Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1912 Nr. 24

Spalte:

752-753

Autor/Hrsg.:

Glawe, Walther

Titel/Untertitel:

Sebastian Francks unkirchliches Christentum. Für und wider Kirche und Dogma? 1912

Rezensent:

Köhler, Walther

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

751 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 24. 752

Seit kurzem befitzen wir nun wirklich drei verfchie-
dene Veröffentlichungen von Handfchriftenproben aus der
Reformationszeit. Die bedeutendfte ift die Straßburger
von I. Ficker und O. Winckelmann (I—II. 1902. 1905):
eine gefchloffene Gruppe von Briefen in prächtiger Edition
— allerdings auch ziemlich koftfpielig (kleine Ausgabe 1906).
Das andere Extrem eines mehr umfaffenden, aber gedrängten
und wohlfeilen Hilfsmittels vertritt G. Mentz in
feinen Handfchriftenproben (1912), die von den wichtig-
ften Humaniften, Reformatoren, Fürften und Räten kleine
Beifpiele geben; gleichzeitig ein archivalifches Hilfsmittel
zur Identifizierung von Händen und ein akademifches
zur Einführung in die Entzifferung der Schriften diefer
Zeit, deffen Brauchbarkeit in palaeographifchen Übungen
ich im letzten Semefter bereits erprobt habe; aber der
Zufammenhang reißt einem fortwährend ab und der
geringe Umfang der einzelnen Proben ermöglicht oft
nicht einmal den individuellen Schreibgebrauch auch nur
durch das Alphabet vollftändig zu verfolgen. Zwifchen
beiden Werken fteht nach Anlage, Verwendbarkeit und
Preis die vorliegende Sammlung in der Mitte (ähnlich
der kleinen Straßburger Ausgabe); ffe ift erfchwinglich
und vermeidet die Mängel der zuletzt befprochenen; ihr
Kreis soll umfaffend fein und doch nicht zu weit; ,alle
Perfönlichkeiten die vertreten find, gruppieren fich um
Martin Luther als deffen Freunde und Mitarbeiter, Korre-
fpondenten, Anhänger und Gegner'. Die politifche Ge-
fchichte tritt durchaus zurück hinter der Literär- und
Kirchengefchichte.

Bei der Auswahl im einzelnen iff: der palaeographifche
Gefichtspunkt zunächft maßgebend gewefen. Leichteres
und Schwereres (auch hier kommen lehrreiche Schwierigkeiten
von der Art der Konzepte Johann Friedrichs bei
Mentz vor), verdorbene Blätter, Stücke von denfelben
Perfönlichkeiten aus verfchiedenen Zeiten und in abweichenden
Schriftformen, umgekehrt verwandte Züge
verfchiedener Perfönlichkeiten u. dgl. m. Auch der Zweck,
verfprengte Eintragungen mit Hilfe diefer .Proben'
leichter zu verifizieren, wird ftärker betont als das inhaltliche
Intereffe. Immerhin ift doch Wert gelegt auf die
Wiedergabe vollftändiger Briefe, fodaß neben dem Formalen
auch das Inhaltliche zu feinem Recht kommt;
freilich würde man dazu gern ein paar hilfreiche Nach-
weifungen des gelehrten Verfaffers haben; wer weiß z.B.
gleich (oder könnte es auch nur mit den nächftliegenden
Hilfsmitteln feftftellen), um welche fchweren Sorgen es
fich in der erregten Korrefpondenz zwifchen Stephan
Roth von Zwickau und feiner Frau handelt (36); und das I
ift nur ein Beifpiel aus vielen.

Laffen wir aber das Inhaltliche auf fich beruhen und
folgen wir dem Intereffe des Herausgebers an der palaeographifchen
Seite feiner Sammlung, fo laffen fich an den
Schriften vielleicht in noch ftärkerem Maße als bei Mentz
(wo die Kanzleifchriften vorwiegen) bildungsgefchichtliche
Feftftellungen ganz befonderer Art machen, zu denen
man bisher fo nicht in der Lage war. In Mentz' Sammlung
ift die einzig fpezififch italienifch - humaniftifche
Schrift (nach der Mode des mittleren 16. Jahrhunderts)
diejenige des Flacius Illyricus (17.). Sonft fcheinen die
Fürften, Räte, Sekretäre ausnahmslos und mit ihnen die
norddeutfchen Reformatoren die hergebrachte Schul- und
Kanzleifchrift zu fchreiben, die füddeutfchen Reformatoren
dagegen mehr oder weniger die Humaniftenfchrift; dort
z. B. Spalatin (12), Karlftadt (13), Bugenhagen (10), Cru-
ciger (11), Aurifaber (15), Kraft (21); aus Süddeutfchland
dagegen Melanchthon (6), Brenz (9), Schnepf (20), Zwingli
(24). Ausnahmen fehlen nicht, vor allem Jonas (10) und
Mathesius (15) aus dem Wittenberger Kreis, auf der
anderen Seite Calvin und Sleidan (26). Aus dem reicheren
Material individueller Schriften bei Clemen ergeben fich
dazu aber bemerkenswerte Ergänzungen und Berichtigungen
. Auch hier freilich Flacius Illyricus (20), trotz
anderer Feder und flüchtigerem Duktus, ausgebrochen

