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Ausgabe:

1913

Spalte:

239-242

Autor/Hrsg.:

Wernle, Paul

Titel/Untertitel:

Renaissance u. Reformation 1913

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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239

Fürftentums ableitet (S. ioofif.). Trotzdem möchte man 1
B. beiftimmen, daß es fich hier um den Sachfenherzog
als Marfchall handelt, daß alfo 1108 bereits die Bindung
von Amt und Fürftentum vollzogen war und daß das
Auftreten des beamteten Fürften bei der Wahl auf einen
tatfächlich vorhandenen engen Konnex zwifchen Erzamt
und Kurrecht fchließen läßt (S. 103). Entfprechend dem
fächfifchen Marfchallamt geht B. die Ämter der übrigen
Laienfürften im einzelnen durch'und wendet fich fodann
im dritten Teil dem Kanzleramt der geiftlichen Fürften
zu. Eine glückliche Formulierung, felbft wenn fie nicht
durchdringen wird, hat B. gefunden, wenn er fagt: Kur- j
recht und Erzamt der Laienfürften flammen aus derfelben
Wurzel, aus dem Stammesherzogtum, aus feinen Rechten
und Pflichten (S. 150 f.). Dazu kommt dann der fchwer- |
wiegende Einfluß der Kirche, in Deutfchland die Vor-
machtftellung der Metropole Mainz (S. 152 f.). Aufs neue j
bietet B. einen Interpretationsverfuch an zu Wipos Bericht I
über die Wahl Konrads IL; es kommt hier dem Verf.
darauf an, nachzuweifen, daß nach den geiftlichen Wählern
und der Abgabe der Lothringer Stimme die einzelnen
Stämme durch ihre Vertreter fich an der Wahl
beteiligen (S. 182f.). Der Reft des Kapitels, damit des
Buches, ift den Wahlen von 1138, 1152, 1198, 1205, 1220,
1237, 1246, 1257 und 1273 gewidmet. Das Buch fchließt
mit der Anerkennung von Böhmens Schenkenamt und
mit Baierns fortdauernden Afpirationen auf eine Kur-
ftimme. So hat der Verf. hier und da ein wenig gebracht
, dort eine frühere Theorie übernommen und
wieder eine alte Anfchauung neu beleuchtet. So übernimmt
B. von G. Seeliger die Scheidung des gefamten
Gefchäftes der Königswahl in Vorbefprechung und feierlichen
Schlußakt, bei dem Schlußakte aber unterfcheidet
er wieder im Einverftändnis mit andern in ,Electio'
und .Laudatio'. Diefer Unterfchied aber, meint Buchner,
fei nicht rechtlich, doch aber in der Tat fchon in der
Vorverhandlung zu konftatieren. Zum Schluß läßt B.
nochmals die verbreitetften Theorien über die Entftehung
des Kurfürftentums vorüberziehen: er kann ihnen allen
ihre Mängel vorweifen und darf beruhigt darüber fein,
daß er keiner gefolgt ift. Gelöft ift die Frage nicht: im
Gegenteil durch eine Unzahl neuer Unterfragen, die B.s
Buch immer wieder und wieder Hellen wird, ift das
Problem fcheinbar unentwirrbarer geworden. Scheinbar
nur, denn ein Fortfehritt ift B.s Buch ficher.

Wolfenbüttel. Otto Lerche.

Wernle, Prof. D. Paul: Renaüfance u. Reformation. 6 Vorträge
. (VIII, 170 S.) 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1912.

M. 3—; geb. M. 4 —

Das Buch befleht aus Vorlefungen, die der Verf. bei
einem Ferienkurs für Mittelfchullehrer gehalten hat, und
entfpringt dem für Wernle fo charakteriftifchen Bedürfnis,
aus der wiffenfehaftlichen Forfchung praktifch-klare chrift-
liche Pofitionen herauszuarbeiten. Ihm erfcheint das Problem
.Renaiffance und Reformation' gerade befonders
dazu geeignet und dazu treibend, weil es das moderne
Lebensproblem des Gegenfatzes zwifchen dem intellek-
tuell-äfthetifchen Fortfehritt und der ethifch-religiöfen
Beharrungsmacht des Chriftentums in feiner erften ge-
fchichtlichen Geftalt zeigt und dadurch die Analyfe an
der Wurzel geftattet und herausfordert. So will er die
mit der Renaiffance einfetzende und von ihr zur Aufklärung j
hinüberleitende Fortfchrittsbewegung in ihrem relativen
Rechte und vor allem in ihren Schranken, andererfeits die 1
reformatorifche Chriftlichkeit in ihren konfervativ-mittel-
alterlichen Bedingtheiten und ihrem wefentlich bleibenden
fittlich-religiöfen Gehalte zeigen, der gegenüber allem äfthe-
tifch-intellektuellen Fortfehritt fich behauptet.

