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Ausgabe:

1912 Nr. 4

Spalte:

120-122

Autor/Hrsg.:

Wegener, Hans

Titel/Untertitel:

Geschlechtsleben und Gesellschaft. Das sexuelle Problem und der soziale Fortschritt 1912

Rezensent:

Rolffs, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 4.

120

wüßt find, follen die Chriften bewußt fein, wie es die
Heiden bewußt nicht find. In diefen Reden fpricht wirklich
noch etwas der Predigtamtskandidat; fie haben homile-
tifche Art an fich in ihrer ganzen Haltung. Aber doch
wie eigenartig find fie alle ohne Ausnahme: bei aller
Fülle der fich rafch bewegenden Gedanken und befonders
der oft blendenden Bilder und Antithefen doch eine Ruhe
und eine Weihe, die einen in die Tiefe diefes wunder-
famen Herzens fchauen läßt, das fo ungebärdig braufen
und ftürmen kann.

Bei einem Schriftfteller wie K. ift das Perfönliche
alles. Darum greift man nach biographifcher Literatur
über ihn. Ein Anhang zu den ausgewählten Reden bietet
Erinnerungen von Frl. K. Lund, einer Nichte von K.,
die ein anziehendes und feffelndes Bild von ihm ganz aus
der Nähe entwirft. Dabei fehlt es aber durchaus nicht
an Blicken in die hinter dem neckifchen Antlitz der
,Gabel' verborgene Melancholie und in feine umfaffende
Aufgabe, alle Schlafenden und Siechen aufzurütteln. —

Viel umfaffender greift natürlich die befcheiden fo
genannte biographifch-kritifche Skizze des Kand. theol.
und Dr. med. R Hoffmann die Sache an. Man folgt ihm
fehr gern auf feinem Wege vom Äußern zum Innern feines
Helden. Die an Sokrates erinnernde Geftalt des auffallenden
Neckers und Plauderers in den Straßen Kopenhagens
, die Dialektik und die Schwermut als das Erbe feines
fonderbaren Vaters, die Nächftenliebe und die tiefe Reli-
giofität von K. felbft, dann die geiftigen und kirchlichen
Verhältniffe zu feiner Zeit und in feinem Lande, die durch
den Bund der Hegelfchen Philofophie mit der Kirche,
durch eine große Verweichlichung und Verflachung des
religiös-fittlichen Geiftes und die Nachwirkungen der
Romantik gekennzeichnet find — folche Gefichtspunkte
lehren einen die Willens- und Gedankenwelt K.s um-
faffend verftehn, wie fie in den beiden oben befproche-
nen Schriften ihren kennzeichnenden Ausdruck gefunden
hat. Nach einer ausführlichen Darfteilung feiner Schrift-
ftellerei behandelt K. hauptfächlich im Anfchluß an die
oben befprochene .Unwiffenfchaftliche Nachfchrift' das
Problem der religiöfen Gewißheit bei K., wobei er deffen
ftreng voluntariftifche Löfung, daß fie auf dem Willen und
nur auf dem Willen ruht, durch die Betonung der myfti-
fchen Erfahrung ergänzt. Den Schluß der Schrift bildet
eine umfaffende Würdigung K.s, die in feiner weltfeindlichen
, aus der Schwermut erklärbaren Askefe den tief-
ften Grund für feine Plauptzüge fieht: feinen Individualismus,
feine Liebe zum Paradoxen und feine formaliftifche Auf-
faffung der Lebensaufgaben, die ihm nur Übungen geift-
licher Gymnaftik waren. Darum konnte er fich auch mit
der Kirche nicht vertragen, fo viel fie ihm hätte geben
können und fo viel er ihr an lebenweckenden Anftößen
gegeben hat. — Gedankenvolle und fcharfgefchliffene
Leitfätze faffen alles zum Schluß noch einmal zufammen.

Schrempf macht in dem Nachwort zu der Unwiffen-
fchaftlichen Nachfchrift auf die Widerfprüche in ihr auf-
merkfam, fo z. B. auf den, daß K. mit feiner Polemik
gegen die Spekulation die Forderung verbindet, an eine
Abwandlung des Dogmas von der Menfchwerdung zu
glauben, das doch felbft ganz fpekulativ ift. Natürlich
will Schrempf damit K. nicht erledigen; im Gegenteil, es
ift klar, wie viel er ihm verdankt, mag er auch ,zur Zeit'
(f. f. Rede auf dem Weltkongreß) wieder anders denken.
Um K. fammeln fich faft alle großen theologifchen und
kirchlichen Probleme, die wir jetzt haben. Das religiöfe
a priori, der Glaube als Wagnis, das Verhältnis der allgemeinen
Erkenntnis zur Gefchichte — das liegt alles in
ihm; freilich fieht man auch, wie viel weiter uns der fog.
hiftorifche Jefus gebracht hat, den wir nicht verlaffen
dürfen, ohne fehr viel von ihm mitzunehmen, wenn wir
wieder fpekulativ oder myftifch werden wollen. — Ganz
verfchieden wird man K.s Bedeutung für die Frage nach
der Bedeutung der Kirche einfchätzen. Sicher gibt es
noch Verhältniffe genug, wo man ftarres Kirchentum und

