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Ausgabe:

1913

Spalte:

186-187

Autor/Hrsg.:

Bachmann, Karl

Titel/Untertitel:

Geschichte der Kirchenzucht in Kurhessen von der Reformation bis zur Gegenwart 1913

Rezensent:

Eger, Karl

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Seite 1, Seite 2

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 6.

186

behrlich fei. Ich möchte glauben, der Zuftimmung, vielleicht
nicht des Verlegers, aber des Verfaffers ficher zu
lein, wenn ich anftatt des Haupttitels feines Werkes einen
anderen, etwa ,Winke zur praktifchen Verwertung des A.
T.' als den zutreffenderen lieber gewählt fähe. Denn unter
diefem eindeutigeren Titel würde der ungemeine Reichtum
des Buches beim Lefen und noch mehr beim Gebrauch
um fo überrafchender und eindrucksvoller ins
Bewußtfein treten. Die der Behandlung der einzelnen
Bücher und Buchabfchnitte vorausgefchickten Exkurfe,
wie die anfchließenden Einzelausführungen bewähren die
bekannte Meifterfchaft des Verfaffers in praktifcher Pfy-
chologie und fein feinfühliges Verftändnis für alles, was
in Anlage und Bedürfen der Menfchenfeele der Weckung
und Befriedigung durch religiöfe Werte und Ideale zu-
ftrebt. Sie zeigen zugleich mit der Kraft und Gabe, fich
in die Gedankengründe der alten Schriftfteller hineinzuleben
ein klares Empfinden für das, was die Gegenwart
an ihnen nachzuerleben und mitzuerleben vermag, und
eine erftaunliche Sicherheit und Gewandtheit, diefen Prozeß
hervorzurufen. Das alles auf dem Grunde einer tüchtigen,
aber nirgend orientierenden theologifchen Kenntnis und
Arbeit, und getragen von warmer und durchweg gefunder
Frömmigkeit. Keine trockene Methode, wie man nach
dem Untertitel des Werkes beforgen könnte, fondern lauter
lebendige Keimfaat; kein leerer Satz, aber überall in dem
Gefagten eine Fülle von Anregungen, es in eigener Weife
zu verarbeiten und weiterzuführen. Wenn die Lebhaftigkeit
der Darfteilung hie und da in allzu fcharf und dadurch
einfeitig pointierten Wendungen (Sirach c. 24 nach
S. 45 ein ,echt pantheiftifches Lied' u. ä.) fich ein Genüge
tut, foift meift durch den Zufammenhang Mißverftändniffen
vorgebeugt; und nur vereinzelt begegnet man der
Neigung des Verfaffers, dem Überquellen fubjektiven
Gedankenreichtums in der Art von J. P. Lange durch
abftrakt-fcholaftifche Formulierungen einen Anfchein
objektiver Kryftallifation zu geben. Einen erheblichen
Vorzug aber des Buches gegenüber den älteren Parallel-
erfcheinungen bildet es, daß während diefe faft ausfchließ-
lich auf die Zwecke der Predigt oder der Privaterbauung
ausgehen, N. fein Abfehen auf die getarnte Betätigung
des Geiftlichen, alfo auch auf Unterricht und Seelforge
richtet. Es ift nicht zu viel gefagt, daß fchon aus diefem
erften Bande feines Werkes fich eine nahezu vollftändige
Paftoraltheorie zufammenftellen ließe. — Den fpeziellen
.Einführungen' zu den Inhalten diefes erften Bandes ift
S. 1—39 eine .Einleitung' zu dem ganzen Werke voran-
geftellt, um die Bedeutung und den Wert des A. T. für
die kirchliche Praxis der Gegenwart zu begründen und
von da aus Richtlinien für die Behandlung zu gewinnen.
Unter Ablehnung der älteren Betrachtungsweife, im A. T.
nur die direkt meffianifche Abzielung auf Chriftum als
das für die chriftliche Praxis Wertvolle anzufehen, erfetzt
N. fie durch die gefchichtliche Auffaffung, daß vielmehr
um dem Ganzen des A. T. gerecht zu werden, man in ihm
die Dokumente einer durch Entwickelung und Offenbarung
hergeftellten göttlichen Erziehung aufs N. T. hin erkennen
müffe. Allerdings drängt eine anfchließende Betrachtung
diefen Zweckgedanken der Erziehung, der immerhin eine
organifche Bindung zwifchen beiden Teftamenten ein-
fchließt, zu Gunften einer Steigerung des Selbftwertes
des A. T. zurück, die fich begnügt, in der Religion des
A. T. nur eine dem Chriftentum ähnliche Religionsgeftalt
zu konftatieren, welche vermöge diefer Ähnlichkeit brauchbare
Typen auch für die chriftliche Betrachtung hergibt
(S. 22). Ob angefichts diefer unausgeglichenen Doppel-
heit der leitenden Gefichtspunkte es zweckmäßig war, an
den Eingang des Werkes nicht die Propheten, fondern die
didaktifchen und lyrifchen Schriften des A. T. zu ftellen,
kann um fo zweifelhafter fein, als N. die Rückficht auf
Zeitfolge und Entwickelungsftadien in diefem Schriftenkreis
beifeit legt. Wenn er z. B. die ftarken Unterfchiede |
zwifchen der kräftigen Volksmäßigkeit der Urfammlung |

