Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1912 Nr. 26

Spalte:

822-823

Autor/Hrsg.:

Kastil, Alfred

Titel/Untertitel:

Jakob Friedrich Fries‘ Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis 1912

Rezensent:

Weiß, G.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

821

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 26.

822

den Fortfehritt auszudrücken, in feiner Lockefchen Faffung
lieber als autologifches Argument bezeichnen. Ein Bück
in die deutfehe Aufklärungstheologie zeigt fofort, daß
das kosmologifche Argument hier in der autologifchen
Zufpitzung erfcheint, die ihm durch Locke zuteil geworden
. So bei Chriftian Wolf, §928 der Vernünftigen
Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menfchen
1720 und in der Theologia naturalis I 1736 §§ 24fr. So
vor allem auch in der Darftellung, die Kant in der
Kritik der reinen Vernunft von diefem Argument gegeben
hat, S. 632 der zweiten Auflage. Wer über den
ungemeinen, von Wolf felbft in der Vorrede zu feiner
deutfehen Logik 1712 freimütig bezeugten Einfluß Lockes
auf die Geftaltung der deutfehen Aufklärungsphilofophie
unterrichtet ift (vgl. darüber G. Zart, der Einfluß der
englifchen Philofophen feit Bacon auf die deutfehe Phi-
lofophie des 18. Jahrhunderts 1881 p. 7), der wird keinen
Augenblick daran zweifeln, daß auch die Modifikation
des kosmologifchen Arguments unmittelbar auf Locke
zurückgeht.

Lockes Anfchauungen vom Wefen des Chriftentums
find in der Reasonableness enthalten. Die klare und
durchfichtige Wiedergabe feiner Gedanken ift bei dem
Fehlen einer neueren, allgemein zugänglichen Verdeutfch-
ung — eine folche ift demnächft von Charles Winckler
in Zfcharnacks Quellenfchriftenfammlung zu erwarten —
doppelt erwünfeht und dankenswert. Das Wefen des
Chriftentums ift nach Lockes, an den Evangelien und der
Apoftelgefchichte orientierter Anfchauung der Rechtfertigungsglaube
mit feinen beiden Vorausfetzungen, dem
Glauben an Jefu Meffianität und dem Willen zur Buße,
d. i. zur fittlichen Lebensführung. An der Konftruktion
des meffianifchen Lehrftücks find befonders bemerkenswert
die Bemühungen Lockes um das Meffiasproblem
(p. 45f.) Er ift der erfte gewefen, der diefes heute
fo viel verhandelte Thema als Problem empfunden
und ernfthaft im pofitiven Sinne zu erledigen
verfocht hat. Crous, der als Philofoph nicht verpflichtet
war, diefen Zufammenhang zu fehen, hat gleichwohl ein
wertvolles Dokument zu feiner Erkenntnis beigebracht.
Er weift auf einen Brief von Limborch hin (p.46. Anm. 1),
in dem diefer tüchtige und kundige Theologe Lockes
Ausführungen über Jefu Zurückhaltung als etwas durchaus
Neues bezeichnet. Aus dem Bericht über die Reasonableness
ift endlich die Mitteilung hervorzuheben, daß
nach Locke die Hebung der fittlich-religiofen Kräfte durch
die Ausficht auf Lohn und Strafe mit zur Sendung Jefu
gehört (p. 50) — ein Punkt, aus dem ich folgern möchte, I
daß Troeltfch in feiner großen Darfteilung (Kultur der |
Gegenwart IV i2 1909 p. 6gof.) die Pofitionen Lockes
etwas zu kräftig idealifiert und etwas zu nahe an Leffing
herangerückt hat.

Lockes Toleranzgedanken läßt der Verf. mit befon-
derem Gefchick aus der .doppelten Reihe eigener Erleb-
niffe und kirchenpolitifcher Zuftände' herauswachfen
(p. 65). Lockes Toleranzprogramm ift das Programm
einer nach Umfang und Eigenart fcharf abgegrenzten
Duldung' (p. 65). Auf die reichen politifchen Erfahrungen
der Vergangenheit und Gegenwart geftützt, entrollt es
in feften und ficheren Zügen das Zukunftsideal der freien
Kirche im freien Staat und der reinlichen Trennung von
religiöfem Bekenntnis und bürgerlicher Rechtsftellung.
Dennoch gibt es Grenzen der Duldung. Der Staat hat
das Recht und die Pflicht zum Einfehreiten, 1. wenn das
religiöfe Bekenntnis (wie bei den damaligen Katholiken
in England) politifch gefährliche Konfequenzen zur Folge j
hat, 2. wenn es Zucht und Sitte bedroht, 3. im Fall des !
notorifchen Atheismus, ,da mit der Leugnung Gottes die j
Sicherheit von Eiden und Verträgen hinfällig wird und
die Religionsfeinde überhaupt keine religiöfe Toleranz
beanfpruchen können' (p. 81). Es wäre lehrreich gewefen,
wenn der Verf. diefe Ideen wenigftens anmerkungsweife
mit den Prinzipien von Bayles berühmter Abhandlung

