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Ausgabe:

1912

Spalte:

71-73

Autor/Hrsg.:

Lublinski, Samuel

Titel/Untertitel:

Der urchristliche Erdkreis und sein Mythos. 2 Bde 1912

Rezensent:

Dibelius, Martin

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7'

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 3.

72

Vorftellung vom Urmenfchen, vom Menfchen xax £§oywi>
in Zufammenhang zu bringen. Daß diefe Vorftellung (in
mythifcher, halbmythifcher und unmythifcher Form) da
war, wird fich nicht leugnen laffen; H. übergeht merkwürdigerweife
die Vita Adae. Jedenfalls liegt der fynop-
tifche Menfchenfohn näher am paulinifchen eaxaxog Aöafi
als an der Figur der danielifchen Vifion. Wie der Ausdruck
,Sohn' (des Menfchen) entftand, bleibt auch bei
unferer Meinung fchwierig. Soll ,Sohn' die zweite Ära
in der großen Weltrechnung bedeuten, ähnlich wie der
,kommende Menfch' des Paulus? oder genügt die ,gegen-
ünnige' Erklärung? Daß diefer geheimnisvolle Menfch von
den Evangelienfchreibern als Titel für ihren Chriftus gewählt
werden konnte, begreift fich unfchwer.

Bedürfnis wäre alfo, daß eine Unterfuchung über den
Urmenfchen (den 1. und 2. Menfchen) geliefert würde,
die mit dem weiten religionsgefchichtlichen Blick die
wiffenfchaftliche Sorgfalt verbindet, von der der Verf. uns
in der vorliegenden Brofchüre eine Probe gegeben hat.

Tübingen. Volz.

Lublinski, Samuel: Der urchriftliehe Erdkreis und lein Mythos.

2 Bde. 8°. Jena, E.Diederichs 1910. je M. 3 —; geb. M. 4—

1. Die Entftehung des Chrifteutums aus der antiken Kultur. (258 S.)

2. Das werdende Dogma vom Leben Jefu. (188 S.)

Des Dichters und Kulturphilofophen Weg läuft anders
als der des Hiftorikers. Vom allgemeinen Eindruck einer
gefchichtlichen Größe, der im Grunde auf einer ftark
nachempfundenen Stimmung beruht, führt er den Suchenden
zu den Faktoren hiftorifchen Werdens und letzten
Endes zu den bis dahin ignorierten Quellen. Was Wunder,
daß ihm nun auch die Quellen den erften, alles beftim-
menden Eindruck wiederzugeben fcheinen! Den Weg vom
Eindruck zu den Quellen ift Lublinski bei feinen Studien
über die Entftehung des Chriftentums gegangen. Und
feine beiden Bücher zeigen alle Vorzüge und Nachteile
diefes im Grunde unwiffenfehaftlichen Verfahrens. Die
rein äfthetifchen Vorzüge: ficheres Erfaffen des Ziels,
fröhliches Herangehen an den Stoff unter ganz beftimmten,
dem Autor längft: feftftehenden Vorausfetzungen, Klarheit
im großen Wurf — diefe unendlich vorausfetzungsvolle,
einfeitige, und darum des pofitiven Zieles ganz fichere
Arbeitsweife ift das Gegenteil von Drews' eklektifcher,
von Plypothefe zu Hypothefe fpringender Methode. Die
Nachteile: eine auf eigentlichen Beweis verzichtende Voreingenommenheit
, ein Erlahmen der Kraft überall dort,
wo die Quellen fich der leitenden Thefe nicht ohne weiteres
anbequemen, völliges Verfagen im Detail.

Als wefentliches Ideal der ausgehenden Antike zeichnet
der Autor in dem bisweilen an Gemeinplätzen haftenden
Prolog des erften Bandes die hochgefpannte ethifche
Romantik, das neue Element im antiken Leben, das berufen
war, in Ethik und Religion einen fchier unheilbaren
Dualismus zu fchaffen. In der Ethik: die Bedürfniffe der
Zeit und das Ideal der Bedürfnislofigkeit ftreiten mit einander
; in der Religion: die fittliche Forderung verträgt
fich nicht mit der wieder erweckten Mythologie, dem
religiöfen Naturalismus. ,Es war nunmehr die Aufgabe
der Zeit, die Formel zu finden, die den Zwiefpalt zugleich
aufhob und aufbewahrte.' Nachdem L. diefen Zwiefpalt
an einzelnen gefchichtlichen Erfcheinungen, dem Judentum
— unter Vernachläffigung des Unterfchiedes zwifchen
Paläftina und der Diafpora — und der Apotheofe der
Herrfcher, aufzuzeigen verfucht hat, gibt er des Rätfels
Löfung: Die Kulturfynthefe, die auf der Grundlage der
ethifchen Romantik die auseinandergefprengten Elemente
der antiken Welt zu neuer Bindung vereinte, war das
Chriftentum, genauer: die jüdifch-chriftlichen Myfterien.
Denn an Stelle des im Stadtftaat betätigten nationalen
Ideals war der ,Kulturnationalismus' getreten und hatte
fich in den Myfterien feine Ausdrucksweife gefchaffen.
Aber die helleniftifchen Myfterien in ihrem bunten Neben-

