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Ausgabe:

1912 Nr. 6

Spalte:

170

Autor/Hrsg.:

Wohlrab, Martin

Titel/Untertitel:

Das Neutestamentliche Christentum auf psychologischer Grundlage dargestellt 1912

Rezensent:

Bauer, Walter

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Seite 1

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169 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr.6. 17°

bare Verwandlung oder ein ähnliches Mittel) eingeleitet
werden konnte, erfährt man im Grunde nicht. Ebenfo
fehlt auch Aulklärung darüber, wie fich die apokalyptischen
Menfchenfohnftellen mit dem empirifchen ge-
fchichtlichen Menfchen zufammenreimen laffen. Denn
die Behauptung, daß der .niedrige Menfch, den Israel
verwirft, die Vorausfetzung für das Menfchenfohnbild
der Danielftelle ift' (S. 106 f.), bleibt, da der Nachweis
hierfür aus den jüdifchen Urkunden nicht geliefert wird,
eine bloße petibo principii. Doch es kann Niemandem
verwehrt werden, Jefu eine folche, dem modernen Denken
phantaftifch erscheinende Spekulation zuzufchreiben an-
gefichts der Tatfache, daß auch die Gefetze der Pfycho-
logie der gefchichtlichen Entwicklung unterworfen find.
Nur ift man dann nicht befugt, Anderen vorzuwerfen

bei dogmatischen Geiftern zu finden pflegt, welche die
einfachen Ausfagen durch taufend Nebenbeziehungen verdecken
und verdunkeln.

Gießen. W. Baldenfperger.

Wohlrab, Geh. Studienr. Martin: Das neuteftamentliche

Chrittentum auf pfychologifcher Grundlage dargeftellt.
(151 S.) gr. 8°. Dresden, L. Ehlermann 1910. M. 2.40

Wohlrabs Schrift will einer Notlage abhelfen, in der
fich gegenwärtig der Religionsunterricht befindet. Aus
der Meinung heraus, daß die wiffenfchaftliche Behandlung
der Religion, die heute vielfach Platz greife, in deren
Wefen unbegründet fei, unterfucht Verf. zunächft das
Wefen der Religion, um zu dem Refultat zu kommen,
daß fie fich ins Phantaftifche verlieren, wenn fie Jefu die I ,daß die natürlichen und geoffenbarten Religionen eine

Aufnahme eines himmlichen Meffiasbildes zutrauen (S. 102). I und diefelbe Grundlage haben, das Gefühl, den Willen

Wir müffen es uns verfagen, den weiteren Darlegungen
des Verfaffers ins Einzelne zu folgen. Befonders das 2.
Kapitel über die fynoptifchen Evangelien enthält fehr
lefenswerte Seiten, in welchen fich der Verfaffer über die
Frageftellungen der neueren Theologie gut unterrichtet

und die Phantafie, daß aber die geoffenbarten Religionen
überdies an die Intelligenz ihre Forderungen machen'.
Von diefer Grundlage aus ftellt er dann die Religion
und die Sittlichkeit des NTs dar. Ich fühle mich nicht
berufen, die Richtigkeit feiner religionspfychologiSchen

zeigt und ein befonnenes, exegetifches Urteil zu Tage Auseinandersetzungen oder die Haltbarkeit des von ihm
legt: so in feinen Ausführungen über den Ausdruck j verruchten fyftematifchen Aufbaus zu prüfen, muß aber
.Himmelreich', in der Zurückweifung der Wellhaufen'fchen ; bekennen, daß es damit übel fteht, wenn der Religions-
Beftreitung einer Gottesreichspredigt von Seiten Jefu 1 pfycholog und Syftematiker in W. den Hiftoriker in ihm
u. f. w. Allerdings erweckt feine exegetifche Methode oft ! nicht erheblich übertreffen.

auch Mißtrauen und Widerftand, wenn er fich zu fehr
nach bloß logifchen Kategorien richtet, das in den
Texten Gegebene willkürlich ausdeutet, ftatt fich durch
die feften gefchichtlichen Anhaltspunkte beftimmen zu
laffen. Man folgt vielleicht anfangs dem Verfaffer ganz
willig, läßt fich z. B. gern von ihm belehren über die
Gefchichtlichkeit des Ausdrucks .Menfchenfohn', über den
Unterfchied des Gebrauchs bei Jefus und fonft. Sobald
man aber dem Problem über die Grenzen des N. T.
nachgeht, fo kann man von dem quälenden Gedanken
nicht loskommen, daß in der jüdifchen Apokalyptik wie
in der Offenbarung Johannis ein befonderer Typus vom
Menfchenfohn vorliegt. Und wenn Jefus fonft auf Daniel
zurückgreift, foll er denn an der Menfchenfohnfigur desselben
achtlos vorübergegangen fein? Ja, wenn bei dem
Verhör Jefu der jüdifche Hohe Rat fchon durch die bloße
Erwähnung des himmlifchen Menfchenfohnes fofort in
Erregung verfetzt wird, hat fich dann Jefus felbft nicht
aufs ernftlichfte mit diefem Problem getragen?

Man Sollte glauben, das neuteftamentliche Chriften-
tum ließe fich auch auf pfychologifcher Grundlage nur
darfteilen, nachdem man ermittelt hat, was überhaupt
neuteftamentliches Christentum ift. Aber W. hat es fehr
eilig, den Verftand auszufchalten und das Gefühl allein
walten zu laffen. Jefus nennt fich den Sohn Gottes.
,Daß die Vernunft etwas zur Aufklärung diefes Verhältnisses
zwifchen Gott und Jefus beibringen kann, ift aus-
gefchloffen. Es kann nur Gegenstand des Glaubens fein,
ift nur dem religiöfen Gefühle zugänglich und faßbar.
Innere Wahrheit wird man aber diefem Glauben dann
nicht abfprechen dürfen, wenn alles, was von ihm hergeleitet
wird, fich zu einer harmonifchen Einheit zufammen-
Schließt' (S. So f.). Trotzdem kommt es nicht feiten zu
gefchichtlichen Urteilen. Diefe aber find oft recht eigentümlich
, wenn nicht direkt falfch und von erheblicher
Oberflächlichkeit.

