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Ausgabe:

1912 Nr. 4

Spalte:

106-109

Autor/Hrsg.:

Maurenbrecher, Max

Titel/Untertitel:

Von Nazareth nach Golgatha; Von Jerusalem nach Rom 1912

Rezensent:

Knopf, Rudolf

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I05 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 4. 106

Stücke in einen ftrafferen Zufammenhang, Überfetzung
zahlreicher Zitate aus jüdifchen Arbeiten ins Deutfche,
Hinzufügung verwandter Dicta ufw. Im übrigen war
ihnen das Manufkript heilig (S. VII). Das Ganze ift
alfo ein Werk des Verftorbenen geblieben.

Es foll eine Ethik des Judentums fein. Lazarus
hat als Jude von der Ethik feiner Glaubensbrüderfchaft
eine fehr ideale Vorftellung. ,Nach dem Inhalt fteht
keines [der ethifchen Systeme] höher als das Judentum'
(S. XIV)! S. 140 foll die Keufchheit ein ,ganz spezififch
jüdifcher Begriff fein!! Es gilt nur, die besten alten
und neuen Philofophen, Plato und Ariftoteles, Kant,
Herbart und Schleiermacher gründlich zu ftudieren, um
mit ihrer Hilfe die im Alten Teftament und im Talmud
niedergelegten hohen ethischen Gedanken des Judentums
in wiffenfchaftlicher Form zu bieten (S. XIV, XLf.).
Namentlich ift Kant der Gewährsmann unseres Darftellers
der jüdifchen Ethik. Das zeigt fich u. a. in der
Teilung des Stoffes in Tugend- und Pflichtenlehre S. 19;
vgl. auch das 9. und 10. Kapitel S. 57—253. Wir wollen
mit unterem Verfaffer nicht darüber {breiten, wieweit es
berechtigt ift, Kant zu einem Interpreten des Judentums
zu machen — jedenfalls würde fich Schleiermacher trotz
feiner Freundfchaft mit Henriette Herz gegen die ihm
zugedachte Rolle eines Führers zu den Füßen der Rabbiner
gefträubt haben — wir wiffen, daß fchon oft
genug die ethifchen Werte des Chriftentums von chrift-
lichen Syftematikern bald in hegelfche, bald in kantfche
Zwangsjacken gefteckt worden find! Gewiß bleibt aber:
dem Inhalt nach ift das, was Lazarus uns vorführt, keine
spezififch jüdifche Ethik! Diefen oder jenen feiner philo-
fophifchen Sätze kann Lazarus mit aus dem Zufammenhang
geriffenen oder um- und mißgedeuteten Ausfprüchen
aus dem Alten Teftament, dem Talmud oder anderer
nachbiblifcher jüdifcher Literatur belegen — das Eine
Wichtige, was Lazarus verfchweigt oder nicht weiß, jedem
Kultur- und Religionshiftoriker aber fattfam bekannt ift,
bleibt beftehen: die jüdifche Ethik ift von ihrem alt-
teftamentlichen Urfprung her Volks- oder Raffenethik.
Wie dem alten Griechen oder Römer jeder Nichtgrieche
oder Nichtrömer ein Barbar war, fo ift für den Juden
der Nichtjude ein Menfch zweiter Güte, wie ja alle Religion
außerhalb der israelitifchen keine wahre ift. Letzteres
wäre ja nicht fo fchlimm — denn felbftverftändlich
hält jede lebendige monotheiftifche Religion fich für die befte
in der Welt — die israelitifche Religion will aber felbft
Volksreligion bleiben, fie verzichtet auf Miffion, und be-
fchränkt fich auf die Kinder aus Abrahams Samen, oder
nimmt die Gojim nur als minderwertige Brüder auf. Daß
diefer engherzige Standpunkt — Gott fei Dank — fchon
im A. T. befonders durch die Propheten durchbrochen
ift, ändert an der Sache nichts: der Geist des Talmudismus
und des von ihm abhängigen heutigen Judentums
ift ethifch befchränkt. Das Judentum ift eine relative
Weltreligion, oder eine Weltreligion auf nationaler
Bafis — eine contradictio in adjecto. Philofophen find
bekanntlich häufig fchlechte Hiftorifter. Das gilt auch
für Lazarus. Die wunderfchönen Früchte, die Lazarus
für die Ethik des Judentums einheimft, flammen von
anderswo. Sie find gepflückt von den Bäumen der modernen
Geifteskultur Europas, die im Nährboden des
Chriftentums wurzeln. Freilich hat diefer auch wefent-
liche Kräfte vom altteftamentlichen Judentum bezogen!
Lazarus fchreibt eine Ethik des Judentums auf der Grundlage
der Humanität. Diefe flammt nicht fo fehr aus dem
alten, als vielmehr aus dem neuen Teftament. Erst seit
dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wiffen und
glauben die Menfchen, daß jeder hilfsbedürftige Menfch
Anfpruch auf Nächstenliebe hat, und erft feit Paulus gilt:
vor Gott ift kein Unterfchied zwifchen Jude und Grieche,
Mann und Weib, Herr und Knecht!

