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Ausgabe:

1912 Nr. 2

Spalte:

52-53

Autor/Hrsg.:

Der Modernismus. Vier Vorträge, gehalten von Paul Sabatier

Titel/Untertitel:

Romolo Murri, A. L. Lilley und D. Philipp Funk beim 5. Weltkongreß für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt, Berlin 1910 1912

Rezensent:

Kübel, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 2.

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Handfchriften liegt, lehrt fchon ein Blick auf die 4 in
Fakfimile beigegebenen Blätter von Kants Hand, die mit
ihren flüchtigen und fein durcheinander gekritzelten Buch-
ftaben, den vielen Abkürzungen ufw. auch dem geübteften
Kantphilologen große Schwierigkeiten bieten. Außerdem
gibt H. eine neue Anordnung und Einteilung, die keinen
Anfpruch auf fpeziell chronologifche Genauigkeit macht,
indes die Begriffe in ihren Abftufungen einigermaßen
geordnet darbieten will. Den Textabdruck (S. 9—120)
begleiten zahlreiche Fußnoten als Kommentar, jedem Blatt
geht eine kurze Überficht über feinen Inhalt voraus. Am
beften ift neben dem Text der Reickefche Abdruck zu
benutzen. Auf den Seiten 121—150 zieht Haering das
Ergebnis der neuen Lefung und der in dem Kommentar
dargebotenen, außerordentlich forgfältigen Einzelunter-
fuchungen durch die .Syftematifche Darfteilung einzelner
Hauptprobleme', die in den Blättern auftreten. Wird man
auch nicht in allem rückhaltlos zuftimmen können (fo findet
H. S. I39f. z. B. die Ausführung des Gegenfatzes zwifchen
analytischen und fynthetifchen Urteilen in der Faffung
von [ca.] 1775 klarer als in der Kr. d. r. V., und die
,Analogie'-Frage [S. 142] fcheint mir durch H. Cohens
Kommentar zur Kr. d. r. V. S. 86 geklärt), fo darf doch
die Mehrheit feiner Ergebniffe als ficher, d. h. feine Löfung
als ungezwungene Verbindung der Entwicklungsstufen
von 1770 und 1781 gelten. S. 151—154 geben dann kurz
das ,Hiftorifche Ergebnis: Kant um 1775', worin Abfchnitt 1
2 ,Was fehlt in unferen Blättern noch gegenüber der Kr. j
d. r. V.?' naturgemäß am meiften feffelt: es find faft alle j
Keime fchon da, dagegen fehlt die letzte Formulierung,
der einheitliche Aufbau. Hier könnte m. E. ausführlicher j
darauf hingewiefen werden, daß die Formel ,tranfzen-
dental', welche in der Kr. eine fo große Rolle fpielt (= a
priori jede Erfahrung, d. i. Erkenntnis ermöglichend) ;
in den Blättern von 1775 noch kaum auftritt (wenn auch
der Gedanke fchon vorliegt) und nur zweimal (10,45.
8, 34) den kritifchen Sinn zeigt.

Das Register würde noch wertvoller fein, wenn es
nicht nur auf Blatt- und Abfchnittnummern, fondern auch
auf die Seitenzahlen des Buches, befonders auch der
,Syftematifchen Darfteilung' verwiefe; auch könnte es
durch die Namen erweitert werden. Im Inhaltsverzeichnis
wäre I zu gliedern.

An der fonft vortrefflichen Anordnung — auch der
Druck ift vorzüglich — habe ich nur eines auszufetzen:
der eigentliche Text Kants dürfte nicht durch (allerdings
als folche ftets kenntlich gemachte) Einfchiebfel, Gedanken- j
Verbindungen, Ergänzungsverfuche ufw. des Herausgebers
immer wieder unterbrochen werden. Wenn H. fich ent-
fchloß, den Text noch einmal abzudrucken, fo war doch
wohl ein ziemlich diplomatifcher Abdruck geboten —
und jene Ergänzungen zu bringen wäre ja unter dem
Strich, wo alle Einzelfragen ohnedies behandelt werden,
reichlich Raum und Gelegenheit. Ja an gar manchen
Stellen erfcheinen mir die Parenthefen bei der Ausführlichkeit
der Fußnoten geradezu überflüffig, jedenfalls aber
ift das Klammernwerk für den Lefer quälend und nimmt
ihm gar oft phyfifch die Möglichkeit, ohne Reicke nach
Haerings Text Kants Gedankengängen und Stilwandlungen
ohne Unterbrechung und unabhängig von Haerings Inter-

Eretation nachzugehen. Eine neue Auflage kann hier mit
■eichtigkeit Wandel fchaffen. —