Welche Literatur ihm gedient hat, fagt er nicht. Nur zur Lektüre
von Wundts Yölkerpfychologie und Ethik bekennt er fich. Aber S. 49

Die Neigung des Verfaffers ZU dogmatifcheil Kom- 1 ])*ha, ' "eUere Untersuchungen' ergeben, daß Mark, in das Jahr 67 oder

-°. °.. . ■ ■ n m ö AK Mntln Ptwn in Anc 1 nVir •?-> I Itlf ine TnVtr rt I ,,,l,.r r» r* ,r..li,,r' Tili-

binationen führt ihn zu dem Schlußfatz von einer .durchgängigen
Verknüpfung und Einheitlichkeit der Reichs-
gottesausfagen Sämtlicher einzelner neuteftamentlicher
Schriften'. Der Drang, den Begriffsinhalt der neutefta

6S, Matth, etwa in das Jahr 72, Luk. ins Jahr 94 oder 95 gehört. Zur
Empfehlung der Evangelien wird an gleicher Stelle mit einer für W.
charakterifiifchen Präzifion und Deutlichkeit gefagt, daß fie .teilweifc
fogar auf Niederfchriften von Reden und Ausfprüchen Chrifti* beruhten.
Widerfprüche und Irrtümer kommen in den heiligen Schriften nur in

mentlichen Ausfprüche zu erfchöpfen, erlaubt es M. nicht, muT^^ZJWJ^ 5°'' ,ie Wierder,ksellö\' h?~

r„u v j j u .j__-re„„A,.f ' • . TT- 1 zuglich deren fich Jefus geirrt hat (S. 601. Im wefentlichen ift alles in

Sich mit den durch den Kontext angezeigten Einzel- j Ordnung und Joh. wie die Synoptiker unterrichten gleich gut über die
gedanken oder Gedankengruppen zufrieden ZU geben, j Religion Jefu. .Unzweifelhaft' ift auf diefen zurückzuführen, was bei
Die verfchiedenartigften Ausfagen über das Reich oder j al,!en Synoptikern als Herrenwort überliefert ift (S. 48). Jefus hat die
andere urchriftliche Glaubenspunkte werden fo mitein- [l,aterendogmatifchenStreitigkeiten vorausgesehen, wie aus Luk. 12,51—53
ander verknüpft, daß ein Gefamtfyftem herauskommt, feS^f WAattfS!

Ohne Ruckficht darauf, Ob die angenommenen Be- . gelüftet hat, fteht einfach feft (S. 57. 139). Der Herrnbruder Jakobus
Ziehungen auch bei den einzelnen Schriftftellern nach- , war einer der Zwölf (S. 61). Ein abftoßeudes Mufter von Mangel an
Weisbar find" SO werden Z. B. die paulinifchen Vor- Exaktheit in der Wiedergabe eines Tatbeftandes findet fich S. 52: Bei

Stellungen von Sünde und Verhöhnung mit dem Reichs- d" 1™/^°™™ d,er (*ei£.i.n Taubengeftalt auf Jefus herab.

„-j.nfr . , , , n , . „ ,,_r u: 1 I .Dafür fteht in mchtkanon fchen Schriften, er fei als Feuer 111 Jefus ge-

gedanken verquickt, ohne Beachtung ihrer verschiedenen kommen. Diefe DarfteUting verdient wohl deshaib den Vorzug, weil

Herkunft und ihres fpezififchen Charakters. Das Kon- die Präpofition, die im griechifchen Texte fteht, nicht mit Luther durch
ftruktionsmäßige läßt der Verfaffer übrigens felbft durch- >iauf" oder „über", fondern nur durch „in" überfetzt werden kauu'.
fchimmern in der von ihm gebrauchten verräterifcheil Befonders bedenklich find die Übertreibungen, in denen fich Verf.

Formel- Fs mar, r. t a r ~a f« riarfLÜW ic: w; ' Refa,lt. u™ die überragende Größe des Chnftentums zu erweifen. ,Als
rormet. ,L.S mag fich das fo und fo darltellen (S 296). , die A ft . I» . . römKche Weltreich trugen, da nahm

c 'er t T I die AP°hel die neue Lehre in das römifche Weltreich trugen, da nahm
LZie VOlle^perlonllche Durchdringung des btOttes^ hat j diefes mit den Neronifchen Verfolgungen den Vernichtungskrieg mit

ihr auf.' Im Gegenfatz zum Chriftentum .hielten fich die anderen Religionen
innerhalb der Länder und Völker, in denen fie ins Leben traten'
(S. 58). Daß jede Religion ,fchon durch ihre Verbreitung einen Wcrt-
meffer ihres Gehaltes habe' (S. 87), fcheint mir ein recht bedenklicher
Grundfatz.

immerhin die Wirkung, daß auch der Lefer beim Studium
diefes Werkes ftarke Impulfe erhält und obgleich er oft
feine Zuftimmung verfagen muß, die Argumentation
doch immer mit erneutem Intereffe verfolgt. Schade,
daß der Stil nicht dazu beiträgt, diefe Wirkung zu verstärken
. Er ift fchwer und überladen, wie man ihn öfters

Marburg (Heften). Walter Bauer.

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