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Ausgabe:

1912

Spalte:

823-824

Autor/Hrsg.:

Kleutgen, Joseph

Titel/Untertitel:

Die Glaubenspflicht des Katholiken 1912

Rezensent:

Wieland, Konstantin

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Seite 1

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Teile (I), einer allzu kurzen (nur 16 S.) und auch etwas
einfeitigen Darfteilung der Friesfchen Erkenntnislehre,
befchränkt Kaftil fich völlig auf die Erörterung der richtig
erkannten Grundprobleme. Er kennt offenbar Nelfon
beffer als Fries felbft. In dem kritifchen Teile (II), der
faft den ganzen Umfang des Buches einnimmt, lehnt K.
zunächft von der eingehend begründeten Evidenztheorie
Martys aus Fries' Lehre von der unmittelbaren Anfchau-
ungserkenntnis a posteriori und der mittelbaren Urteilserkenntnis
(ein Erbe Descartes') (i) ab, da die Unmittelbarkeit
der Wahrnehmung keine Garantie für ihre Wahrheit
biete, ja ihre unmittelbare Evidenz, die vielmehr nur
gewiffen Urteilskiaffen zukomme, ausgefchloffen fei, weil
infolge der realen Zweiheit von Subjekt und Objekt die
Möglichkeit des Irrtums offenftehe. Ebenfo fucht der
Verfaffer die (übrigens nicht identifche) Kant-Friesfche
Lehre von der reinen Raumanfchauung als einer Erkenntnis
a priori (2) zu entwurzeln.

Wichtiger als diefe intereffanten Abfchnitte ift für
den Theologen, der fich mit Fries befchäftigt, der letzte
Teil (II, 3), eine zerfetzende Kritik der Kantfchen und
der Friesfchen Begründung metaphyfifcher fynthetifcher
Urteile a priori, alfo auch des religiöfen Apriori bei Fries.
Fries' Kritik an Kant (Verwerfung des ,formalen Idealismus
' und des transzendentalen Beweifes') wird als im
wefentlichen richtig anerkannt, aber für nicht einfchneidend
genug erklärt. Fries und Nelfon haben nach K. zwar
richtig erkannt, daß Vernunftkritik ,ein Stück Pfychologie
und nicht etwa eine Wiffenfchaft a priori' ift, und darin
liegt ihr dauerndes Verdienft, aber ihr eigener und als
einziger noch übrigbleibender Verfuch der Rechtfertigung
apriorifcher fynthetifcher Sätze durch ihre Zurückführung
auf eine unmittelbare Erkenntnis ift ebenfalls gänzlich
mißlungen.

Diefe Lehre habe felbft an den gerade von Fries
gerügten Fehlern des ,Dogmatismus', des ,Myftizismus',
des .Transzendentalismus' und in betreff des Wahrheitsgefühls
auch an dem des ,Pfychologismus' teil. Für Kaftil
ergibt fich daraus als Endrefultat, daß die ganze Frage
nach der Möglichkeit fynthetifcher Urteile a priori ein
Scheinproblem ift; er gibt deshalb die Parole aus: Los
von der Kant-Friesfchen und zurück zu der Humefchen
Problemftellung! (aber nicht -löfung!). Aber felbft wenn
die Lage der Kantianer fo verzweifelt wäre, wie K. fie
anfleht, berechtigt ihn dies doch nicht zu folch maßlofen
Urteilen über Kant, wie er fie z. B. S. 334 abgibt.

Die Darftellung von Fries' Lehre ift bis auf einige
Punkte richtig; ich nenne nur den wichtigften: K. behauptet
nämlich S. 304f, nach Fries fei die Deduktion
aus dem /transzendentalen Leitfaden' eine Aufgabe der
pfychifchen Anthropologie oder der empirifchen Pfychologie
. Darin flecken zwei — fcheinbar unausrottbare,
aber durch Fries' fchwankende Terminologie mitverfchul-
dete — Fehler: K. vermengt hier ineinander 1. die anthropo-
logifche Auffindung der metaphyfifchen Prinzipien
mittels des tr. Leitfadens und ihre Rechtfertigung als
notwendiger Vernunfterkenntniffe durch die Deduktion
aus einer Theorie der Vernunft, an die fich dann noch
die eigentlich ,metaphyfifche' Aufgabe anfchließt, und
2. die pfychifche und die (mit ihr verbundene, zugleich
aber) über ihr fich erhebende, durch Aufgabe wie Verfahren
von ihr getrennte philofophifche Anthropologie,
welch letzterer allein Auffuchung und Deduktion der
metaphyfifchen Erkenntniffe zufällt. Und nur die Annahme
der unmittelbaren Erkenntnis' ermöglichte Fries diefe
,anthropologifche' Wendung feiner Kritik.

Bückeburg. G. Weiß.

Kleutgen, Jofeph, S.J.: Die Glaubenspflicht des Katholiken.

