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Ausgabe:

1912

Spalte:

76-78

Autor/Hrsg.:

Budge, E. A. Wallis

Titel/Untertitel:

Coptic Homilies in the Dialect of Upper Egypt 1912

Rezensent:

Schmidt, Carl

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 3.

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über Auguftins Lehre vom Staat führt Seidel im wefent-
lichen darauf zurück, daß man den Ausdruck civitas
terrena mit ,Staat' überfetzt und darum die von
Auguftin unzweifelhaft gebotene pofitive Würdigung des
Staates nicht erkannt hat. Durch ftändige, die Analyfe
der Äußerungen Auguftins begleitende Auseinander-
fetzung mit der Literatur hofft darum Seidel, das oft erörterte
Problem zu löfen. Nun ift freilich die falfche
Überfetzung keineswegs allgemein verbreitet, alfo auch
nicht verantwortlich für die .Irrtümer' (S. 5). Auch die
Auseinanderfetzung mit der Literatur ift weder erfchöp-
fend noch überall angemeffen. Doch das mag zurücktreten
. Die Hauptfrage ift die, ob durch Seidels Unter-
fuchung ein zutreffenderes Verftändnis gewonnen ift.

Die civitas terrena ift die societas impiorum, fo daß
das Attribut terrena das Gottlofe und Verkehrte schlechthin
bezeichnet (immunditia cordis terrena sapere), während
die civitas als Staatswefen ein beftimmtes Staats-
wefen ift, welches eine irdifch gefinnte Bürgerfchaft, einen
Teil der gefamten civitas terrena einfchließt (S. 9). Urteile
über die civitas terrena find alfo nicht Urteile über
den Staat. Zweifellos find letztere nur dort vorhanden, wo
die Ausdrücke res publica, regnum, civitas, imperium
begegnen. Für Auguftins Staatslehre ift es nun bedeutungsvoll
, daß das antike Staatsideal, nach welchem der
einzige Zweck des Menfchen der Staatszweck ift, abgelehnt
wird und ftatt deffen das chriftliche Staatsideal
aufgeftellt wird, welches verlangt, daß der Staat Hand
in Hand mit der Kirche dem einzelnen in Erreichung
feines Endzweckes, feiner ewigen Vollendung, behilflich
fei. Möglich ift dies, weil das Wefensmerkmal des Staates
die auf der Vernunft beruhende natürliche Gerechtigkeit
ift, deren Mangel erft den Staat zu einem latrocinium
macht. Nun ift freilich die natürliche Gerechtigkeit ein
vitium, ein Mangel. Aber diefer Mangel trifft nicht den
Staat als Einrichtung, fondern die einzelnen Bürger.
Durch das Chriftentum wird der Staat, der keine Folge
der Sünde ift, vervollkommnet. Er erhält übernatürliche
Aufgaben, die feine Bedeutung erhöhen, aber nicht ihn
zu einer übernatürlichen Einrichtung machen und nun
die Einheitlichkeit des Staatsbegriffs vernichten. Nur das
Staatsideal wird verwirklicht. Der Herrfcher trägt dafür
Sorge, daß die Untertanen den chriftlichen Glauben bekennen
und das Staatsleben des Chriften übernatürlich
beftimmt ift. Diefe Aufgabe kann natürlich nur im Bunde
mit der Kirche gelöft werden, die autoritativ den Glauben
verkündigt und der der Staat feine Machtmittel zur Verfügung
ftellen muß. Damit ift nicht der Staat zum Diener
der Kirche gemacht. Denn er bleibt ein natürliches Gut, das
auch die Kirche anerkennt, und die Pflege der übernatürlichen
Gerechtigkeit entfpricht feinen eigenften Intereffen.

Eine hiftorifche Unterfuchung im Sinne einer ge-
fchichtlichen Verknüpfung der auguftinifchen Ideen hat
S. offenbar nicht vorlegen wollen. Jedenfalls fehlt jeder
Verfuch dazu, obwohl hier noch keineswegs das letzte
Wort gefprochen ift. Der feit Hahns Ticoniusftudien
übliche Nachweis der Abhängigkeit von Ticonius ift
zwar verdienftlich, aber nicht ausreichend. Der Zu-
fammenhang mit der vorkatholifchen Entwicklungsftufe
des Chriftentums oder mit dem urchriftlichen Kirchenbegriff
wäre ebenfowohl ins Auge zu faffen wie die Beziehungen
zur griechifchen Deutung des Verhältniffes
von Staat und Kirche, die der auguftinifchen keineswegs
fo entgegengefetzt ift, wie man auf Grund der gangbaren
Darftellung meinen möchte. Von Auguftin aus
findet man den Weg fowohl zur .griechifchen' wie zur
.römifchen' Deutung des Verhältniffes von Staat und
Kirche. D. h. aber, fobald es fich um die empirifchen
Fragen handelt, fleht er noch ganz innerhalb der Bewegung
des theodofianifchen Imperiums. Doch den hiermit
verbundenen Problemen ift S. ganz aus dem Wege

fegangen. Er hat offenbar ohne Rückficht auf hiftorifche
ufammenhänge Auguftins Anfchauung entwickeln wollen.

