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Ausgabe:

1912 Nr. 6

Spalte:

171-173

Autor/Hrsg.:

Jordan, Hermann

Titel/Untertitel:

Geschichte der altchristlichen Literatur 1912

Rezensent:

Krüger, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 6.

172

Jordan, Prof. Lic. Herrn.: Gefchichte der altchriftlichen

Literatur. (XVI, 521 S.) Lex.-8<>. Leipzig, Quelle &
Meyer 1911. M. 16—; geb. M. 17 —

Diefes Buch anzuzeigen, ift mir eine Freude; bedeutet
es doch einen tüchtigen Fortfehritt auf einem
Wege, den ich felbft vor Jahren eingefchlagen habe,
aber nicht zu Ende zu gehen vermochte, wie das denn
bei Erftverfuchen der Fall zu fein pflegt. Von meinem
Buche fagt Jordan nach einigen Worten des Lobes
richtig, daß ,es fleh zum Teil noch nicht energifch genug
von dem alten Schrifftellerkatalog gelöft hatte'.
Er felbft hat die Forderung folcher Löfung reftlos erfüllt
, fo fehr, daß fleh der Zweifel zu regen vermag, ob
er nicht feinerfeits zu weit gegangen ift. Leitfatz feiner
Darftellung find weit mehr noch als bei mir Overbecks
Worte: ,Ihre Gefchichte hat jede Literatur in ihren
Formen', die er fich fo angeeignet hat, daß er auf S. 6,
wo er fie zum erften Male ausfpricht, gar nicht dabei
fchreibt, daß fie von Overbeck flammen, der erft viel
fpäter (S. 23 auf 24) als Urheber genannt wird.

In 16 Abfchnitten zieht die altchriflliche Literatur bis zum 8. Jh.
nach dem Grundfatz der Formengefchichte an uns vorüber. Zuerft die
Profa: Erzählungen und Gefchichtsbücher, Briefe, Apokalypfen, Reden
und Predigten, die Apologie, der Dialog, die Streitfchrift, Abhandlungen
, die Literatur der kirchlichen Ordnungen, Symbole und Glaubensregeln
, die hermeneutifche und kritifche Literatur, die Überfetzungs-
uud Überlieferungsliteratur, die Sentenz, die Infchriften. Sodann die
Poefie: das religiöfe und kirchliche Lied, die anderen Dichtungsformen.
Die einzelnen Abfchnitte zerfallen, je nach der Mannigfaltigkeit des
Stoffes, den fie zu bergen haben, in Unterabteilungen. So bringt das
Kapitel Erzählungen und Gefchichtsbücher hintereinander Evangelien,
Apoftelgefchichten, Märtyrergefchichten, Chronik und Kirchengefchichte,
Biographien und Heiligenlegenden. Das Kapitel Streitfchrift enthält die
Erzeugniffe der Kämpfe um die Gnofis, den Montanismus, die heilige
Schrift, die (Trinität und die) Chriftologie, Manichäismus und Pris-
zillianismus, Donatismus, Gnadenlehre, dazu ,wefentlich perfönliche' und
.hiftorifch orientierte' Streitfchriften. Unter ,kirchliche Ordnungen' find
die Kirchenordnungen, Kanonenfammlungen, Liturgien und liturgifchen
Gebete und die Mönchsregeln vereinigt. Das Kapitel Abhandlungen
unterfcheidet die religiöfe und die dogmatifch-philofophifche Abhandlung
vom ethifch-asketifchen Traktat und der kirchlich-praktifchen Abhandlung
. Periodifierung ift mit Abficht vermieden. Wir erhalten alfo
eine Gefchichte des Briefes, der Predigt, der Abhandlung ufw. jeweils
von den Anfängen bis zum oben bezeichneten zeitlichen Ausgang.
Vorangefchickt find der Darftellung eine methodologifche Einleitung und
ein Abfchnitt über ,die die Entwickelung der altchriftlichen Literatur
beeinfluffenden Elemente', nämlich die vorhandenen Literaturen, alfo
die israelitifch-jüdifche, die antike und die helleniftifche, die neuen
religiöfen Werte, geiftigen Gedanken und praktifchen Bedürfniffe, die
literarifchen Perfönlichkeiten, die Sprachen, die kulturellen und lite-
rarifchen Schichten (Volks- und Kunftliteratur).

Diefe Inhaltsübersicht zeigt, daß Jordan den Ge-
fichtspunkt der Formengefchichte zum beherrfchenden
feiner Darfteilung gemacht hat. Die ,Perfönlichkeiten'
haben fich unter ,die die Entwickelung der Literatur beeinfluffenden
Elemente' zurückziehen müffen. Freilich fagt
der Verfaffer (S. 10), daß ,die Literaturgefchichte als
eine Gefchichte der Formen mit der Gefchichte der
geiftigen Ideen und mit dem geiftigen Entwicklungsgang
rJer Verfaffer auf's Engfte verknüpft ift', und er wird
mir auch entgegenhalten, daß er tatfächlich Inhalt und
Verfaffer überall da berückfichtigt habe, wo ,fie für die
Gefchichte der Literaturformen von irgendwelcher wefent-
licher Bedeutung find' (S. 10). Endlich wird er fich
darauf berufen, daß ,die altchriflliche Biographie gerade
das Element der Individualifierung ftark vermiffen' (S. 38)
laffe. ,Von Auguftin wiffen wir etwas', fchreibt er (a. a. O),
,ihn können wir als Menfchen, Chriften und Schriftfteller
erfaffen, weil er fich uns nach allen drei Seiten felbft ge-
fchildert hat (,) und ebenfo werden Origenes, Tertullian
und Hieronymus zu greifbaren Geftalten'. Obwohl fich
die Namen noch vermehren ließen, hat J, im wefent-
lichen Recht. Es läßt fich nicht in Abrede ftellen und
ift in der Natur der Sache begründet, daß die altchrift-
liche Literatur auf weite Strecken und in der Mehrzahl
ihrer Formen einen unperfönlichen Charakter trägt.
Aber das kann nun doch an dem Urteil nichts ändern,
daß auch die wenigen greifbaren Geftalten in Jordans

