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Ausgabe:

1913 Nr. 6

Spalte:

177-179

Autor/Hrsg.:

Rust, Hans

Titel/Untertitel:

Über den Unterschied zwischen philosophischer u. theologischer Ethik 1913

Rezensent:

Dorner, August

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 6.

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genannte Härefie zu vertilgen. Wie gefagt, fcheinen die
Verfaffer vor allen Dingen gefucht zu haben, F. de S. mit
einem glänzenden Heiligenfchein zu umgeben, indem fie
leine unerreichten Tugenden preifen und danach die Tatlachen
feines Lebens in chronologifcher Folge wiederzugeben
. Man fucht vergebens in ihrer Arbeit eine
Analyfe und Prüfung der zwei Hauptwerke des F. de S.:
L'Introduction ä la vie devote und Traite de
l'amour de Dieu.

Es werden faft keine Referenzen angegeben. Die
wenigen die man darin findet, beziehen fich auf die große
Ausgabe der Briefe des F. de S. (Annecy). In den Augen
der Verfaffer fcheint das höchfte Verdienft des F. de S.
darin zu beftehen, daß er in der römifch-katholifchen
Kirche der Verkündiger und der Doktor der Lehre des
heiligen Herzens Jefu gewefen ift.

Genf. Choify.

Tillich, Lic.Dr.Paul: Myftik u. Schuldbewußtrein in Schellings
philofophircher Entwicklung. (Beiträge zur Förderg.
chriftl. Theologie. 16. Jahrg. 1912. I.Heft.) (135 S.)
8°. Gütersloh, C. Bertelsmann. M. 240

Ruft, Hans: Über den Unterfchied zwifchen philofophircher u.
theologifcher Ethik. Inauguraldiff. (67 S.) gr.8°. Königsberg
1912.

Seit ich meine Schrift zum hundertjährigen Geburtstage
Schellings gefchrieben habe, find fiebenunddreißig
Jahre vergangen. Damals galt es als etwas äußerft Wunderliches
, fich mit Schellings abftrufen ,gnoftifchen'Gedankengängen
feiner letzten Philofophie abzugeben. Ich hatte damals
zu zeigen gefucht, daß die letzte Periode Schellings, die
mit der Freiheitslehre einfetzt, in viel engerem Zufammen-
hange mit feinen früheren Pofitionen flehe, als man gemeinhin
annehme, und daß Sendling von dem äfthetifchen
zum ethifchen fortfehreite, daß er mit feiner Metaphyfik
eine religiös ethifche Weltanfchauung zu begründen fuche.
Ich kann es nur mit Genugtuung begrüßen, daß derfelbe
Gedanke auf Anregung von Schlatter von Tillich wieder
in einer beftimmten Richtung aufgenommen wird. In
eindringenden Unterfuchungen, in denen der Verfaffer
von Spinoza und Kant ausgeht, fucht er zu zeigen, wie
Sendling mit einer gewiffen inneren Notwendigkeit von
dem Standpunkt der Naturphilofophie und Identität zu
dem Standpunkt der Freiheitslehre fortgefchritten fei.
Einerfeits habe er die Identität des Göttlichen und Menfch-
lichen, die Myftik feilgehalten, ohne die es keine Religion
gebe, andererfeits habe er die Unterfchiede in der Identität
immer fchärfer herausgebildet, bis er das irrationale
Moment aufgenommen und damit das Böfe und feine
Überwindung durch die Liebe in feiner Philofophie der
Mythologie und der Offenbarung in prinzipieller und
hiftorifcher Form zur Darftellung gebracht habe. Erft
durch die Unterfcheidung der Ideenwelt und der Einzelheit
, der idealen und der realen Potenz, durch das Auseinandertreten
diefer in Gott unmittelbar geeinten Potenzen
in den äußerften Gegenfatz, habe er das Verftändnis
des Böfen und der Schuld gewonnen, ohne die Identität
der Myftik, die die Religion brauche, zu verlieren. Durch
das Hervortreten der realen Potenz fei die Selbftfucht
entfeffelt und habe in dem gefchichtlichen Prozeß die
größte Rolle gefpielt, bis durch die Erfcheinung Chrifti
und fein Opfer der Selbftheit, die Harmonie der Potenzen
wieder ermöglicht fei, indem Chriftus die felbftifche Potenz
in den Dienft der idealen univerfalen Potenz gefleht,
die Selbftfucht prinzipiell überwunden und die Einzelheit
in den Dienft des Allgemeinen geftellt habe; hiermit fei
eine Wendung in der Weltgefchichte hervorgetreten, indem
ein Reich der Liebe, ein Reich des Geiftes fich j
entfalte, das von dem von Chriftus ausgehendem Liebes- j
geifte erfüllt fei.

