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Ausgabe:

1912 Nr. 3

Spalte:

83-84

Autor/Hrsg.:

Natorp, Paul

Titel/Untertitel:

Volkskultur und Persönlichkeitskultur 1912

Rezensent:

Steinmann, Theophil

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«3

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 3.

84

Wobbermin, Prof. D. Geo.: Gefchichte und Hiltorie in der
Religionswiflenfchaft. Über die Notwendigkeit, in der
Religionswiffenfchaft zwifchen Gefchichte und Hiftorie
ftrenger zu unterfcheiden, als gewöhnlich gefchieht.
(Zeitfchrift f. Theologie u. Kirche 1911. 2. Ergänzungsheft
.) (87S.) gr.8°. Tübingen,J.C.B.Mohr 1911. M. 2 —

Die Grundgedanken diefer Schrift, die in die Erörterung
einer während der letzten Jahre viel befprochenen
theologifchen Frage mit kraftvoller Eigenart eingreift,
laffen fich etwa folgendermaßen kurz zufammenfaffen.

Der Autor will fcharf unterfchieden wiffen zwifchen
,Hiftorie' und ,Gefchichte'. Jene ift ihm wefentlich ,die
hiftorifch, das heißt, mit den Mitteln und nach den
Methoden der Gefchichtswiffenfchaft zu erforfchende bzw.
erforfchte Gefchichte'. Diefe ift ihm .letztlich der Zu-
fammenhang der Menfchen als geiftich-fittlicher Wefen in
feiner Entwicklung'. Hieran anknüpfend, legt er in weit
umfichgreifender, aber durch Beftimmtheit und Klarheit
ausgezeichneter Auseinandersetzung mit Leffing, Kähler,
Herrmann, Bouffet dar, wie nicht fowohl die Hiftorie als
die Gefchichte von der größten Bedeutung ift für die
Religion, fpeziell die chriftliche Religion, fomit auch indirekt
für die Religionswiffenfchaft. Von Einzelheiten, die
dabei zur Sprache kommen, dürften noch von befonderem
Intereffe fein: die im Gegenfatz zu den Herrmannfchen
Anfchauungen aufgeftellte Theorie über ,das Moment, das
im Auferftehungsglauben zum Ausdruck kommt', und
über deffen Zugehörigkeit zum ,gefchichtlichen Chriftus-
bilde'; der durch die Diskuffion mit Bouffet veranlaßte,
warnende Hinweis auf das, was sich als der Rationalismus
' der Neufriesfchen Schule bezeichnen läßt; und die
kurze, jedoch treffende Polemik gegen Drews und deffen
.Chriftusmythe'.

Natürlich wird man ftreiten können über die von
Wobbermin geprägte Terminologie — er felbft legt auf
das Wort keinen Wert —; ebenfo über das Detail der
Konfequenzen, die er aus feiner Fundamentalthefe ableitet
, und über die Nutzanwendung, die er von diefer
macht: das Recht einer Unterfcheidung von der Art, wie
er fie vorfchlägt wird man unter allen Umftänden anerkennen
müffen. Und auch das ift hervorzuheben, daß fie
in den bisherigen Verhandlungen über das Verhältnis der
.Gefchichte' zu den .religiöfen Wahrheiten' nicht gebührend
berückfichtigt worden ift. Sie kräftig zur Geltung gebracht
zu haben, ift ein Verdienft der Schrift.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Natorp, Prof. Dr. Paul: Volkskultur und Perfönlichkeitskultur.

6 Vorträge. (VIII, 176 S.) 8°. Leipzig, Quelle & Meyer.

M. 3 —-; geb. M. 3.60

Diefe Vorträge find bis auf den letzten (Über Freiheit
und Perfönlichkeit) auf der .Volksakademie' des Rhein-
Mainifchen Verbandes für Volksbildung im Herbft 1910
zu Wetzlar gehalten worden. Die erften fünf Vorträge
bilden einen gefchloffenen Zufammenhang. Ihr gemein-
fames Thema ift .Sozialpädagogik'. Der angefügte Vortrag
über Freiheit und Perfönlichkeit entftand im Sommer
desfelben Jahres. Seine Orientierung ift eine andere, wenn
auch diefelbe Grundanlchauung durchfchlägt und die Einheit
herftellt. Immerhin aber hat die Mitberückfichtigung
diefes mitveröffentlichten, etwas anders orientierten Vortrags
den Titel des ganzen Buches in einer Weife be-
ftimmt, daß man, lediglich nach dem Titel urteilend, etwas
anderes darin zu finden erwartet, etwa eine prinzipielle
Erörterung über das Wechfelverhältnis der beiden Themabegriffe
Volkskultur und Perfönlichkeitskultur; tatfächlich
ift das eigentliche Thema des Buches Sozialpädagogik.