Buche nirgends lebendig werden. Die disjecta membra
Tertulliani muß man fich tatfächlich aus einer ganzen
Anzahl von Kapiteln zufammenfuchen. Und das ift
doch grundfätzlich nichts anderes, als wenn wir eine Gefchichte
der deutlichen Literatur lefen füllten, in der, über
das ganze Buch verftreut, hier ein Stückchen Goethe
und dort ein anderes erfcheint, weil Goethes nun einmal
bei Roman und Novelle, bei Drama und Epos, bei
Lyrik und Spruchweisheit, ja eigentlich überall gedacht
werden muß.

Aber ift denn das überhaupt eine Literaturgefchichte,
in der alle diefe einzelnen Formen fäuberlich getrennt
neben- und nacheinander aufmarfchieren, noch dazu
jedes ohne Einfchnitt durch lange Jahrhunderte verfolgt,
in denen doch Ideen und Perfönlichkeiten fortwährend
wechfeln? Natürlich kann man eine Gefchichte des
Briefes in der römifchen Literatur (Peter) oder eine Gefchichte
des Dialogs (Hirzel) oder der Autobiographie
(Mifch) oder der antiken Kunftprofa (Norden) fchreiben.
Das find doch aber keine Literaturgefchichten und wollen
auch keine fein. Wilamowitz aber und Wendland, ,in
gewiffem Sinne auch Schanz', auf die J. fich bezieht
(S. 25), find nicht nach feinem Rezept verfahren. Und
Overbeck würde den Verf. darauf verweifen, er habe
zwar gefagt (und J. mit ihm), ihre Gefchichte habe eine
Literatur in ihren Formen, damit aber doch nicht gemeint
, daß die Einzelform .alles', der Gefamtbegriff
.Schall und Rauch' fei. Jordan verfährt fozufagen nomi-
naliftifch; mindeftens ein ariftotelifcher Realismus wäre
aber doch der Betrachtung angemeffen. Und da er nun
einmal den Blick fo wenig aufs Ganze gerichtet hielt,
weil er nicht fowohl eine Gefchichte der Literatur in
ihren Formen als eine Gefchichte diefer Formen fchrieb,
fo mußten ihm auch die Augen gehalten bleiben vor
den einfehneidenden Wandlungen, die die altchriftliche
Literatur als Ganzes im Zufammenhang mit der Entwicklung
von Chriftentum und Kirche erlebt hat. Gerade
hier, wo ihm Overbeck hätte Führer fein können, flößt
er ihn mit überlegener Miene zurück. Mag an Overbecks
Konftruktion der ,Anfänge der patriftifchen
Literatur' manches zurechtzurücken fein, er hat doch
deutlicher als irgendeiner vor ihm die grundlegende
Verfchiedenheit der Urliteratur von der .patriftifchen'
gefehen und betont. Urliteratur, frühkatholifche und
patriftifche (diefes Attribut bleibt beffer der nach-
nieänifchen Zeit vorbehalten) Literatur mußten uns jede
in ihren Formen, aber als ein Ganzes vorgeführt werden.
Dann würden wir es miterleben, wie und warum gewiffe
Formen entfliehen und zur Blüte gelangen, aber auch
abfterben oder umgeftaltet werden konnten. Wir würden
es auch beffer verftanden haben, warum bei formell Vergleichbarem
doch der Inhalt entfeheidende Bedeutung
gewinnen kann, und würden nicht unter den Über-
fchriften .Erzählungen und Gefchichtsbücher' oder .Abhandlungen
' oder .Kirchliche Ordnungen' all das als
Einheit hinnehmen müffen, was J. darunter zufammen-
geftellt hat. Endlich aber wäre es dann auch möglich
gewefen, die greifbaren literarifchen Perfönlichkeiten
nicht nur gelegentlich in die Darfteilung zu verflechten,
fondern diefe durch jene beherrfchen zu laffen, wenigftens
überall da, wo fie nicht nur einen Zweig der Literatur
befruchtet, fondern ihr neue Bahnen gewiefen und gerade
der Mannigfaltigkeit ihrer Formen, fie in fich fammelnd,
bleibenden Ausdruck verliehen haben. So denke ich
wenigftens mir das Ideal einer altchriftlichen Literaturgefchichte
. Darftellerifch erreichen kann ich's nicht.
Vielleicht aber finden Jordan und ich bald einen Meifter,
der's uns vormacht.

Noch zu zwei anderen grundfätzlichen Fragen, die
J. in der Einleitung erörtert, möchte ich einige Worte
fagen. Zunächft: Was ift Literatur?

Deißmann meint (Licht von Oden S. 98): .Literatur ift das für die
Öffentlichkeit (oder für eine Öffentlichkeit) und in einer beftimmten