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Ausgabe:

1913 Nr. 8

Spalte:

236-237

Autor/Hrsg.:

Bendel, Frz. J. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Vita sancti Burkardi. Die jüngere Lebensbeschreibung des heiligen Burkard, ersten Bischofs zu Würzburg 1913

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 8.

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großer Mangel ift es aber, daß die Stellung der Mittelftoa
gegenüber Chrysipps Orthodoxie nicht klar präzifiert wird.
Panaitios und Pofeidonios werden natürlich behandelt,
aber über eine Aufzählung einzelner charakteriftifcher
Lehren kommt der Verfaffer nicht hinaus. Eine Gefamt-
würdigung fehlt, und z. B. von dem fcharfen Kampfe, den
Pofeidonios im Anfchluß an Panaitios gegen den Intellektualismus
in Chrysipps Pfychologie führt, hören wir
nichts. Vor allem follte man doch grade von einem
Manne, der in der Stoa die Weltreligion fieht, erwarten,
daß er Pofeidonios' Einfluß nach diefer Hinficht würdigt.
Arnold vermerkt, daß bei ihm ,die Unterordnung der I
philofophifchen Prinzipien unter das religiöfe Gefühl beginnt
' (240). Aber da er die Pofeidonios-Literatur nach
Schmekel nicht kennt, fo fucht man eine genauere Ausführung
vergebens.

Die beiden Kapitel, die dem römifchen Stoizismus
felber gewidmet find, führen die einzelnen Stoiker und
ftoifch beeinflußten Römer vor. Manches ift hier hübfch
bemerkt. So ift es durchaus richtig, daß die Oppofition
der Stoiker gegenüber dem Kaifertum im urfprünglichen
Syftem, für das die Verfaffungsform ganz gleichgültig ift,
nicht begründet ift, daß erft durch Panaitios die römifche
Ariftokratie als die der Stoa adäquatefte Verfaffung hin-
geftellt worden ift und diefe Anfchauung durch den Selbft-
mord Catos für die Folgezeit ihre Weihe erhalten hat.
Gern fähe man hier aber auch ausgeführt, welche Seiten
des Volkscharakters gerade die beften Römer für die
ftoifche Lehre empfänglich machten, wie es kam, daß die
römifche Theologie fo leicht den Bund mit dem Stoizismus
eingehen konnte, wie Auguftus daran denken konnte,
das alte Römertum auf der Grundlage ftoifcher Welt-
anfchauung zu erneuern. Auch das ließ fleh hier zeigen,
wie in der ftoifchen Lehre erft hier der Pflichtbegriff voll
ausgebildet wird, wie in der Ziellehre ftatt des ofioZo-
yovfiivmg xy tpvöti tjrjv das bloße o[ioZoyov(iivcog Cyv, die
eiferne Konfequenz, die für Cato wie für die Frondeure
der Kaiferzeit das Handeln beftimmt, in den Vordergrund
tritt, wie es eben einen Stoizismus römifcher Prägung gibt.

Das letzte Kapitel hat die Überfchrift ,The Stoic
strain in Christianity'. Natürlich ftellt der Verfaffer hier
Paulus in den Mittelpunkt, den Apoftel, der in fcharfem
Kampfe mit den Judenchriften dem Chriftentum den
Charakter der Weltreligion gibt. Um das Verhältnis der
Stoa zum paulinifchen Chriftentum zu zeigen, ftellt fleh
Arnold vor, welche Züge ein Stoiker aus Vefpafians Zeit
im Chriftentum als verwandt, welche er als fremd empfinden
mußte. Der Gedanke ift nicht übel. Aber einmal
ift Arnold der Gefahr nicht entgangen, fo manche Ver-
wandtfehaft mit dem Stoizismus anzunehmen, die ein
wirklicher Stoiker nie empfunden hätte. Dann muß man
fleh aber natürlich klarhalten, daß diefes Verfahren wohl
zeigen kann, was einen Stoiker ins chriftliche Lager
treiben konnte; aber einen philofophifchen Einfchlag be-
weifen die dem Stoizismus verwandten Züge natürlich j
nicht, felbft nicht für den, der wie Arnold ohne weiteres
von dem ftarken Einfluß der Stoa auf Paulus überzeugt j
ift. — Neben Paulus geht die judenchriftliche Richtung
ihren Weg. Eine Reaktion gegen fle bedeutet nach Arnold
das vierte Evangelium, deffen Logoslehre wie die
Philos er ohne weiteres mit der ftoifchen gleichfetzt, obwohl
doch gerade ihm als Philologen und als Hiftoriker
der Stoa die Erkenntnis nahe liegen follte, wie nötig die
Frage ift, ob denn Philos Logos, der Vermittler zwifchen
der Welt und dem transfzendenten Gotte, wirklich fo
ohne weiteres aus dem ftoifchen Logos, dem Vernunftprinzip
innerhalb der Welt, abgeleitet werden kann.

