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Ausgabe:

1912 Nr. 5

Spalte:

139-141

Autor/Hrsg.:

Heinze, Richard

Titel/Untertitel:

Tertullians Apologeticum 1912

Rezensent:

Soden, Hans

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139 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 5. 140

unter Tilgung der zweiten Vershälfte) die Fifchzugs-
gefchichte c. 21. Der große Anftoß 7,3 wird durch Zu-
fetzung eines ,dort' (in Klammern) befeitigt, Lücken der
Berichterftattung, wie die durch 2,23, 4,45 angezeigte,
nicht bemerkt, vielmehr klaffen nun durch die erfolgte
Quellenausfcheidung 4,45 und 5,1 unmittelbar aus- und
aufeinander (vgl. S. 112). Offenbare Nähte in der Kom-
pofition wie 12,44 finden keine Berückfichtigung, Zu-
fammenftimmendes wird auf verfchiedene Quellen verteilt
(15,19 und 17,16). Als wirklich einheitliche Größe
kommt weder A noch B heraus, trotz der dahin gehenden
Zufammenfaffung gegen Ende des Buches. Was von
altkirchlicher Tradition und Benutzung herbeigezogen
wird (in Zufammenfaffung S. 46of.), ift äußerft dürftig;
der Ignatius-Parallele zu 3, 8 (ad Philad. 7, 1) wird nicht
gedacht. Zutreffend find dagegen z. B. die Ausfcheidung
der mittleren Stücke von c. 3, die Streichung von deutenden
Zufätzen hin und her im Evangelium und der enge
Anfchluß von 1,3 (Ende) an 4, durch die altkirchliche
Tradition einhellig bezeugt, aber felbft in neueften Kommentaren
zu vermiffen.

Eine eingehendere Durchprüfung, als fie hier vollzogen
werden kann, würde noch andere Bedenken ergeben,
aber auch zur wiederholten Anerkennung nötigen, daß
im einzelnen viele feine und wichtige Beobachtungen
gemacht find. Der Wert des Buches in diefer Richtung
wird bleiben, wenn auch der ganze Aufriß und die darin
vorliegende Vollabficht als höchft problematifch gekennzeichnet
werden mußten. Man verzichte zunächft auf den
Anfpruch, mit Quellenteilungen, die keinen Reft übrig
laffen, den mannigfach fich häufenden Rätfein des Buches
beizukommen, oder bleibe wenigftens innerhalb der von
den genannten Vorgängern Spittas angedeuteten Grenzen,
fo fehr fie auch fchon von diefen überfchritten fein mögen
(vgl. Bouffets Auffatz in Theol. Rundfchau XII), und ergänze
die Arbeit theologifch nach der Seite, daß man
einerfeits das Gedankenmaterial der Briefe mit dem des
Evangeliums zufammenhängend (und weniger befangen
als es S. 461 ff. gefchehen) vergleicht, andererfeits aber
die fynoptifchen Perikopen und Spruchreihen, welche
offenkundig im vierten Evangelium verarbeitet find, mit
Rückficht auf ihre Herkunft und Verwendung im vierten
Evangelium, auch zur Aufhellung der näheren Chronologie
der evangelifchen Gefchichte, unterfucht. Der in allen
Zweigen des Neuen Teftaments unermüdlich arbeitende
Verfaffer will das nachholen (S. 458 t.), aber ob er damit
nachträglich wirklich feinen gewagten Aufftellungen über
das vierte Evangelium ein gefichertes Fundament unter-
fchieben wird, darf noch abgewartet werden.

Betheln (Hann.). Hennecke.

Heinze, Richard: Tertullians Apologeticum. (Berichte über
die Verhandlgn. d. Kgl. Sächs. Gefellfch. der Wiff. zu
Leipzig, Philologifch-hiftor. Kl., 62. Bd. 1910, 10. Heft).
(S.279—490.)gr.8°. Leipzig,B.G.Teubner 1910. M.6.60

Das zur Befprechung vorliegende Werk ift eine der
fchönen Früchte, die wir der neuzeitlichen Hinwendung
der Philologie zu den chriftlichen Schriften in den klaffi-
fchen Sprachen verdanken. Befonders zu Geffkens anregendem
Buch, ,Zwei griechifche Apologeten' (vgl. Th.
L. Z. 1908, I94ff.) fteht es in einem Verhältnis der Ergänzung
und Weiterführung, wohl auch der Einfchränkung
und Korrektur. Heinze wünfcht eine Vorarbeit zu einem
ftreng literaturgefchichtlich orientierten Kommentar zu
Tertullians Apologeticum zu liefern (S. 289, A. 1). Er
unterfucht in diefer Abficht in einer alle Teile gleichmäßig
durchdringenden Analyfe die Kompofition der
Schrift, bei jedem Argument fonderlich die Angemeffen-
heit und Beziehung zur literarifchen Form des Ganzen
der ungehaltenen Gerichtsrede einerfeits, fowie die eigentümliche
Weiterbildung der apologetifchen Tradition
durch Tertullian andererfeits ins Auge faffend. Nun ift

