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Ausgabe:

1912 Nr. 25

Spalte:

791-792

Autor/Hrsg.:

Kähler, Martin

Titel/Untertitel:

Die Heilsgewißheit 1912

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Seite 1

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791 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 25. 792

Skepfis überfchritten mit der Behauptung, angefichts des
Unterfchiedes zwifchen Organismen und anorganifcher
Materie müfle gefagt werden, daß ,die anorganifche Materie
fich nicht zu einem Organismus entwickeln kann' (S. 59).
Ebenfo wird der vorgefaßten Entfcheidung zulieb gefagt,
,die Verfuche, den Entwicklungsvorgang konkret vorzu-
ftellen, beweifen die Unmöglichkeit der Urzeugung'
(S. 70), fo daß ,die Abweifung der Urzeugung unabweisbar
' fei (S. 72). Die genetifchen Zufammenhänge werden
mit bekannten guten Gründen auf die Möglichkeit poly-
genetifcher Stammbäume befchränkt. Der 3. Abfchnitt
fucht, nachdem die Theorien des Darwinismus und Neodarwinismus
, des Lamarckismus und Neolamarckismus
eine vielfach unbillige Zurückweifung erfahren haben, nach
Indizien für die Umbildungsfähigkeit heutiger Organismen
und zeigt an einigen Beifpielen, daß die heutigen Arten
nicht konftant find. Er berückfichtigt hierzu die Tierund
Pflanzengeographie, die Erfcheinungen des Parafitis-
mus und der Symbiofe fowie embryogenetifche Vorgänge.
Das Ergebnis tritt in der Form auf, es gebe Veränderungen
in progreffivem und regreffivem Sinn, wobei jedoch
nie die Zugehörigkeit zu einem beftimmten Typus preisgegeben
werde. Es entftehen neue Arten, Gattungen
und felbft Familien, aber keine Tiere oder Pflanzen mit
ganz abweichendem Bauplan und höherer Gefamtorga-
nifation.

Wien. Beth.

Kahler, Prof.D. Martin: Die HeilsgewiHheit. (Biblifche Zeit-
u. Streitfragen. VII, 9/10.) (58 S.) 8°. Gr. Lichterfelde,
E. Runge 1912. M. —80

,Die Heilsgewißheit ift der entfprechende Ausdruck
für das dauerkräftige Trauen auf den Unfichtbaren als
fähe man ihn, und das hat niemand ohne den Geift und
das von ihm hervorgerufene Kindesgebet. Sein Zeugnis
aber erwacht nur gegenüber dem Bilde deffen, in dem
man den Vater gefehen hat, und diefes Bild geht durch
die Zeiten und Völker in dem Dienfte feiner Gemeinde
an dem Wort von der Verhöhnung, weil er in das Seine
gekommen ift und die Reiche der Welt Gottes und feines
Chrift geworden find' (47). In diefen, feiner eigenen Schrift
entlehnten Worten laffen fich die wefentlichen Gedanken
K.'s über eine Frage zufammenfaffen, die zu den Grundproblemen
der reformatorifchen Glaubenslehre gehörte.
Die Ausführungen des Vf.s gelten der Heilsgewißheit nach
ihrem Grund, ihrer Entftehung, ihrem Beftand, ihrer kirchlichen
Bedingtheit und ihrer theologifchen Tragweite. Es
find die religiöfen Anfchauungen Luthers, die hier in ihrer
Kraft und Einfachheit zur Darfteilung kommen, geftützt
auf eine breite biblifch-theologifche Bafis, und mit fteter
Beziehung auf manche Strömungen und Stimmungen der
modernen Frömmigkeit. Der gefund lutherifche Urfprung
und Charakter des K.'fchen Standpunktes bewährt fich
daran, daß der Doppelgegenfatz, der die Gedankenwelt
Luthers beherrfcht, auch die Direktiven der dogmatifchen
Erörterungen K.'s bezeichnet.

Einerfeits weift der Vf., Rom gegenüber, den perfön-
lichen individuellen Charakter der evangelifchen Heilsgewißheit
nach. ,Viele können durch zuverfichtliche Gewißheit
mit einander verbunden werden; die Gewißheit
aber kann Niemand für den andern, kann allein jeder für
fich haben. . . Diefe Gewißheit ift nicht etwas neben
dem Glauben, für ihn und vor ihm oder aus ihm und
nach ihm; nicht die Vorausfetzung für feine Entftehung,
nicht eine Bedingung feines Beftandes, nicht ein Lohn für
feine Leiftung und eine Zugabe zu feinem Gewinne. Sie
ift das Kennzeichen an ihm, daß er wirklich und voll
Glaube fei' (25. 24).