verglichen hätte, die unmittelbar nach der Aufhebung
des Ediktes von Nantes unter dem Titel Contrains-les
d'entrer erfchien. Auch vermißt man gerade nach diefer
trefflichen Darftellung einen Ausblick auf die fruchtbare
Ausgeftaltung der Lockefchen Ideen in Amerika, da
Locke doch wohl beanfpruchen darf, der Philofoph und
mehr als Philofoph des amerikanifchen Freikirchentums
zu fein.

Lockes Anflehten über Religion und Kirche überhaupt
gipfeln nach Crous' überzeugender Darftellung in
dem Lobpreis eines (mild) eudämoniftifchen und (dezi-
diert) individualiftifchen Chriftentums, das Kultus und
Dogma beifeite fchiebt und dafür innere Überzeugung
und praktifche Sittlichkeit in den Vordergrund rückt (p. 84).

Der zweite Hauptteil beginnt mit einer Uberficht
über die Erbfchaft des älteren Deismus, d. i. über die
religionsphilofophifchen Pofitionen Herberts von Cher-
bury und Hobbes'. Daran fchließt fich als Hauptftück
eine Unterfuchung über Lockes Stellung in der Gefchichte
des Deismus. Ich halte die Ausführungen diefes zweiten
Teils im ganzen für weniger gut gelungen, als die des
erften, wenn ich auch gerne zugeftehe, daß auch hier
vieles richtig und zutreffend ift. An den Tendenzen des
Deismus gemeffen, ift Lockes Religionsphilofophie mehr
retardierendes, als vorwärtstreibendes Element, und zwar
im bellen Sinne des Wortes. Crous weift mit Recht
darauf hin, daß Locke in der Bibel- und Wunderkritik
weit vorfichtiger ift, als die Deiften feiner Zeit (p. 104),
daß er dem pofitiven Chriftentum näher als irgend ein
anderer fleht (p. 106) und daß das eigentliche Freidenker-
tum mehr gegen, als durch ihn entftanden ift (p. 100).

Lockes eigentümlicher Konfervatismus in allen Fragen
der Religion hängt zweifellos damit zufammen, daß er,
wie feine großen Freunde Newton und Boyle und in
fcharfern Gegenfatze zu Hobbes, den er haßte, von
ftarker perfönlicher Frömmigkeit war. Sein religions-
philofophifcher Standpunkt fchwankt zwifchen den beiden
Möglichkeiten des fupranaturalen Rationalismus (Effay)
und rationalen Supranaturalismus (Reasonableness). Fortgewirkt
hat nur der erfte Standpunkt, und zwar in Verbindung
mit der empiriftifchen Zerfetzung der Herbertfehen
Normalreligion. Aus dem fupranaturalen Rationalismus
ift zunächft ein radikaler Rationalismus geworden,
der mit dem Widervernünftigen auch das Übervernünftige
aus dem Offenbarungsinhalt ausfeheidet (Toland) und
fchließlich nur noch ein Chriftentum bekennt, das fo alt
ift wie die Welt (Tindal). Der radikale Rationalismus ift
dann durch Hu me zum rationalen Radikalismus geworden,
der alle Religion für Unfinn erklärt und damit den ganzen
Deismus erledigt.

So denke ich mir die Stellung Lockes. Doch möchte
ich diefe Anzeige nicht fchließen, ohne noch einmal nachdrücklich
auf die Verdienfte der befprochenen Unterfuchung
hinzuweifen. Sie bildet ein würdiges Gegenftück
zu Güttiers Herbert-Monographie und hat fich durch
ihre Tüchtigkeit ein entfehiedenes Recht auf den Dank
und die forgfältige Beachtungaller Mitforfchenden erworben.

Berlin. Heinrich Scholz.

Kaftil, Prof. Dr. Alfr.: Jakob Friedrich Fries' Lehre v. der
unmittelbaren Erkenntnis. Eine Nachprüfg. feiner Reform
der theoret. Philofophie Kants. (Aus: .Abhandlgn.
d. Fries'fchen Schule'.) (342 S.) gr. 8°. Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht 1912. M. 8 —

Vorliegende gehaltvolle Arbeit, die in den Abhandhandlungen
der Friesfchen Schule nur Gaftfreundfchaft
genießt, bietet eine kritifche Auseinanderfetzung mit dem
Fries-Nelfonfchen Löfungsverfuch des Erkenntnisproblems
vom Standpunkte der modernen Urteilspfychologie (Fr.
Brentano und A. Marty) aus. In dem einleitenden