das Verftändnis der Kompofition nicht unabhängig von
der Beurteilung wefentlich folgender drei mit Tertullians
Schrift zufammenhängenden Fragen, deren Befprechung
daher die Analyfe begleitet. Zwei diefer Fragen find
literaturgefchichtlichen Charakters: die nach dem Verhältnis
des Apologeticum zu desfelben Autors libri II
adversus nationes und zu Minucius Felix' Dialog Octa-
vius; die dritte ift kirchengefchichtlich, nämlich die nach
dem politifchen Rechtsftand der Chriften und den Formen
des Chriftenprozeffes. Es kommt der Objektivität der
Beweisführung fraglos zu gute, daß die genannten verfchie-
denen Gefichtspunkte nicht in ebenfo vielen eigenen Ab-
fchnitten, fondern ftets miteinander bei jedem Kapitel
des Apologeticum behandelt werden; auch kann eben
durch diefe Anlage Heinzes Buch den erwünfchten Kommentar
einftweilen vertreten. Die Lektüre wird dadurch
freilich einigermaßen mühfam und die Überzeugungskraft
der Thefen leidet unter der Zerftreuung ihrer Begründungen
. So wäre es wohl vorteilhaft und dankenswert ge-
wefen, wenn etwa abfchließend die Ergebniffe in zu-
fammenhängender Rekapitulation der Ausführungen zu
den berührten Problemen zufammengefaßt worden wären.
Ein knappes, aber das wefentliche berückfichtigendes
Regifter kann diefen Mangel doch nur notdürftig erfetzen.

Ich verfuche zufammenzuftellen, was für die Gefamt-
betrachtung der klaffifchen Tertullianfchrift bei Heinzes
Unterfuchungen herausgekommen ift. Auf die zahlreichen
Beiträge zur Einzelerklärung kann ich im Rahmen diefer
Anzeige nicht eingehen. Alles Dogmen- und religions-
gefchichtliche ift dabei übrigens bewußt beifeite gelaffen
worden, was man bedauern, aber nicht bemängeln kann.
Zuvor bemerke ich noch, daß H. aufs neue zeigt, wie
der Text des Apologeticum wefentlich auf dem Fulden-
sis (verfchollene, von Fr. Junius 1597 benutzte Hand-
fchrift) aufzubauen ift; er geht darin mit Recht über Raufchen
in feiner trefflichen Spezialausgabe der Schrift
(Bonn 1906) hinaus.

Auch für Tertullian ift wie für feine griechifchen
Vorgänger die Gerichtsrede nur eine literarifche Form,
in die er feine auf ,Umftimmung der öffentlichen Meinung'
abzielenden Darlegungen kleidet; der Chriftenprozeß bietet
Verteidigungsreden ja gar keinen Raum. Aber Tertullian
handhabt diefe Form weit virtuofer als die Griechen.
Er nützt alle ihr zu Gebote flehenden oder erlaubten
Mittel aus und gewinnt durch die Behandlung der Vorwürfe
gegen die Chriften als einer gerichtlichen Klage
(was fie ja gar nicht waren) Möglichkeiten der Apologetik
und Polemik, die den Älteren unerreichbar blieben.
Seine Originalität, ftiliftifche Kraft und fentenziöfe Formulierung
glänzen dabei. Daß nicht nur in vielen ad-
vokatorifchen Fechterftücken, fondern überhaupt in der
völlig inadäquaten Faffung des Streites als einer Gerichtsverhandlung
die Probleme oft mehr erfchlagen als ge-
löft werden, die Sache, vor allem des Gegners, vielfach
vergewaltigt wird, findet eben mit der Wahl diefer Dar-
ftellungsform überhaupt in der hiftorifchen Lage feine
Erklärung. Die Zeitgenoffen lafen mit ganz anderen
Maßftäben als wir, und der Wirkung auf diefe waren
die gebrauchten Mittel fchwerlich unangemeffen. Das
gilt infonderheit, wenn man fefthält, was bei der Würdigung
der Apologeten in der Regel viel zu wenig bedacht
wird, nämlich daß diefe mindeftens fo fehr für ihre
Glaubensgenoffen wie für ihre Feinde fchrieben.

Die Analyfe beftätigt hinfichtlich der literarifch-chro-
nologifchen Kontroverfen die jetzt wohl herrfchend zu
nennende Meinung, daß die libri ad nationes vor dem
Apologeticum niedergefchrieben wurden, diefes aber
fchon während der Niederfchrift jener konzipiert war
(vgl. Harnack, Chronologie II 257 p) und nimmt in der
Minuciusfrage mit der Minorität der Forfcher zugunften
der Priorität Tertullians Stellung. Die Entfcheidung
gründet fich auf eine bisher bei der Einzelvergleichung
zu fehr vernachläffigte Beobachtung des Kompofitions-