Sprüche ioff., der doktrinären Didaktik in Spr. 1—9, und
der nachbildenden Redfeligkeit des Jefus Sirach außer
Sicht Hellend, alle diefe Stücke koordiniert den Ausgängen
der altteftamentlichen Literatur zuweift, fo kann die Betrachtung
folgerichtig nur zu einem Refultat gelangen,
das nur dem zweiten, nicht dem erften Gefichtspunkt der
.Einleitung' gerecht wird. Was aber auch in diefer wie
in andern Beziehungen ein Objekt von fo weiten Umriffen
immer für die theologifche Diskuffion übrig laffen wird:
der Wert des Buches in feiner Eigenart wie in feiner
Reichhaltigkeit wird dadurch nicht gefchmälert. Wer es
gebraucht, wird reichen Gewinn davon haben.

Berlin. p. Kleinert.

Bach mann, Pfr. Lic. Karl: Gefchichte der Kirchenzucht in

KuriieHen von der Reformation bis zur Gegenwart. Ein
Beitrag zur Kirchen- u. Kulturgefchichte des Heffen-
landes. (VIII, 219 S.) gr. 8°. Marburg, N. G. Elwert
1912. M. 4.50

B. hat mit dem, was er in der vorliegenden Schrift,
vorwiegend aus archivalifchen Quellen vom 16. Jahrhundert
bis in die neufte Zeit gefammelt hat, ein fehr
intereffantes Bild von der religiös-fittlichen und kulturellen
Arbeit gezeichnet, die die Kirche Heffen-Caffels in der
Ausübung ihrer Kirchenzucht geleiftet hat. Befonderes
Intereffe beanfpruchen neben dem Werden der heffifchen
Kirchenzucht im 16. Jahrhundert die Entwicklung im
18. Jahrhundert und die Reftaurationszeit unter Vilmar-
Haffenpflug. Die Entwicklung im 16. Jahrhundert ift
richtig und gut gezeichnet; insbefondere bekommt man
ein klares Bild vom Werden der kirchenzuchtlichen Ideen
von der Homberger Reformationsordnung 1526 bis zur
Ziegenhainer Zuchtordnung 1539: der Übergang von einer
Kirchenzucht, die, wie es die erftgenannte Ordnung will,
vorwiegend den Heiligkeitscharakter der aus freiem Zu-
fammentritt fich bildenden Gemeinde der Gläubigen wahrt
und nur nebenher auch die Befferung der Sünden ins
Auge faßt, zur wefentlich feelforgerlichen, der Zurechthilfe
der Irrenden und Fehlenden dienenden Zuchtübung der
Ziegenhainer Ordnung — mit dem Freiwilligkeitsprinzip
der täuferifchen Gegner durch die großartige Fiktion verbunden
, daß die Konfirmation der nachwachfenden Generation
und das dabei abgelegte Gelöbnis ihrer Inanfpruch-
nahme für die kirchliche Zucht den Charakter der Freiwilligkeit
gebe, in Wirklichkeit auf den Gedanken der
religiös-fittlichen Erziehung der Gemeindeangehörigen
durch die Gemeinde- und Kirchenleitung ruhend, wichtig
noch durch das eifrige Bemühen, die kirchliche Reaktion
gegen den Sünder von der weltlichen Beftrafüng fauber
zu trennen. Zwifchen Homberg 1526 und Ziegenhain 1539
fteht die fehr intereffante Homberger Ordnung von 1532,
die die Übung der Kirchenzucht zwar wefentlich zur
Sache der Pfarrer macht (doch ,mit Verwilligung der
Gemeinde'), dagegen die Unterwerfung unter die Zucht
dem freien Anfchluß an die Abendmahlsgemeinde überläßt
. Die Linien der Entwicklung hätten hier klarer
gezogen werden können. Auch hat B. nicht gefehen,
daß die Gemeindeaktivität, wie fie die Ziegenhainer
Ordnung in der Beftellung der Senioren kennt, mit dem
Gedanken der autoritativen Leitung der Gemeindeangehörigen
dadurch ihre innere Verbindung findet, daß ein
anderer Repräfentationsgedanke (Vertretung der Gemeinde
als eines Ganzen) angewandt wird als der uns
geläufige modern-naturrechtliche (Vertretung der ihre
Rechte durch Wahl delegierenden Gemeindeglieder).
Wenn B. dies erkannt hätte, hätte er fich über* die Art
der Alteftenwahl nicht fo viel Gedanken zu machen
brauchen. Bei Schilderung der weiteren Entwicklung in
Praxis und Gefetzgebung bis zur Agende von 1574 vermißt
man ungern eine Beziehung zu dem, was hier von
Retten der mittelalterlichen kirchlichen Volkszucht in