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Ausgabe:

1912 Nr. 24

Spalte:

742-743

Autor/Hrsg.:

Strack, Hermann L.

Titel/Untertitel:

Joma. Das Misnatraktat Versöhnungstag nach Handschriften und alten Drucken hrsg., übers. u. m. Berücksichtigung d. Neuen Testaments erläut. 3., erweit. Aufl 1912

Rezensent:

Bacher, Wilhelm

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741 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 24. 742

m denen durch ausdrückliche Angaben im Text ein anderes
Verftändnis des Ich notwendig ift (S. 5).

Den Beweis führt B. literatur- und ftilgefchichtlich.
Darin liegt der Wert feiner gründlichen und forgfältigen
Unterfuchung. Er befpricht zunächft die einfachen
Gattungen, d. h. folche Klagelieder, Dankgebete, Hymnen
und Lehrgedichte, die unzweifelhaft zur Individual-
lyrik zu rechnen find und keine ftiliftifchen Schwierigkeiten
bieten. Die einzelnen im Pfalter vertretenen Gattungen
werden forgfältig nach Form und Inhalt analyfiert,
den öffentlichen (beffer: chorlyrifchen) religiöfen Liedern
gegenübergeftellt und mit verwandten Dichtungen außerhalb
der Pfalmenfammlung und außerhalb des A. T, in der
babylonifchen und ägyptifchen religiöfen Lyrik, verglichen.
Sodann wendet fich Vf. den komplizierten Gattungen
zu. Darunter verlieht er liturgifche und prophetifche
Lyrik (Pf. 20 60 66 85 118; 2 u. 81), öffentliche Lieder,
in denen fich ein Ich findet (44 68 74 83), die alphabe-
tifchen Pfalmen 9 u. 10 25 119 und einige .fchwer zu
deutende oder einfchneidend überarbeitete Pfalmen' (14
75 89 94 102). Ein kurzer 3. Teil fucht im Zufammen-
hang die für die Kollektivdeutung des Ich vorgebrachten
allgemeinen und befonderen Gründe zu widerlegen.

Von manchen Einwendungen im einzelnen abgefehen
ftimmeich B. in der Hauptfache zu. Die Smendfche Theorie
'ft eine verhängnisvolle Verirrung der Pfalmenexegefe infolge
mangelnder Bekanntfchaft mit den Gattungen und ihren
Stilformen. Diefe meine Stellung zu dem Probleme glaube
ich in meiner Pfalmenerklärung (Die Lyrik desA. T., Göttingen
1911) bereits hinreichend deutlich zum Ausdruck
gebracht zu haben. Aber mir fcheint nun, daß B. in
das andere Extrem verfallen ift und die Deutung des
Ich auf ein einzelnes Individuum überfpannt hat. Ich j „. . ~ .

habe a. a. O. einige wenige Ichpfalmen als aus dem Geift »"acK^rYot. D. Dr. Hermann L.: Joma. Der Misnatraktat
der frommen Gemeinfchaft gefprochen erklärt: die Hymnen j Verföhnungstag nach Handfchriften und alten Drucken
Pf. 75 135 u. 146, die Dankgebete Pf. 118 138 u. 66, die hrsg., überf. u. m. Berückficht, des Neuen Teftaments

XWs? Von ich £ t ZT 1 ^

nur Pf. 138 preis, bei dem ich lange gefcWankt habe, Judalcum »« Berlin Nr. 3.) (39 u. 18* S.) gr. 8<>.
welcher Gattung er zuzuweifen ift. B. hat überzeugend Leipzig, J. C. Hinnchs 1912. M. 1.20

nachgewiesen, daß das Ich diefes Liedes ein einzelner Aus der zweiten im Jahre 1004 erfchienenen Auf iä**

Frommer ift. Abdrücke, wie 138, 1 u 4 f. haben ihre ift diefe dritte durch Hinzugabe ^V^^ ^ltoSt
genauen Parallelen in babylonifchen Gebeten vgl. z. B. , Da der die Einleitung, Teöxt, Anmerkungen uJvZ

King, Mag. and Sorc. 18 17 latam narbika ana nisi rap- enthaltende Hauptteil unverändert blieb foll hier nur die

sati Sonft aber halte ich meine Erklärung der genannten auch in befonderer Ausgabe erfchienene, Überfetzung des

Pfalmen, im befonderen den Verweis auf die häufige Er- Mifchnatraktats über den Verföhnungstag befprochen

fchemung des l.turgifch-kompofit.onellen Charakters von werden. Es ift eine fehr nützliche Einrichtung, daß auch

Liedern, in denen Ich u. Wir wechfelt, aufrecht B. unter- die überfetzung Hinweife auf die fachlich bedeutfamere

fcheidet nicht fcharf genug zwifchen folchen Pfalmen, in Anmerkungen zum Texte enthält- und auch manche

denen ein einzelner Frommer fein perfönliches Anliegen neue Anmerkung ift der ÜberfetzutU beigegeben Dan
ausbricht und folchen, in denen fich hinter dem Ich ein , kenswert ift es ferner, daß der GrunSftock des Traktate

größerer Kreis gleichgefinnter Frommer verbirgt d. h. typographifch von den jüngeren Beftandteilen unter

will damit vielmehr zum Ausdruck bringen, daß die Dichter
diefer ergreifenden Lieder zwar z. T. perfönlich reden,
aber mit Bewußtfein Empfindungen und Wünfche vor
Gott bringen, in denen fie fich eins wiffen mit vielen anderen
refp. mit allen Volksgenoffen. Darum ift in folchen
Pfalmen der Wechfel von Ich und Wir etwas ganz
Natürliches, vgl. nur Pf. 74 44 u. a. diefer Gattung und
meine Bemerkungen zu Thren. 3 a. a.O. S. 128. InPf. 42/43
und 88 wäre er ganz unmöglich.