I einander beförderten einen phantaftifchen Polytheismus,
der der Zeit nicht genügte. So kam alles darauf an, daß
ein Myfterium gefunden wurde, das eine ftrenge Aus-

j fchließlichkeit bewahrte; dem Judentum ermöglichte es
feine nationale und monotheiftifche Ausfchließlichkeit, in

J feinem Schoß das .endgültige Myfterium' zu erzeugen.
So vermag Lublinski, noch ehe er die Quellen darum
befragt, bereits zu fagen, wie das Urchriftentum ausfehen

I mußte. Die wirkliche Erfcheinungsform diefes xQidTiaviö-
(iog vor/rög fcheinen ihm gnoftifche Sekten, die Ophiten,
Naaffener, Peraten, darzuftellen. Diefe haben fchon vor
dem erften chriftlichen Jahrhundert exiftiert; die Kämpfe
des jüdifchen Krieges aber haben den Zwiefpalt herbeigeführt
, der die Urfache zur Trennung wurde: Die chrift-

I liehen Myften fagten fich von den Schriftgelehrten los
und konnten nun ,auf dem univerfaleren Boden der antiken
Gefamtkultur' ,eine neue und allumfaffende Religion' aufbauen
. .Leider fehlt uns aber jede nähere Darftellung
der Einzelheiten, und wir find hier vollkommen auf Vermutungen
angewiefen, die fich uns allerdings förmlich
aufdrängen' (S. 217).

Man fieht: der Eindruck vom Chriftentum als der
Kulturfynthefe beherrfcht diefe Darftellung des erften
Bandes: Die Entftehung des Chriftentums aus der antiken
Kultur. L. hat über das kulturfremde, weltfremde, kultusfremde
Urchriftentum hinweggefehen und fein Auge auf
Erfcheinungen gerichtet, die ihrer ganzen Art nach nur
als Abkömmlinge, und zwar von ungleichen Eltern, zu
begreifen find. Die Darftellung jenes vorchriftlichen
Chriftentums innerhalb des Judentums beginnt charakte-
riftifcher Weife mit der Kosmogonie, als ob die koloffi-
fchen .Philofophen' die Anfänge des Chriftentums darfteilten
! Die Quellen werden dabei von L. in diefem
erften Band nicht etwa fchlecht interpretiert, fondern kühn
ignoriert. Im Sinne L.s ift ein anderer Einwand, der fich
dem Lefer aufdrängt, noch belaftender: er hat, auch was
den ganzen äfthetifch reizvollen Aufriß betrifft, falfch ge-
fehen, denn das Urchriftentum ift keine Kulturfynthefe.
Nöte und Sorgen nicht der erften Jahrzehnte nur — deren
Gefchichte ignoriert ja L.s Betrachtung! — nein, der erften
Jahrhunderte werden zum guten Teil erklärt durch die
Schwierigkeit des fteil anfteigenden Weges von der Unter-
fchicht zur Oberfchicht, von der ungelehrten zur philo-
fophifchen Frömmigkeit, von der mündlichen Propaganda
zur literarifchen. Es fei nochmals an den Kolofferbrief

| erinnert: diefes Dokument wäre unverftändlich, wenn das

j paulinifche Chriftentum Neigung zur Kulturfynthefe im
Sinne L.s gehabt hätte. Denn dann würde der koloffifche
Synkretismus von Paulus nicht bekämpft, fondern dem
.ausfchließlichen Myfterium' zu Nutz und Frommen der

| Kulturfynthefe dienftbar gemacht worden fein.

Es wird nach alledem niemanden wundern, daß der
zweite Band, betitelt ,Das werdende Dogma vom Leben

j Jefu', beftimmt, die Theorie mit den Quellen zu ftützen,

j gegenüber dem erften ftark abfällt. Allzu peinlich wirkt
hier die gequälte Auslegung der Evangelien, in denen

! wir ,die wunderbare Lehre von dem „zweiten Gott", von
dem erftgeborenen Sohn' hören, ,dem Logos, der einer

I aus den himmlifchen Heerfcharen war und zur Rechten
des Thrones feines göttlichen Vaters ftand' (S. 9). Eine
Charakteriftik, die nicht einmal auf das vierte Evangelium

I paßt! Freilich ift der Verf. für die anders gearteten Elemente
— die ,rationaliftifchen', um in feiner Sprache zu
reden — in den Evangelien nicht blind. Je nachdem,
ob die mythologifche oder die rationaliftifche Betrachtungsweife
in mir überwiegt, kann ich das eine als das
Primäre und das andere als das Sekundäre anfehen' (S. 15).
Und darum ift es zunächft eine ,noch gänzlich unent-
fchiedene Streitfrage, was von beiden zuerft da war und
den andern Teil herbeirief: der Mythos oder die Biographe,
das Wunder oder die Ethik' (S. 21). Aber — ,es fehlt
der profane Hiftoriker'! Das Schweigen des Philo (!) und
des Jofephus ift um fo belaftender, weil fich nach den