Haerings Buch bildet eine ungemein wertvolle Bereicherung
der Literatur über Kants ,vorkritifche' Jahre.
(NB.: Leider verzeichnet feine Einleitung jene nicht biblio-

graphifch genau, und ich darf daher auf die Überficht in
d. II, S. 178f. der kürzlich erfchienenen 3. Auflage von
Karl Vorländers .Gefchichte der Philofophie' hinweifen).
Es wird befonders für diejenigen unter den Freunden
Kants lehrreich fein, die geneigt find zu glauben, Kants
Werk müffe in fich zerfallen, wenn ein Stein daran fich
als mürbe erweife, und die der Meinung leben, als fei
Kants Syftem auch formal unantaftbar und lückenlos

gefügt wie Athene aus dem Haupte des Zeus dem feines
Meisters entfprungen, während es doch ein Gewordenes
und ein Werdendes ift, ein Vernich, mit dauernden Gedanken
zu fertigen, was in Einzelheiten bis zuletzt auch
für feinen Schöpfer in fchwankender Erfcheinung fchwebte:
nicht eine Philofophie, fondern eine Methode des Phi-
lofophierens.

Düffeldorf. Paul Wüft.

Der Modernismus. Vier Vorträge, gehalten von Paul Sa-
batier, Romolo Murri, A. L. Lilley und D.Philipp
Funk beim 5. Weltkongreß für Freies Chriftentum
u.ReligiöfenFortfchritt,Berlin 1910. (52S.)gr.8°. Berlin-
Schöneberg, Proteft. Schriftenvertrieb 1911. M. 1 —

Das dritte Hauptthema des Berliner Weltkongreffes
umfaßte die fyftematifchen Beziehungen, die zwifchen
den Religionsgemeinfchaften und zwifchen ihren ver-
fchiedenen Richtungen beliehen feilten; hiervon lautete
das erfte Unterthema: Katholiken und Proteftanten. Bei
der Ausführung ift aber der eigentliche Sinn diefes
Themas nicht zu feinem Recht gekommen. Es wäre
der Mühe wert gewefen, wenn die fympathifchen Beziehungen
, die zwifchen den Katholiken und Proteftanten
beliehen füllten, einerfeits von Walter Köhler, andrerfeits
von Karl Jentfch oder einem katholifchen Mitglied der
deutfehen Vereinigung dargeftellt worden wären; und
noch lohnender vielleicht, wenn Everling und Erzberger
die Klingen gekreuzt und ihre Gedanken über den kon-
feffionellen Modus vivendi kundgegeben hätten. Das wäre
ein intereffantes Gegenftück zu dem Duett Laffon-Emde
geworden. Vermutlich hat fich auch die Leitung des
Kongreffes bemüht, dergleichen zuftande zu bringen;
aber die Beziehungen zwifchen Katholiken und Proteftanten
find in Deutfchland noch nicht fympathifch genug,
um diefen Verfuch zu ermöglichen. An feine Stelle
find vier Vorträge über den Modernismus getreten. Die
Sonderausgabe trägt denn auch mit Recht diefen Titel.
Schade nur, daß auch diefem Titel wiederum die Ausführung
keineswegs gerecht wird. Sabatier und Lilley
bieten zu viel, Murri und Funk zu wenig. Die beiden
erften, indem fie die Ziele fchildern, die der fortgefchrit-
tene Katholizismus mit dem fortgefchrittenen Proteftan-
tismus gemein hat; die beiden andern, infofern fie nur
beftimmte Ausfchnitte aus der moderniftifchen Bewegung
liefern. Was der Modernismus als Ganzes eigentlich ist
und will, wird nur von Funk einigermaßen, foweit Deutch-
land in Betracht kommt, ausgeführt, im übrigen bleibt
es nach wie vor unklar. Konkretes Tatfachenmaterial
bietet nur Funk; und was er bietet, bewegt fich, nicht
durch feine Schuld, in fahr befcheidenen Grenzen: der
deutfehe Katholizismus hat nur fchwache moderniftifche
Regungen aufzuweifen. Von der franzöfifchen und
italienischen Moderniftentheologie, von Harnacks Kritiker
Alfred Loify und von dem frömmften und tieffinnigften
aller Moderniften, von George Tyrrell, ift mit keinem
Wort die Rede. Kurz, die Brofchüre liefert Beiträge
zur Kenntnis des Modernismus, aber den Modernismus
lehrt fie durchaus unzulänglich kennen. Dies vorausge-
fchickt, erkenne ich natürlich den hohen geiftigen Wert
der vier Vorträge rückhaltlos an. Sabatier fieht in den
katholifchen und proteftantifchen Moderniften voller
Freude und Vertrauen den Vortrab, der die zukünftige
Auflöfung des Proteftantismus und Katholizismus in
einer höheren Einheit, der der Liebe, anbahnen foll.
Aus Murris Vortrag hebe ich die interefiante Forderung
hervor, der italienifche Staat folle der Kirche gegenüber
im Gewand des Befreiers, nicht in dem des Verfolgers
auftreten; erft wenn er die Religion aus den Banden des
Klerikalismus befreie, werde er über die Kirche liegen.
Lilley, der ritterliche Freund Tyrrells, wird mit feiner
Thefe ,der Modernismus Grundlage der religiöfen Ein-