Auch fonft ift der Verfaffer zu leicht geneigt, den
ftoifchen Einfluß anzunehmen. Gefährlicher ift es aber
vielleicht noch, wenn die Differenzpunkte verfchleiert
werden. So würde Arnolds Stoiker mit freudigem Er-
ftaunen auch die Lehre von der avxdgxsta der Tugend
bei Paulus wiedergefunden haben (475). Aber die Stelle,

die A. dafür anführt, 2 Kor. 3,5.6 ovy on dV eavxcöv
Ixavoi söfiev ZoyioaaO-ai xi cog eg iavxcov, aZZ' y ixavdxyg
rifiäiv ix xov &sov fteht tatfächlich im fchärfften Gegen-
fatze zur Lehre der orthodoxen Stoa. Denn diefe baut
fleh doch ganz darauf auf, daß der Menfch aus eigener
Kraft das Gute tun und die Glückfeligkeit erreichen kann.
Das Erlahmen diefes Kraftbewußtfeins ift es gerade ge-
wefen, das die ftoifierenden Kreife vom zweiten Jahrhundert
an dem Chriftentum in die Arme trieb. Die
ftoifche Auffaffung hat in der chriftlichen Gemeinde von
Zeit zu Zeit ihr Haupt erhoben, aber wie fehr man den
Gegenfatz empfand, zeigt Auguftins Streit mit Julian, und
Auguftin hatte vollkommen recht, wenn er in diefem Falle
Julians ftoifierende Neigungen als ein dem alten Chriftentum
fremdes Element betrachtete.

Göttingen. Max Pohlenz.

Loew, E. A.: Studia Palaeographica. A contribution to the
history of early Latin minuscule and to the Dating
of Visigothis MSS. (Sitzungsberichte der kgl. bayr.
Akademie der Wiss., philos.-philol. u. hiftor. Kl. 1910,
12. Abhdlg.) (VIII, 91 S. m. 7 Tafeln.) gr.8°. München,
G. Franz' Verl. 1910. M. 4 —

Die Paläographie, einft nur Lefe- und Datierungs-
Kunft, erweift (feit Traube) ihren Wiffenfchaftscharakter,
indem fle große Probleme hiftorifcher und literarhiftorifcher
Zufammenhänge von kleinften Beobachtungen aus in
Angriff nimmt: kein Jota vom Gefetz Poll vergehen, keine
i-Form darf unbeachtet bleiben; das ift das Prinzip. So ift
die erfte Hälfte diefer auch für uns Theologen beachtenswerten
Studie dem langen I, die zweite der Ligatur ti gewidmet
. Loew zeigt an der Hand eines reichen Hand-
fchriftenmaterials, wie das lange I aus der Epigraphik, der
es im Anlaut und als Halbvokal in der Wortmitte geläufig
ift, in die Kurfive und von hier aus auch in die ältere
Buchfchrift übergeht, doch dabei von der spanifchen und
der italifchen Schreibfchule verfchieden angewendet wird:
die letztere fchreibt Im-, aber ill-, die erftere auch III-,
alo ift leicht in alo zu verlefen, aber auch fälfehlich zu
ago umgefetzt worden. Noch intereffanter ift die Beobachtung
, das die lautliche Unterfcheidung von hartem
und fibilierendem ti z.B. in notitia auchpaläographifchen
Ausdruck gefunden hat, indem einzelne Schreibfchulen
die urfprünglich für jedes ti gebrauchte Ligatur sj für das
fibilierende tzi refervierten, wovon es dann in Norditalien
auch auf ci überging. Die praktifche Bedeutung diefer Er-
kenntniffe habe ich bei dem Decretum Gelafianum erprobt.

Sieben fehr gute Tafeln zieren das Heft.

Breslau. von Dobfchütz.

Vita saneti Burkardi. Die jüngere Lebensbefchreibg. des
hl. Burkard, erften Bifchofs zu Würzburg. Mit e. Unter-
fuchg. üb. den Verf. hrsg. v. Dr. Frz. J. Bendel. (XXII,
58 S.) gr. 8°. Paderborn, F. Schöningh 1912. M. 4 —

Die jüngere Lebensbefchreibung des erften Bifchofs
von Würzburg Burkard (t 754) war bisher nur unvoll-
ftändig, auch in den Acta Sanctorum der Bollandiften
und den Monumenta Germaniae historica, gedruckt. Es
ift Bendel gelungen, in der Univerfitätsbibliothek zu Würzburg
die aus St. Stephan zu Würzburg flammende Hand-
fchrift des 15. Jahrhunderts (jetzt bezeichnet M ch q 150),
aus der Schannat die dem Texte der Bollandiften zugrunde
liegende Abfchrift nahm, und eine bisher noch nicht benutzte
Handfchrift in der Bodleiana zu Oxford (Ms. Laud.
Mise. 163, 15. Jh.s) zu finden. Auf Grund diefer und 2
anderer in der Univerfitätsbibliothek zu Würzburg befindlicher
Abfchriften des 16. und 18. Jahrhunderts bietet er
eine forgfältige Ausgabe des vollftändigen Textes. Die
Wiederentdeckung der von Schannat benutzten Hand-