Die Myftik fei hier mit dem Schuldbewußtfein geeint,

I die irrationale Selbftfucht der zum äußerften Gegenfatze
! gegen die unmittelbare göttliche Harmonie hervorgetretenen
realen Potenz der Einzelheit durch die Unterordnung
derfelben unter die univerfale Potenz überwunden.
Das Refultat des Prozeffes ift die Bereicherung des in
unmittelbarer Harmonie feiner Potenzen lebenden
Gottes durch ein Reich von Geiftern, die für fich beftehend
doch in der Einheit der Liebe mit Gott verbunden find.

Ich kann hier nicht auf die Einzelausführungen des
Verfaffers eingehen, die vielfach feine dogmatifche Gedanken
enthalten. Mag immerhin der Verfaffer nicht
genug auf diePotenzenlehreSchellings und ihreSchwierig-
keiten eingegangen fein! Der Grundgedanke feiner Ausführungen
, daß Sendling den Verfuch gemacht habe,
mittels einer reicher ausgeftalteten Gotteslehre — Gott
Herr feiner Potenzen, Einheit der Unterfchiede — fowohl
dem chriftlichen Schuldbewußtfein gerecht zu werden,
wie der chriftlichen Idee eines Reiches der Liebe, fowohl
die Unterfcheidung von Gott und Menfch bis zu dem
irrationalen Gegenfatz von Schuld und Sünde in der
Selbftfucht anzuerkennen als auch der myftifchen Einheit
mit Gott in der Liebe gerecht zu werden) verdient gewiß
volle Beachtung.

Die zuletzt genannte Arbeit von Lic. Dr. Ruft befchäftigt
fich auch mit einem Problem, das auf der Grenze der
Philofophie und Theologie fleht und geht mit gründlichem
Denken zu Werke. Zunächft werden die metaphyfifchen
Vorausfetzungen der philofophifchen und theologifchen
Ethik in dem Geiftesleben gefunden, das er dem phyfifchen
Univerfum gegenüber ftellt. Diefes Geiftesleben ift Wahrheit
. In der Einheit des Geiftes ift die Wahrheitstendenz
als theoretifche und praktifche enthalten. Der Wille des
Geiftes zu Taten und Macht ift ein vernünftiger. Die
Betätigung des Geiftes ift ethifch, fofern fie vernünftig ift.
Um das Ethifche zu erkennen, fchlägt nun der Verfaffer
einen doppelten Weg ein, einerfeitsdeninduktiv-hiftorifchen,
j andererfeits den fpekulativen, und er ift der Meinung, daß
die Verbindung beider Methoden dazu führt, das Sittliche
zu erkennen. Das aber ift die Aufgabe der philofophifchen
Ethik. Sie foll das Wefen des Sittlichen
theoretifch erkennen, fie hat nicht konkrete fittliche An-
weifungen zum Handeln zu geben, fie hat diefes Wefen
zunächft aus dem hiftorifch fittlichen Material, den ver-
1 fchiedenen Ethen und den ihnen zugrunde liegenden Idealen
nach empirifch reflektierendem Verfahren induktiv zu gewinnen
, hat aber zugleich diefe induktive Arbeit fpekulativ
zu ergänzen, indem fie aus dem Begriff des Geifteslebens
I den Begriff des Sittlichen alseine Art der Selbftbehauptung
| und Selbftbefeftigung des Geiftes erkennt. ,Geift foll
! fchlechthin fein, die Natur bearbeiten und fich bei fich
felbft befeftigen und vertiefen.' Das ift der oberfte Grunö-
fatz, von dem die fpekulative Seite der Ethik ausgeht.
Diefer Gedanke wird nun auch auf die theologifche Ethik
angewendet. Zunächft ift das chriftliche Ethos in feinen
verfchiedenen Formen feftzuftellen. Die theologifche Ethik
ift die Wiffenfchaft von dem konkreten chriftlichen Ethos
und hat zunächft diefes als organifches Gedankenfyftem
darzuftellen, wie es insbefondere in evangelifcher Form
erfcheint. Dann folgt aber die Aufgabe zu zeigen, daß
das fo erkannte Ethos mit dem Sinne alles ethifchen
Lebens, ja mit dem Geiftesleben überhaupt übereinftimmt,
daß die chriftliche Sittlichkeit in diefem Sinne vernünftig
fei. ,Ein folches Verftändnis des chriftlichen Ethos aus
dem Ganzen des menfehlichen Geifteslebens ift fchlechter-
dings notwendig, wenn man nicht auf jegliche Einheit
des Erkennens fowie der menfehlichen Vernunft verzichten
will.' .Letztlich muß auch eine Einzelerfcheinung wie das
chriftlich-evangelifche Ethos philofophifch gedeutet und
verftanden werden'. Daher fordert er auch eine fpekulative
Bearbeitung der theologifchen Ethik neben der empirifchen.
Die phlofophifche Ethik hat alfo die Aufgabe, das gefamte
fittliche Leben als Material für das Erkennen des Wefens
des Sittlichen zu verwenden und das Sittliche als einen