Sonderabdruck aus der .Theologie der Vorzeit'. Neu
hrsg. u. durch e. fyftematifche Überficht üb. die Lehr-

kundgebgn. der Kirche vermehrt v. Dr. Alfred Moli tor.
(V, 220 S.) 8°. Paderborn, F. Schöningh 1912. M. 2.40

Die Hauptthefis Kleutgens lautet folgendermaßen
(S. 40. 77): ,Man muß zugeben, daß eine Lehre, die, zu
welcher Zeit es immer fei, als eine geoffenbarte allgemein
gelehrt wird, für uns bloß hierdurch und abgefehen von
aller kirchlichen Entfcheidung zum Dogma wird'. Zwar
anerkennt Kleutgen (S. 74): .Gegenftand des chriftlichen
Glaubens kann nur das fein, was die Apoftel auf Befehl
Jefu Chrifti als von Gott geoffenbarte Wahrheit verkündigt
haben'. Mit diefer Grundregel bringt K. feine Hauptthefe
auf folgende Weife in Einklang (S. 75. 124. 125): ,Eine
Lehre würde nicht Dogma fein und nicht allgemein vorgetragen
werden, wenn fie nicht von den Apofteln verkündigt
und als folche von den Vätern überliefert wäre'.
Dogmatifche Verbindlichkeit vindiziert K. jeglicher päpft-
lichen oder konziliaren Lehrkundgebung (S. 124), fogar
den bloßen Zenfuren, durch welche die Kirche an den
Tag legt, wie weit fie entfernt ift, den Katholiken die
Freiheit zuzuerkennen, alles, was nicht geradezu häretifch
ift, frei annehmen und lehren zu dürfen' (S. 113). Als
Anhang fügt Molitor noch eine Zufammenftellung von lehramtlichen
Entfcheidungen der Kirche bei.

Zu feiner Hauptthefe gelangt Kleutgen durch eine
eigenartige Auslegung des Kanons des Vinzenz von Lerin
(S. 37 ff.). Er deutet denfelben in dem Sinne, daß alles
das katholifche Glaubenslehre fei, was entweder gegenwärtig
die ganze Kirche rings auf dem Erdkreife bekennt,
oder was die Väter in früheren Zeiten bereits geglaubt
haben. Es fei alfo keineswegs erfordert, daß eine Lehre
zu allen Zeiten und an allen Orten einmütig als Dogma
anerkannt worden fei. ,Ift diefe Anerkennung in der
Gegenwart allgemein, fo bedarf es keiner weiteren Nach-
forfchungen' (S. 39.40). Eine folche Deutung des berühmten
Kanons ift felbft in der katholifchen Literatur
unerhört und widerfpricht, wie K. felbft unwillkürlich
(S. 40) ausführt, völlig der Anfchauung und Praxis der
alten Kirche, die auf dem Standpunkt ftand: nihil novan-
dum, nisi quod traditum est. Bei feinen Ausführungen
über die Unfehlbarkeit der ecclesia dispersa überfieht K.
folgerichtig den wefentlichen Unterfchied, ob die Bifchöfe
(und Theologen) eine altüberlieferte, bzw. formell ent-
fchiedene Lehre verkünden oder ob fie erft fpäter aufge-
j kommene Lehren vortragen, über deren Offenbarungscharakter
eine Definition noch nicht erfloffen ift. K.s Hauptthefis
ift aber auch mit der Entfcheidung des Vatikanifchen
Konzils über die päpftliche Unfehlbarkeit nicht in Einklang
zu bringen. Hiernach find nur die wenigften päpftlichen
Lehrkundgebungen als unfehlbar zu betrachten, obwohl fie
regelmäßig ohne Ausnahme in der Kirche zu allgemeiner
Geltung gelangen, nach K. alfo als Dogmen anerkannt
werden müßten. Der Grundirrtum K.s befteht in feiner
Auffaffung von der Aufgabe des kirchlichen Lehramts,
die er weit über die Verkündigung der Offenbarungs-
wahrheiten hinaus fich erftrecken läßt (S. 116. 117)- Er
meint, es müffe dem Gläubigen fuß fein, in allen Stücken
aller Ungewißheit fich enthoben zu wiffen und feinen
Verftand der kirchlichen Lehre zu unterwerfen (S. 61).
Die Thefis K.s fcheitert aber auch an den Tatfachen der
Kirchengefchichte, welche uns z. B. den Hexenwahn, das
ptolemäifche Weltfyftem u. a. m. als zeitweiligen Inhalt
der allgemeinen Kirchenlehre nachweift.

(Genaueres f. in ,Das Neue Jahrhundert' 1912 Nr. 25,
fowie in: Wieland, .Eine deutfche Abrechnung mit Rom'.)

Ulm. Konftantin W i e 1 a n d.

Johnson, Francis Howe: God in Evolution. A pragmatic
study of theology. (VII, 354 S.) 8°. London, Long-
mans, Green & Co. 1911. s. 5 —

In diefem hübfch gefchriebenen Buch fucht Johnson
nachzuweifen, daß Naturwiffenfchaft, Philofophie und