So zeichnet W. in den beiden erften Kapiteln eines !
der bellen, mir bekannten Bilder der Renaiffance. Ihr
Wefen ift ihm die Entdeckung des ungebrochenen natür- I

liehen Welens des Menfchen mit Hilfe der Antike, die
Totalität und Wahrhaftigkeit des fich voll und frei entfaltenden
Menfchen, befreit und harmonifiert wefentlich
durch künftlerifches Schönheitsgefühl, daneben durch eine
ftark in der buchgelehrten Antike hängen bleibende
Intellektualität. Ihre Schranken fieht er mit richtigem
Blick gegenüber der Aufklärung in der Abwefenheit einer
felbftändigen, feiten konltruktiven Wiffenfchaft, die erlt
mit der modernen Naturwiffenfchaft erreicht wird, in der
Abwefenheit jedes eigenen neubildenden Gefellfchafts- und
Staatsideals, das gleichfalls erft mit dem politifchen und
wirtfehaftlichen Individualismus der Aufklärung einfetzt
und dort an dem konltruktiven Vermögen der Naturwiffen-
fchaften gefchult ift, fchließlich in dem die Kehrfeite davon
bildenden unpopulären Bildungsariftokratismus, der nur
die latinifierte Bildungsfchicht und den Salon zu fchaffen
im Stande ift, im übrigen aber gerade deshalb den Fort-
beltand der herrfchenden Mächte vorausfetzt. Hierin liegt
fehr viel Richtiges. Namentlich der foziologifche Gefichts-
punkt verdiente eine weitere Verfolgung, da in der Tat
die ganz andere Anfaffung des Gefellfchaftsproblems die
fiegreiche Macht der Aufklärung und die bloß anfehmie-
gende Einnistung der Renaiffance in die gegebene Machtverteilung
erklärt. Freilich find damit nur erft die ei lten
Andeutungen für diefe wichtigen Unterfuchungen gegeben.
Die Soziallehren der Renaiffance wären ein höchlt bedeut-
fames Thema. Sie fchafft die gebildete Klaffe, innerhalb
ihrer den differenzierten Individualismus, den Salon und
die Akademien, den abfoluten Staat der Suveränität und
der höfifchen Gefellfchaft und nur vereinzelt daneben
einige machtlofe Utopien. Mit alledem aber ift fie
ein politifch und fozial konfervatives, kein neubildendes Prinzip
. Aus dem gleichen Grunde, weil fie Mächte und Gefell-
fchaftsftruktur nicht angreift, ift fie auch kein wirklicher
Gegenfatz gegen die Kirche und ihre Herrfchaft. Sie
überläßt diefer die Herrfchaft über die Maffen und denkt
eher daran die Kirche zu älthetifieren und zu intellek-
tualifieren als fie zu befeitigen, fofern nicht einzelne eine
private Stellung der ganz perfönlichen Bildungsreligion,
eines romantifchen Neuheidentums oder der entfchloffenen
Irreligiofität behaupten. Auch von diefer Seite her ift
eineDurchbrechungdes katholifchenSyftemsausgefchloffen:
teils ergibt fich daraus nur ein ariftokratifcher Reformkatholizismus
der Gebildeten, teils fehlt der fittliche Wahr-
heitsernft, Mut und Bedürfnis, das kirchliche Syftem zu
durchbrechen.

Diefe Charakteriltik ift m. E. durchaus richtig. Aber
hierbei fehlt noch etwas. Die Renaiffance ift überhaupt
nie das felbftändige Kulturprinzip gewefen, als das fie
dem modernen, ihre Verflechtung mit dem kirchlichen
Syftem ignorierenden und fie inftinktiv verfelbltändigen-
den Forfcher erfcheint. Sie ift eine Bildungsbewegung
ohne felbftändigen Trieb zum Aufbau einer neuen Welt
und durchaus abhängig von der gegebenen Unterlage, auf
der fie aufliegt. Sie hat niemals eine neue Welt gewollt
und höchftens den fouveränen Staat gefchaffen, der aber
als Macht mit der kirchlichen Macht fich fofort verftändigte.
Sie ift daher auch nicht gefcheitert und nicht untergegangen
, fondern als die moderne Kultur- und Bildungsform
mit den neuen politifchen und kirchlichen Syftemen
innerlichft amalgamiert worden. Die Kultur der Gegenreformation
ift eine bald mehr äußerlich, bald mehr innerlich
verchriftlichte Renaiffance. Die großen Mutterländer der
Kultur, Italien, Frankreich und Spanien find Amalgame
von Renaiffance, Katholizismus und Abfolutismus. Das
Gleiche gilt von Belgien mit dem Typus der Rubenskultur
und dem anglikanifchen England, innerhalb deffen
Shakefpeare keineswegs als unkirchlich und unchriftlich
empfunden wird. Schon geringer ift die Durchdringung
in den kalviniftifchen Ländern und Kreifen, wo die Puritaner
geradezu Feinde der Renaiffance find. Am geringften,
aber keineswegs abwefend ift fie in den lutherifchen
Ländern. Erlt durch das Medium diefer Amalgamierungen