Hier ift ihm die Korrektur einiger verftiegener Behauptungen
, z. B. derjenigen Sommerlads, geglückt. Auch das
kann man Seidels Unterfuchung entnehmen, daß Auguftin
den Staat als ein relatives Gut hat würdigen können. Sobald
aber Auguftin die empirifche Betrachtung zu gunften
der ideellen verläßt, kennt er folche relative Würdiguno-
nicht mehr. Der Staat befitzt nun weder eine felbftän-
dige noch eine ethifch eigenftändige Bedeutung. Jetzt
denkt Auguftin in Gegenfätzen, die keine Brücke verbindet
. Der Staat ift trotz Seidel eine Folge der Sünde
und er hat trotz Seidel keine eigene Gerechtigkeit. Seidels
Unterfcheidung des Staates als Inftitution und Ge-
meinfchaft von irdifch geftnnten Bürgern entfpricht nicht
den Motiven Auguftins, kann% übrigens auch von Seidel
nicht durchgeführt werden (vgl. S. 23 u. 24). Ebenfo-
wenig werden mit der fcholaftifchen Formel der die
Natur anerkennenden und über ihr fich aufbauenden
Übernatur die Schwierigkeiten befeitigt. Denn diefen
fcholaftifchen fyftematifchen Ausgleich der Gegenfätze
kennt Auguftin noch nicht. Wenn er ideell urteilt, hat
der Staat überhaupt keine Gerechtigkeit. Das entfpricht
auch dem Neuplatonismus Auguftins. In der ideellen
Betrachtung bleibt darum auch der Staat angewiefen
auf die Kirche und ganz von ihr abhängig. Eigene fitt-
liche und kulturelle Aufgaben kann er fich nicht ftellen.
Es ift Auguftin nicht möglich, eine religiös neutrale und
vom Inftitutionellen ausgehende Würdigung des Staates
zu finden. Wenn er grundfätzlich denkt, werden die
Gegenfätze unbedingt und dem Staat bleibt nur Unterordnung
übrig. Das ift felbft Seidels Ausführung über
Wefen, Aufgabe und Urfprung des Staates zu entnehmen
und feiner Darftellung des Verhältniffes von
Staat und Kirche. Aber ftatt den ideellen Gegenfätzen
und empirifchen Kompromiffen nachzugehen, wird
Auguftin unter Seidels Händen zu einem halben Schola-
ftiker, was doch Auguftin nie gewefen ift. Das ift
freilich eine Schwäche nicht Seidels allein. Daß die
Scholaftik bei allem Traditionalismus eine fchöpferifche
Neubildung ift, haben andere vor Seidel überfehen. Eine
fchärfere hiftorifche Verarbeitung des Stoffs hätte Seidel
auf richtigere Bahnen führen können. Als Beitrag zur
Korrektur folcher, die aus Auguftins Buch de civitate
dei ein Handbuch des Staats- und Kirchenrechts machen
und feine ideellen Antithefen fofort in die empirifche
Wirklichkeit übertragen, darf Seidels Unterfuchung Beachtung
verdienen. Als hiftorifche Unterfuchung wird
fie fchwerlich als ausreichend gelten dürfen.

Tübingen. Otto Scheel.

Budge, E. A. Wallis, M. A., Litt. D.: Coptic Homilies in
the Dialect of Upper Egypt. Ed. from the Papyrus
Codex Oriental 5001 in the Brit. Museum. With 5
plates and 7 illustr. in the text. (LV, 424 S.) gr. 8°.
London, Asher & Co. 1910.

Bereits im Jahre 1898 hat Prof. Hans Achelis in
der Theolog. Litztg. Nr. 28, col. 675 ff. die Aufmerkfam-
keit der Gelehrten auf diefen Fund von 10 Homilien in
koptifcher Sprache gelenkt, die in einem von Herrn
Budge in Ägypten erworbenen Papyruskodex des British
Mufeum (heute Cod. orient. 5001) aufbewahrt werden.
Nach längerem Zögern ift endlich die Ausgabe von
Budge felbft beforgt worden, fo daß wir jetzt über das
Ganze ein ficheres Urteil fällen können.

Was die Handfchrift anbetrifft (vgl. auch die Be-
fchreibung von Crum im Catalogue of the Coptic Mss.
in the British Museum, London 1905, p. ooff), fo umfaßt
fie 175 Blätter, die noch in einem alten Ledereinbande
zufammengehalten wurden, u. zw. trägt das erfte Blatt neben
der Bezeichnung ifc als Quaternio die Paginierung pn*. =
181. Demgemäß haben wir das 2. Volumen eines Corpus
von Homilien vor uns, indem der Abfchreiber zwei Papyrus-