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Ausgabe:

1912 Nr. 4

Spalte:

122-123

Autor/Hrsg.:

Mulert, Hermann

Titel/Untertitel:

Wahrhaftigkeit und Lehrverpflichtung 1912

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 4.

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Partei geradezu identifiziert, aber doch fo konkret gefaßt
wird, daß die Sozialdemokratie als feine legitime Vertreterin
erfcheint. Der naheliegende Einwand, daß die
Sozialdemokratie gegenwärtig durchaus nicht einigend
wirkt, fondern die Klaffen fcharf von einander fcheidet,
wird in Parenthefe durch die Bemerkung erledigt: ,Der
Widerfpruch zwifchen Klaffenkampf und Sozialismus wird,
je länger er dauert, um fo größer', — womit das Problem
doch wohl etwas zu leicht genommen wird. In dem
zweiten Vortrag ,Der Sinn der fexuellen Frage' fpricht
W. fich fcharf gegen das ,unfelige Standpunktwefen' aus
und behauptet, felbft keinen Standpunkt zu haben, fondern
nichts zu wollen, als ein lebendiger Menfch fein und
bleiben. Er hat aber doch einen ,Standpunkt', wie in
dem folgenden Vortrage ,Männerfinne und Frauenfchön-
heit' zutage tritt; er geht nämlich von der Vorausfetzung
aus, daß Geift und Natur nicht Gegenfätze find, fondern
Gott in der Welt und die Welt ein Ausdruck, ein Sichtbarwerden
Gottes ift (S. 89). Diefe Vorausfetzung dürfte
nicht ohne Einfluß auf feine Formulierung des Sinnes
der fexuellen Frage gewefen fein: Welche Stellung gebührt
der Sexualität im Gefamt- und Einzelleben, damit
fie dem Menfchen Werdekraft und Werdeluft gibt und
der Menfchheit eine Förderung wird auf dem Wege zum
Ideal der Einheit? Er findet in ihr eine Quelle der Freude,
infofern fie den Mann empfänglich macht für die Schönheit
des Weibes, die freilich erft zur Geltung kommt,
wenn das Körperliche nicht mehr als Selbftzweck auftritt,
fondern zur Erfcheinungsform einer reinen Seele geworden
ift. In dem Vortrag ,von der Liebe' wird die Entwicklung
der ehelichen Liebe aus dem Gefchlechtstrieb und
ihre mit der Kultur fortfchreitende Vergeiftigung ge-
fchildert, bis fie zur Vollendung in einer idealen Ehe
gelangt, in der Mann und Frau fich als Perfönlichkeiten
würdigen und jedes Ich das Du findet, das die notwendige
Ergänzung feines Lebens bildet. Mit diefer Schilderung
geht Hand in Hand eine fcharfe Kritik der Ehe, wie fie
heute noch die Regel ift; von der Proklamierung der
,freien Liebe' erwartet er allerdings keine Rettung aus
den gegenwärtigen Ehenöten, dagegen hält er eine Erleichterung
der Ehefcheidung in den Fällen für dringend
geboten, wo die Ehe eine Verfündigung gegen die Heiligkeit
der Liebe ift. Er erkennt damit die Forderung der .neuen
Moral', die auf leichtere Lösbarkeit aller gefchlechtlichen
Verbindungen dringt, als berechtigt an. Ebenfo ftimmt er
der Forderung der Gleichberechtigung ehelicher und unehelicher
Kinder zu; felbft die Gleichftellung der unehelichen
mit den ehelichen Müttern, die daraus abgeleitet
wird, will er in einzelnen Fällen nicht unbedingt verwerfen,
fo wenig er das .verhängnisvolle Problem' verkennt, das
fich in diefer Forderung verbirgt. Dagegen lehnt er die
Probeehe ab, wenn er auch die zentrale Forderung der modernen
Moral: Seele und Sinne follen fich nicht betrügen,
fich vorbehaltlos aneignet. Er will ihr durch der Vorschlag
genügen, daß man den Ernft der Gattenwahl auf den Ernft
des ganzen wirklichen Lebens bafieren folle. In feinem
letzten Vortrag befpricht er unter dem Stichwort ,Hemm-
niffe der Löfung' Maßnahmen zur Bekämpfung der Un-
fittlichkeit, die — nämlich die Bekämpfung — aber nach
feiner Überzeugung nur ,eine leider noch unentbehrliche
Begleiterfcheinung unferer fittlich fördernden Arbeit fein
darf (S. 175). Mit bemerkenswerter Schärfe wendet er
fich dabei gegen die Homofexuellen, die er übrigens lieber
in Heil- als in Strafanftalten untergebracht fehen möchte.
Das Schlußwort befchäftigt fich im erften Abfchnitt mit
der Frage, wie jedem Mann und jeder Frau in dem
entfprechenden Alter das Eingehen der Ehe zu ermöglichen
fei, und richtet im zweiten einen dringenden Appell
an die Kirchen, ,die Hoheit und Heiligkeit der Sexualität
anzuerkennen und die letzten Refte mittelalterlicher Prüderie
auf den Schutthaufen zu werfen' (S. 207). Unfer
Menfchwerden foll einen neuen glänzenden Anfang nehmen,
wenn man zu dem Vater aller Dinge fagen kann: ,Ich