Aufgebaut ift das Ganze auf einer vortrefflich an-
fchaulichen und faßlichen Darfteilung der fozialen Pädagogik
Peftalozzis, wie denn überhaupt der Geift der

großen und freien Männer aus der Zeit des deutfchen
Idealismus in allen pädagogifchen Forderungen des Buches
lebt. N. tritt (mit Schleiermacher) ein für die Selb-
ftändigkeit der Bildungsarbeit gegen ihre Feffelung durch
ftaatlichen Bürokratismus, für lebendige Dezentralifation
anftatt fchablonifierender Zentralifation, für das Prinzip der
Selbfttätigkeit und Erziehung durch und zu Selbfttätig-
keit anftatt Bevormundung und paffivem Hinnehmen;
nicht Anfchauungen beibringen, von welcher Art fie auch
fein mögen, fondern befähigen, fich felbft Anfchauungen
zu bilden. Dem .Dogmatismus' ift N. ja ein gefchworener
Feind; er widerfpricht ganz befonders den tiefften Grundlagen
feiner philofophifchen Weltanfchauung. Und darin
hat er ohne Zweifel recht, daß ohne jeden Abftrich wirkliche
Eigenerrungenheit der Gefamtanfchauung über alle
etwa erhoffte .Korrektheit' derfelben geftellt werden muß.
Sehr zu erwägen ift ficher auch der Gedanke, die frühere
natürliche Einheit z. B. des Dorfes mit ihrer unmittelbaren
fozialpädagogifchen Wirkung durch die auch fozial-
pädagogifch orientierte freie Gemeinfchaft gleicher Lebens-
verhältniffe zu erfetzen und die von diefer zu leiftende
gegenfeitige Selbfterziehung. N. entwirft ein Bild folcher
abgeftufter felbfttätiger Erziehungsgemeinfchaften von der
Schule aufwärts bis zu Volksvereinen der Erwachfenen.

Wer, wie es mir vergönnt war, in einem Schulorganismus
heranwachfen durfte, der damals noch nicht unter
dem Einfluß der die Selbfttätigkeit fo leicht bedrohenden
ftaatlichen Reglementierung ftand — ich meine das Pädagogium
zu Niesky — der freut fich des Geiftes der Freiheit
und der Zukunft in Natorps Buch und wünfcht ihm
nicht nur viele Lefer, die ihm auch feine leichte Lesbarkeit
verfchaffen wird, fondern auch ftarke und weite Wirkung
. Nicht mitgehen konnte der Ref. nur in demjenigen,
was N. über religiöfe Erziehung ausführt. Auch hier
geht ohne Zweifel über alle Korrektheit das wirklich eigene
Leben; darin wünfchte ich allem Religionsunterricht von
dem Geifte diefes Buches. Gewiffe Abweichungen werden
fich aber ganz von felbft für denjenigen ergeben müffen,
der das Spezififche wirklicher Religion grade in einem
eigenartigen Realitätsverhältnis fleht — was ohne allen
.Dogmatismus' möglich ift — und Natorps Religion darum
nicht mehr als wirkliche Religion kann gelten laffen, wie
fehr er fie als Transcendenzftimmung in der Weltanfchauung
anerkennen mag.

Gnadenfeld. Th. Steinmann.

Seeberg, Geh. Konfift.-Rat Prof. D. Reinhold: Nähe u.
Allgegenwart Gottes. Nebft e. Anh.: Über die älteften
trinitarifchen Formeln. (Biblifche Zeit- u. Streitfragen.
VII. Serie, 1. Heft.) (45 S.) 8°. Gr.-Lichterfelde-Berlin,
E. Runge 1911. M. — 60

Die Schrift enthält erweiterte Auffätze aus der Allg.
ev.-luth. K.-Z. 1910. Der Verf. gewinnt in umfichtiger,
teilweife für die nichttheologifche Leferfchaft diefer Hefte
recht fchwieriger Unterfuchung das Ergebnis: die Allgegenwart
Gottes ift ein Attribut der Schöpfung und
Erhaltung des Naturzufammenhangs, die Nähe Gottes ein
Attribut feiner geiftigen Herrfchaft in der Gefchichte, fie
bezeichnet Gottes Verhältnis zu uns, fofern es Willens-
gemeinfchaft zwifchen ihm und uns in Glauben und Liebe
ift. Aus dem Begriff Gottes als actus purus, dem Begriff
der Trinität als dem dreifach ewigen Willensakt, gewinnt
der Verf. dann die Thefe, daß der perfönliche Gott notwendig
dreiperfönlich gedacht werden muß. Während
die erlöfende Gottesherrfchaft (die Wirkung Gottes zur
Gründung der Kirche) im Stadium der Vollendung als
das Werk Chrifti und des h. Geiftes anzufehen ift, ift der
diefe letzte Offenbarung vorbereitende und weiter ermöglichende
Gefchichtsverlauf mitfamt der Welterhaltung das
fpezififche Werk des Vaters. Welterhaltung und Weltregierung
Gottes find nur logifch auseinandertretende