Nicht minder treffend, nicht weniger zeitgemäß find
die Betrachtungen, deren Spitze gegen eine falfche Auf-
faffung der Heilsgewißheit, als eines individuellen Erleb-
niffes gerichtet ift. Der unveräußerliche proteftantifche

Subjektivismus, der aller Zauberei und aller mechanifchen
Gemeinfamkeit widerfpricht, ift weder fingulär noch ifoliert,
weder wilkürlich noch gefchichtslos. ,Es ift ein gefährlicher
Irrtum, die Heilsgewißheit an den Graden des
Fortfehritts meffen zu wollen. . . Ihr Beftand fchließt die
Selbftbegründung — in welcher Erlebnisweife immer —
nicht weniger aus als die Vergewifferung durch andere,
angeblich mit Gottes Anfehn ausgeftattete Perfonen oder
Anftalten. Denn wer die Begründung in dem Grade feiner
Gottinnigkeit und Selbftzucht finden will, ift damit den
Schwankungen des Herzens preisgegeben, und denen blieb
auch ein Paulus und vollends ein Luther unterworfen.
Dahinter erhebt fich das Gefpenft des Zweifels, der Verdacht
der Autofuggeftion und des Illufionismus. . . Die
Einfügung in den Wirkungskreis der Kirche ift für uns
die Bedingung des Gotteserlebniffes, doch nicht diefes
felbft. — Die Heilsgewißheit entfteht nicht ohne den Dienft
am Wort, ohne den Zufammenhang mit dem gefchicht-
lichen Chriftentum' (34. 35. 21. 41. 55).

Neben diefen für die Charakteriftik des Ganzen fo
wefentlichen Gefichtspunkten, feien noch zwei Momente
hervorgehoben, die zum richtigen Verftändnis und zur zutreffenden
Formulierung des Problems wertvolle Beiträge
liefern dürften. Einmal wirft der Hinweis darauf, daß die
chriftliche Heilsgewißheit in der Luft des Univerfalismus
atmet, einen Gewinn ab, der praktifch in der Begründung
des Miffionsgedankens aufs glücklichfte zur Geltung kommt
(40. 57). Zum Zweiten wird K. auch der Tragweite des
Problems für die Theologie gerecht, ,in welcher fich aus-
fpricht, was die Chriftenheit von fich felbft weiß und was
dann mit der fonft vorhandenen Erkenntnis aneinander-
gefetzt wird' (51).

In Summa, K.s Schrift ift nach manchen Seiten hin
fo lehrreich und fo fördernd, daß der Dank dafür weder
durch einzelne Äußerungen wider die böfe moderne Theologie
noch durch die oft fchwerfällige, nicht überall durchfichtige
Form der Darftellung, irgendwie beeinträchtigt
werden kann.

Straßburg i. P. P. Lobftein.

Meyer, Stadtpff. Superint. Geh. Kirchenr. D. Fr.: Aus
dem letzten Amtsjahre. Predigten, in der Marienkirche
zu Zwickau geh. (VII, 110 S. m. Bildnis u. 1 eingedr.
Fkfm.) gr. 8°. Zwickau, Gebr. Thoft 1912. M. 3—;

geb. M. 3.50

Nur mit Wehmut nimmt man diefe Predigten des
geiftesmächtigen Propheten des Evangelifchen Bundes in
die Hand. Das Vorwort, das in Fakfimile wiedergegeben
ift, fagt uns, daß es Zeugniffe aus dem letzten Amtsjahre
find, und unter dem Bilde des Predigers, das das Buch
fchmückt, lieft man auch den Todestag. So ift es denn
gleichfam das Vermächtnis eines Verewigten. Meyers
Predigtweife hat ihre befondere Form; oft nähert fie fich
mehr dem Vortrage, der ruhig entwickelt und zu überzeugen
fucht, als der Predigt, die zeugen will. Dann
aber auch wieder kann der Verfaffer mit hinreißendem
Schwung und ftarkem, echtem Pathos diefe Aufgabe der
Predigt erfüllen. Für dieFefte find oft ganz eigenartige Texte
genommen, fo für das Reformationsfeft: Rom. 8, 14—16,
Wir werden Gottes Kinder durch den Glauben; Neujahr:
Luk. 12,4—9, Jefu Ratfchläge für das neue Jahr; Bußtag:
Hebr. 10, 28—29, Das evangelifche Chriftentum ift unfere
Krone. Aber auch die anderen Predigten find ftets inter-
effant im guten Sinne und zeigen eine originale Art,
fo z. B. die für Totenfonntag: Unfer irdifches Leben ift
ein Wachfen für die Ernte des Jenfeits; oder die Weih-
nachts-, Charfreitag- und Ofterpredigt und die letzte
Predigt des Heimgegangenen über Apg. 3, 1—10: Chriftliche
Barmherzigkeit. — Die Ausführung verläuft in ganz
einfachen Sätzen, ohne gerade den zerhackten Stil zu zeigen;
die Sprache ift ftets vornehm und edel, oft von wirklich