danke dir, daß du mir Gefchlechtskraft gabft, mich zum
Schöpfer beriefft, in meiner Gefchlechtsart und Gefchlechtskraft
bin ich dir heilig'. So erfrifchend diefer Optimismus
wirkt, — er hat doch feine ernften Gefahren. Wie
fich das Gefchlechtsleben der Menfchheit geftalten würde,
wenn ,die Furcht vor dem Dämon der Sinnlichkeit' ver-
fchwände, das ift fchwer — oder vielmehr nicht fchwer
zu fagen, fobald man fich klar macht, daß diefe Furcht
doch fchließlich nichts anderes ift als das Schamgefühl.
Und ift diefes der Menfchheit nicht eingeboren, fo ift es
jedenfalls eines der edelften Produkte ihres Entwicklungs-
prozeffes. In ihm lehnt fich die Menfchennatur auf gegen
eine Einfehätzung der Sexualität, wie Wegeners Optimismus
fie herbeizuführen ftrebt.

Osnabrück. Rolffs.

Mulert, Lic. Hermann: Wahrhaftigkeit u. Lehrverpflichtung.

(VII,71 S.)gr.8°. Tübingen,J.C.B.Mohr 1911. M. 1.50

Durch feine vor einigen Jahren veröffentlichte Schrift
,Die Lehrverpflichtung in der evangelifchen Kirche Deutfch-
lands' 19061 war der Verfaffer in vorzüglicher Weife
vorbereitet und berufen, das von ihm behandelte Thema
in Angriff zu nehmen. In einem erften Kapitel (1—18)
fchildert er die Not, die darin befteht, daß weithin die
Aufrichtigkeit der Pfarrer bezweifelt wird. Für die evan-
gelifche Kirche ift es unvergleichlich fchlimmer als für die
katholifche, wenn der Verdacht aufkommt, der Pfarrer
rede nicht aus freiefter, innerfter Überzeugung heraus.
Vor allem ift das Vertrauen zur Wahrhaftigkeit der Geift-
lichen durch die fogenannten .Fälle' erfchüttert worden,
das heißt dadurch, daß Geiftliche um der von ihnen vertretenen
Anfchauungen willen gemaßregelt werden. Es
ift ein brennendes Intereffe unferer Kirche, die Lehr-
ftreitigkeiten fo zu geftalten, die inneren Kämpfe fo zu
führen, daß aller Druck auf die Gefinnungen, alle Er-
fchwerung ehrlichen Forfchens nach Wahrheit, ehrlichen
Ringens um felbftändige religiöfe Überzeugungen, alle
Verführung zur Unwahrhaftigkeit fchwindet. — Das Recht
des Vorwurfs zur Unwahrhaftigkeit hängt wefentlich von
der Formulierung der geltenden Lehrverpflichtung ab.
Von .Lehrverpflichtung und Lehrfreiheit' handelt das
zweite Kapitel (18—56), das die Frage aufwirft: Inwieweit
find die Verpflichtungsformeln zu ändern? Die Verpflichtungsformeln
find zum Minderten fo weit zu ändern, als fie
durch feierliche Unklarheit die Gewiffen vieler belaften
und fo ftreng klingen, wie es tatfächlich der theologifchen
Lage in unteren Kirchen nicht mehr entfpricht. — Das
dritte Kapitel (56 — 71) ftellt weitere praktifche Forderungen
und beleuchtet die gegenwärtige innere Lage unferer
evangelifchen Landeskirchen. Irrige Lehre des Pfarrers
darf man nicht als Schuld beurteilen. Daß der wegen
feiner Lehre Abgefetzte vor wirtfehaftlicher Not bewahrt
bleibt, und daß zur Verhandlung über Amtsenthebung
berufsmäßige Vertreter theologifcher Wiffenfchaft zugezogen
werden, darin erblickt M. den formellen Fort-
fchritt des fog. Irrlehregefetzes, das die Generalfynode
der altpreußifchen Landeskirche im Jahr 1909 angenommen
hat. Inhaltlich ruft aber diefes Gefetz fehr ernfte Bedenken
hervor, die der Verf. im Märzheft 1911 der .Studierftube'
dargelegt hat und auf welche er z. T. auch hier zurückkommt
. Im Einzelnen enthalten die folgenden, wie bereits
die früheren Seiten, eine Fülle fcharfer Beobachtungen
und treffender Bemerkungen, die durch die jüngften Vorgänge
eine glänzende Beftätigung erfahren haben. Mulert's
Schrift war großenteils fchon gefchrieben, bevor der Fall
Jatho akut wurde; im Lichte diefes Falls gewinnt fie felbft-
verftändlich an Intereffe und die hier erhobenen Forderungen
werden nur um fo dringlicher. Daß übrigens M. vor
allem die Abficht hatte, eine ethifche Schwierigkeit zu
beleuchten, dabei aber eine Reihe von Fragen unerledigt
1 läßt, weiß er felber am heften und hat er auch an einigen
! Orten angedeutet. So hat er am Schluß die Profefforen-