südländifch, auch hier Juftus Jonas mit griechifchen und
hebräifchen Wörtern in Schrift und Art gefliffentlich
humaniftifch. Dagegen finden fich Aurifaber (2), Carl-
ftadt (11), Cruciger (14), Spalatin (62), wo fie fich der
lateinifchen Sprache bedienen unter den fchönften Hu-
maniftenhändenl Gleichwohl ift doch wieder diefe Unter-
fcheidung nach deutfchem und lateinifchem Text nicht
etwa allgemein. Bugenhagen, auch darin ,eine echt nord-
deutfche Natur' (Bezold), fchreibt auch lateinifche Texte
in alter Kanzleihand (10); gleich ihm gelegentlich Ofiander,
allgemeiner Hausmann, Mantel u. a., befonders die weniger
Gelehrten. Natürlich gibt es Mifchfchriften, und eine
Reihe von Perfönlicheiten charakterifiert fich durch
wechfelnde Schriftzüge. Aber es ift doch wieder fehr
beachtenswert, daß der junge Luther fich feine durchaus
individuelle Schrift bildet auf Grundlage der humaniftifchen
(Mentz 4b von 1516), daß ihm (foviel ich fehe) garnicht
einfällt, feine Schrift nach dem Text zu variieren, ihm
vielmehr meift diefelben lichten und deutlichen Schrift-
züge aus der Feder fließen (Mentz 5 von 1532. Clemen
34a und 34b von 1525 und 1540), auch für deutfche
Texte (wozu noch Könnecke, S. 139; v. Bezold, Ref.-
I Gefch. Facf. aus dem Reformatoren-Gedenkbuch von
j Wernigerode, 1542). Obzwar ein kleiner Zug fcheint mir
diefe Beobachtung für die geiftige Richtung der Frühzeit
, aus der noch wenig charakteriftifche Äußerungen
vorliegen, wertvoll.

,Die Facfimilierung ift mittels des bekannten Manuldruckverfahrens
erfolgt'; ich bekenne, daß es mir nicht
bekannt ift und daß ich gern eine gemeinverftändliche Angabe
darüber gelefen hätte1, ob die Grundlage die photogra-
i phifche ift und das Verfahren dem Prinzip nach das
lithographifche (wie ich annehme). Den Lichtdrucktafeln
j von Mentz flehen die Blätter an Feinheit nach, empfehlen
; fich aber durch den einfacheren Kontraft der fchwarzen
! Schriftzüge zu .dem klaren Grunde des körnigen Papiers
für Übungen. Überhaupt möchte ich mit Dank und An-
| erkennung von diefer Publikation fcheiden.

Göttingen. Brandi.

Glawe, Priv.-Doz.Lic. Dr. Waith.: Sebaftian Francks unkirchliches
Chriftentum. Für oder wider Kirche und Dogma?
(48 S.) 8°. Leipzig, Dörffling & Franke 1912. M. —80

Der Schwerpunkt diefer Schrift ruht auf dem Untertitel
; fie ift urfprünglich erfchienen in der vom Herausgeber
der Allgemeinen ev.-lutherifchen Kirchenzeitung
arrangierten Auffatzferie .Moderne Irrtümer im Spiegel
der Gefchichte' (jetzt auch als Buch herausgegeben),
Sebaftian Franck ift nur Exempel, wie man es nicht
machen foll. Glawe hat die Literatur über Franck, vor
allen Dingen Hegler natürlich, durchgearbeitet und gibt
ein im Allgemeinen ausreichendes Bild des Mannes, den
er als myftifch-fpiritualiftifchen Individualiften richtig
kennzeichnet. Neues follte hier wohl nicht geboten
werden, gut wird Franck von Luther abgehoben, deffen
Schriftprinzip Glawe nicht übel fo formuliert: .Luther gab
den Subjektivismus keineswegs auf, aber er fixierte die
Pole, zwifchen denen fortan das religiös-chriftliche Erlebnis
fich bewegen follte' (S. 9). Schief jedoch ift die
Formulierung der Doppelfeitigkeit des Geiftbegriffes bei
Franck S. 14 h: es handelt fich nicht um den Gegenfatz
objektiv — fubjektiv, fondern um den: fupranatural und
rational, beide Gegenfätze berühren fich zwar vielfach, find
aber nicht identifch. Als Hiftoriker ift Franck von Gl.
wohl zu niedrig eingefchätzt, ebenfo fehr als .origineller
Denker' (S. 29). Aber, wie gefagt, die Gedanken über
Franck find nur Folie, mit S. 30 fetzt Gl. ein mit einer
Empfehlung der modern-pofitiven Theologie, an deren
Maßftabe Franck gemeffen wird und natürlich nicht befteht.

1) Die Druckerei belehrt mich freundlich dahin, daß es fich um
aiiafiatifches Druckverfahren der Firma Ulmaiiu handelt.