Chriftentum mit dem Dynamit feiner Gedanken fprengen
muß. Aber im Ganzen ift feine Zeit vorbei. Wir brauchen
in einer ganz anders gewordenen Zeit alle die Mächte
wieder, wenn auch in verwandelter Geftalt, die er fo
grimmig befehdet: Gemeinfchaft, Sitte, Überlieferung, auch
fpekulative Bemühungen apologetifcher Art. Wir müffen
das Glauben wieder leichter machen, ohne feinem prak-
tifchen Ernfte etwas zu vergeben. F. W. Förfter ift
moderner als K. So war es gemeint, wenn ich beide als
Gegenfüßler hingeftellt habe.

Heidelberg. Niebergall.

Eisler, Dr. Rudolf: Philolophen-Lexikon. Leben, Werke
und Lehren der Denker. In 10 Lfgn. gr. 8°. Berlin,
E. S. Mittler & Sohn 1911. M. 16 —

Als Ergänzung feines für jeden Fachmann bereits
unentbehrlich gewordenen Wörterbuchs der philofophi-
fchen Begriffe' (3. Aufl. 1910) fchenkt uns der unermüdliche
Verfaffer nun auch ein Philofophen-Lexikon, das gewiß
eine ebenfo dankbare Aufnahme finden wird, wie das
größere Werk. Bei den bedeutenderen Philofophen werden
zuerft die wichtigften biographifchen Daten gegeben.
Dann folgt eine kurze allgemeine Charakteriftik, wobei
auch in fehr dankenswerter Weife der Einfluß früherer
Denker erwähnt wird. Darauf werden dann die Lehren
in knapper, überfichtlicher Faffung angegeben, und daran
reiht fich die Aufzählung der wichtigften Werke, Ausgaben
und Erläuterungsfchriften.

Die erfte Lieferung reicht von Aall bis Clifford und
enthält größere Artikel über Ariftoteles, Auguftinus,
Avenarius, Bacon, Beneke, Bergfon, Berkeley u. a. Man
fieht alfo die Alten neben den ganz Neuen. Dabei finden
nicht nur die hervorragenden Denker, fondern auch die
fleißigen Mitarbeiter am philofophifchen Werke Aufnahme
und zwar nicht bloß die Hochphilofophen, fondern auch
Theologen, Philologen, experimentelle Pfychologen und
Naturforfcher, die philofophifche Fragen behandelt haben.
Der Verfaffer verfteht es vortrefflich, das Wefentliche
hervorzuheben, und bei feiner umfaffenden Belefenheit
entgeht ihm nur wenig. Dem im Vorwort ausgefproche-
nem Wunfche Eislers, ihm Data und Berichtigungen zu
übermitteln, entfprechend, notiere ich Einiges, das mir
bei der Durchficht auffiel.

Unter den Biographien des Ariftoteles vermiffe ich
ungern Alexander Graut, Leben des Ariftoteles, deutfch
von Imelmann. In der Katharsisfrage hätte Alfred Bergers
Behandlung, die der Überfetzung der Poetik von
Th. Gomperz beigegeben ift, Erwähnung verdient. In
der Literatur über Avenarius fehlt das fehr gründliche
und inftruktive Buch von Jofef Petzoldt ,Einführung in
die Philofophie der neuen Erfahrung'. Beneke follte direkt
als Schöpfer des Pfychologismus bezeichnet werden.

Wir kommen auf das Werk, das bald abgefchloffen
vorliegen dürfte, fpäter nochmals zurück.

Wien. Wilhelm Jerufalem.

Wegener, Hans: Gefchlechtsleben und Gefellfchaft. Das

fexuelle Problem und der foziale Fortfehritt. 1.—10.
Taufend. (209 S.) 8°. Hagen i. W., O. Rippel (1910).

M. 2—; geb. M. 3 —

Wegener hat in feinem neueften Buche 6 Vorträge
vereinigt, die er in verfchiedenen deutfehen Städten gehalten
hat. Der erfte von ihnen ,Der Sinn der fozialen
Frage' fleht nur in lofer Beziehung zu dem durch den
Titel bezeichneten Inhalt, dient aber zur Charakteriftik
der Gefamtanfchauung des Verfaffers. Nach ihr ift der
Sinn der Gefchichte Menfchwerdung; Menfchwerdung ift
Jefuswerdung, und darunter wird verftanden, daß es den
Menfchen ins Bewußtfein tritt: wir find Einheit. Als eine
Etappe in diefer Entwicklung wird der Sozialismus gewürdigt
, der zwar nicht mit der fozialdemokratifchen