anmaßung des fog. gefunden
Menfchenverftandes gefagt wird, ,der Richter über
die Wahrheit der Philofophie fein zu wollen oder die

künftliche Ausbildung des Denkens in der Philofophie I fie werden zu wenig in ihrem religiöfen Charakter erkannt
ganz überflüffig zu machen' (S. 78 ff.), darf allen denen und dargeftellt; fie werden ftatt deffen in Theorien ver-
zur Lektüre empfohlen werden, welche die Philofophie kleidet, die ihnen ein philofophifcb.es Mäntelchen umhängen
von Fries mit dem common sense verwechfeln. Die und dadurch eine größere .Objektivität' verleihen follen;
nächften Vorlefungen befchäftigen fich mit dem Verhältnis fie werden gleichkam in einen Kitt verwandelt, der das

vorhandenen, jede neu auftauchende Wirklichkeit irgendwie
erfaffenden Glauben in innere Bewegung fetzt oder
durch welche Glaubensgedanken unfere Frömmigkeit
gegenüber der neuen Lage reagiert. Tatfächlich entliehen
überall folche Glaubensgedanken; wer zu lefen verlieht,
fleht fie in den religionsphilofophifchen Theorien der Gegenwart
, natürlich auch bei St., kräftig genug wirken. Aber

der Philofophie zur Erfahrung, zu den Fakultätswiffen-
fchaften, zur Jurisprudenz, Religion und Theologie, und zum
Geifte der Zeit. Die letzten Vorlefungen geben eine
kurze Überficht über die Syfteme, die nach dem Gefichtspunkt
der .objektiven oder materialen' (z. B. Dualismus,
Materialismus und Spiritualismus) und der .fubjektiven oder
formalen Prinzipien' (Empirismus und Rationalismus) gegliedert
find. Wenn auch eine kritifche Stellungnahme
vom Standpunkte der Gegenwart inhaltlich befonders an
diefen letzten Vorlefungen manches auszufetzen haben
würde, fo weifen doch auch fie die Vorzüge auf, welche
dem ganzen Buch einen bleibenden Wert nicht bloß als
Zeugnis einer vergangenen Epoche, fondern als Einführung
in das philofophifche Denken auch für eine fpätere Zeit
verleihen.

Dresden. Th. Elfenhans.

für alle normalen Menfchen giltige Syftem der Wiffenfchaft
mit den religiöfen Erkenntniffen verbinden, alfo ein
einheitliches Vernunftfyftem ermöglichen foll. Denn das
Unerträglichfte fcheint der Zwiefpalt zu fein, der in unferm
Bewußtfein entlieht, ,wenn die Zuverficht der religiöfen
Überzeugung für unfer wiffenfehaftliches Denken jeder
Begründung entbehren und ausfchließlich auf die Willkür
des fubjektiven Eindrucks geftellt fein foll' (S. 64). Demgegenüber
muß ich doch fragen: wenn der .fubjektive
Eindruck' ftark genug ift, den Chriften in Leben und Tod
zu tragen, wird er dann nicht Mittel in fich felbft befitzen,
um in normalen Chriften durch Glaubensgedanken jenen
Zwiefpalt und die damit verbundene innere Unficherheit
zu überwinden? Er tut es tatfächlich, wie die praktifche
Frömmigkeit reichlich zeigt; es fehlt nur daran, daß die
fo entftehenden Glaubensgedanken als folche erkannt und
fyftematifch vollftändig herausgearbeitet werden. Wer das
unternähme und fo den mächtigen Stoff der modernen
Religionsgefchichte wie der ganzen modernen Geiftes-
betätigung gleichkam religiös meiftern könnte, der würde
der evangelifchen Chriftenheit wirklich einen Dienft tun,