Es find fchöne und tiefe Worte, die Lazarus feinen
Lefern ans Herz legt. Man vgl. z. B. S. 67: ,Wer in der

Religion nicht Gott, fondern die eigene religiöfe Erregung
und Erhebung . .. fucht, der hat den Kern . . .
der Religion ... weggeworfen und nur die Schale behalten
', oder man lefe feine Ausführungen über den Urfprung
des Bösen (82), über die Schätzung der Arbeit
(96), die ethifche Bedeutung der Kulturtätigkeit (171),
die Ehe (265) und viele andere.

Mag das Befte in dem Lazarus'fchen Buch unter
jüdifcher Scheinflagge fegein: er bietet feinen Brüdern
unbewußt einen großen Dienst. Er zieht fie hinüber —
falls fie fich ziehen laffen — zu den ethifchen Idealen
der modernen europäifchen Kulturwelt und bahnt fo
eine Verfchmelzung des Judentums mit dem Christentum
an — oder ift diefe trotz Rom. 9—11 für beide Teile
nicht zu wünfchen? An fich ift eine moderne deutfche
Ethik des Judentums die Ethik einer Nation innerhalb
der deutfchen Nation und darum fachlich abzulehnen!

Heidelberg. Georg Beer.

Arnal, Prof. Andre: La personne humaine dans les Evan-
giles. (124 S.) gr. 8°. Paris, Fifchbacher 1911.

Der Verf. fucht eine Art von Anthropologie der
Evangelien zu geben. Er fcheidet nicht fcharf zwifchen
fynoptifchem und johanneifchem Lehrtropus, fondern beruft
fich, in nicht ungefchickter Weife, bald auf diefen,
bald auf jenen. Seine Darstellung ift gewandt, geistreich,
zum Teil auch warmherzig, doch entgeht er nicht immer
der Gefahr, über die behandelten Gegenstände Meditationen
anzustellen, die mit dem überlieferten Material der
Ausfprüche des Herrn in nur lofem Zufammenhange ftehn.
Eine stärkere kritifche Ader fehlt ihm. Das beweift fchon
das Zufammenwerfen der fynoptifchen und johanneifchen
Worte Jefu, des weiteren die nicht gerade tiefbohrende
Art, mit der fchwierige Probleme wie das der Stellung
Jesu zum Reichtum, zur Heidenmiffion, zur Parufie u. a.
abgehandelt werden, fo daß ein höherer wiffenfchaftlicher
Wert feiner Arbeit kaum zugesprochen werden kann.

Sie gliedert fich in drei Hauptabfchnitte: I. La
nature de la perfonne, vom pfychologifchen wie vom
moralifchen Gefichtspunkte aus betrachtet, S. 4—32.
In dem bekannten Gebot Jefu, Gott mit allen Kräften
des inneren Menfchen zu lieben, werden die einzelnen
termini weidlich ausgefchlachtet, obwohl Jefus hier ja nur
eine atliche Stelle zitiert. Des weiteren macht dann der
Verf. u. a. auf die Synonymität der Ausdrücke Jtvevfiu
und rpvxfi in den Ew. aufmerkfam. II. behandelt La
valeur de la personne, S. 32—89. Hier wird mit Recht
hervorgehoben, daß Jefus nicht die völlige Verderbtheit
der menfchlichen Natur annehme. Im übrigen wird die
P reiheit der menfchlichen Willensentfcheidung als feiner
Lehre entfprechend fehr kräftig betont, wobei allerdings
die gelegentlichen determiniftifchen Gedankengänge
der Ew. nicht ganz zu ihrem Rechte kommen. In III
wird La destinee de la personne befprochen, S. 90—122.
Sie befiehl einmal in der Fürforge des einzelnen für fein
individuelles Heil und fodann in der fozialen Miffion
des Christen, die an der Ausbreitung des Reiches Gottes
mitarbeitet.

Bemerken möchte ich noch zu S. 16, daß Luc. 24, 45> nicht vom
nvev/ta, fondern vom vov? die Rede ift, und zu S. 21, daß ayünrj auch
außerhalb des biblifchen Griechifch nachgewiefen ift. Vgl. Deißmann,
Licht vom Often, S. 46 und den Artikel «ydrr« bei Kögel in feiner
Neubearbeitung des bekannten Cremerfchen Wörterbuchs.

Königsberg i. Pr. R- A. Hoffmann.

Maurenbrecher, Max; Von Nazareth nach Golgatha. Unter-
fuchungen über die weltgefchichtl. Zufammenhänge.
(275 S.) 8». Berlin-Schöneberg, Buchverlag der ,Hilfe'
1909. Kart. M. 4—; geb. M. 5 —

— Von Jerulalem nach Rom. Weitere Unterfuchungen über