Eine ganz andere Frage ift es, woher der nicht fel-
tene Gebrauch des Ich in chorlyrifchen Dichtungen flammt.
B. hat hierzu treffliche Bemerkungen gegeben. Ich hätte
nur etwas ftärker betont, daß er vielfach aus Erftarrung
der Stilform, in der er urfprünglich allein gebraucht wurde,
und daher aus rein rhetorifcher Verwendung zu erklären
ift, z. B. in Pf. 75 135 146 74 44 60 u. a. Das Ich ift
hier m. E. überhaupt nicht mehr rein individuell gemeint
und empfunden worden, fondern bloße Stilform. Die Gewohnheit
, urfprünglich ganz perfönlich gehaltene Lieder
in den Kultus herüberzunehmen, hat ohne Frage fchon
früh dazu beigetragen, die Empfindung für den fubjek-
tiven Charakter folcher Pfalmen abzuftumpfen. Bei unferen
Kirchenliedern ift das ja genau fo der Fall, vgl. auch
Budde, Gefchichte der althebräifchen Literatur S. 269t.
So ift z. B. Pf. 71, urfprünglich ein ganz perfönhehes,
mit Pf. 22 nach Form und Inhalt verwandtes Bittgebet,
fchon in alter Zeit als Gemeinfchaftslied verftanden und
wohl auch verwendet worden. Daher die in LXX erhaltenen
Überfchriften vtcöv 'imi-aöaß xa'i (rcüi') xqwtcov
cdx/taka>TioittvT<ai>.

Jena. W. Staerk.

wo das Ich nicht für fich allein, fondern für die Gemein
fchaft fpricht. Das ift aber nicht bloß in Pf. 129 der Fall,
wo es der Dichter durch den Zufatz ,fo foll Ifrael fprechen'
felbft fagt, fondern auch in Pf. 123 118 u. a. Ein lehr

___-r? *r •_ 1 j^r;:- A^Cl rr^rorf* in lirnrcrifrh Or^half-pnp'T

fchieden ift. Die Überfetzung felbft bekundet die bewährte
Akribie und Sachkenntnis Stracks und wird den
Anforderungen der Treue und Verftändlichkeit in voller
Weife gerecht. Nicht nötig, wohl auch unrichtio- ift es

reiches Beifpiel dafür, daß geradein hturgifch gehaltenen : das Wort.fitt*», mit .dem Begebenheiten eingeleitet werden
Kompofitionen das Ich nach dem gelegentlich gebrauchten | (II, 2; VI, 3) als Uberfchrift zu überfetzen (,Ein Vor-
Wir zu verliehen ift, bietet Pf. 102. Das Gebet ift zwar j kommnis:'). Denn im Originale ift das Wort mit dem
überwiegend monodifch in der Form, will aber feiner Ge- ; Erzahlten fyntaktifch verbunden (durch... » oder... 1) und
famthaltung nach als Ausfpruch folcher Wünfche ver- ift als Ellipfe für rpn noyy zu verliehen/ Alfo: ,Es ge-
ftanden werden, die die fromme Gemeinfchaft hegt. Formal fchah, daß'. — In der Schilderung der Funktionen des

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hat ja B. Recht, wenn er behauptet, jedes Ich der Pfalmen
fei individuell zu verftehen, wenn nicht ausdrücklich auf
die dichterifche Form der personificatio hingewiefen wird
oder diefe aus dem Zufammenhange ohne weiteres ver-
ftändlich ift. Aber der Gebrauch des Ich allein entfeheidet

Hohenpnefters bedient fich die Mifchna einmal (V, 5)
eines Bibelfatzes (Lev. 16, 18) in gleichfam mufivifcher
Form. Man darf alfo diefen Satz nicht als Zitat Überfetzen
, fondern ftatt ,Und er trete hinaus' (S. II* Z. 12) muß
es heißen: ,Und er trat hinaus'. — Die Eulogie, mit der

nicht, fondern der Gefamtcharakter eines Liedes. Darum j die im Tempelvorhofe Verfammelten das Ausfprechen
rechne ich z. B. Pf. 123 und 137 zur Gattung der ; des Gottesnamens durch den Hohenpriefter begleiteten
chorlyrifchen Dichtungen. Natürlich meine ich damit 1 (III, 8, IV, 1, 2, VI, 2), überfetzt Strack fo: .Gepriefen fei
nicht im Sinne von Smend, das Ich fei hier von vornher- der Name feines herrlichen Königreiches für immer und
ein als Bezeichnung der frommen Gemeinde oder Ifraels I ewigl' Aber in imsbtt TV33 a» fcheint fich das Epitheton
gebraucht. Das ift eine mehr äußerliche Auffaffung. Ich der ,Herrlichkeit' eher auf den ,Namen', als auf das