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Ausgabe:

1912 Nr. 23

Spalte:

729-730

Autor/Hrsg.:

Hilbert, Gerhard

Titel/Untertitel:

Moderne Willensziele 1912

Rezensent:

Heinzelmann, Gerhard

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Seite 1

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729

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 23. 730

chriftliche Glaube Chriftusglaube, nicht unfruchtbares
Dogma, fondern perfönliches Erlebnis, durch den Herrn
vermittelte und verbürgte Gewißheit und Gemeinfchaft
Gottes. Für die Übereinftimmung, die zwifchen Paulus
und dem religiöfen Verftändnis des Evangeliums beftand,
beruft fichl. auf Belege wie 1 Cor. 15,1—4. Ii; Gal. 2,11 fg.

Die weitere Frage, ob die apoftolifche Verkündigung
mit Grund auf die Autorität Jefu fich berufen dürfe, will
der Vf. nicht durch die allgemeine Erwägung erledigen,
es wäre doch fchwer vorftellbar, daß die von dem Herrn
felbft berufenen Männer mit dem Evangelinm von ihm
fich zu den eigentlichen Abfichten Jefu in Widerfpruch
gefetzt hätten. Vielfach greift I. auf das Selbftzeugnis
Jefu und zwar auf das fynoptifche zurück. Daß die Abficht
des Paulus mit der Abficht Jefu fachlich identifch
fei, erfchließt I. aus einer Tatfache, die er aus der fynop-
tifchen Verkündigung zu begründen fucht: das Reich
Gottes ift eine Gabe, die empfangen fein will, die aber
in der Perfon Jefu im Kommen ift, fo daß es für die
Teilhaberfchaft an dem Reiche Gottes zuletzt auf den
Anfchluß an diefe Perfon ankommt. Den beftechenden
Einwand, weshalb dennjefus nicht die Seinen viel ernft-
licher in das Verftändnis feiner Perfon und feiner Mittler-
ftellung eingeführt hat, will I. durch pfychologifche und
hiftorifche Erörterungen entkräften, die zugleich die fachliche
Identität und doch auch die verfchiedene Art der
Verkündigung Jefu und der apoftolifchen Verkündigung
erklären follen. Auch auf die Frage, ob und in welchem
Sinn auch das apoftolifche Zeugnis von dem Tod und
der Auferftehung Jefu fich auf ihn felbft berufen kann,
bleibt I. die Antwort nicht fchuldig: die apoftolifche Verkündigung
lehrt uns lediglich das lefen, was in Jefu Selbftzeugnis
wirklich vorhanden war, fo gewiß alsjefus felbft
die Aufrichtung des neuen Bundes an feinen Tod geknüpft
hat.

So hat der Vf. alles auf die Frage hinausgeführt,
welcher feine letzten Seiten gewidmet find. Das Evangelium
, durch welches Gott in Chrifto uns gefchenkt wird,
ift wirklich Evangel ium, Frohbotfchaft. Wie es zu einer
Vergewifferung um die Wahrheitund Wirklichkeit desfelben
kommt, zeigt 1 in Andeutungen, die durch feine früheren,
von der chriftlichen Wahrheitsgewißheit handelnden Schriften
näher begründet und in willkommener Weife ergänzt
werden können. Auch feine Ausführungen über das Verhältnis
des paulinifchen Evangeliums zur Verkündigung
Jefu knüpfen an zwei frühere Veröffentlichungen an. Zu
dem Nachweis, daß der Gegenfatz, den man zwifchen
Paulus und Jefus meint konftatieren zu müffen, nicht be-
fteht, liefert die auch fonft an treffenden Bemerkungen
reiche Schrift fehr beachtenswerte Beiträge; diefe würden
wohl noch wirkungvoller und überzeugender fein, wenn
die evangelifchen und biblilch-theologifchen Erörterungen
nicht zuweilen durch dogmatifche Betrachtungen ab-
gelöft oder durchkreuzt würden. Daß überhaupt das
zwifchen I. und feinen Gegnern behandelte Problem
nicht richtig geftellt ift, hat der Vf. zwar an einigen Stellen
angedeutet, hätte aber noch beftimmter herausgearbeitet
werden dürfen. Immerhin ift es gut, daß die in
manchen Kreifen zum Dogma fich verdichtende Fiktion
von einem prinzipiellen, religiöfen Widerfpruch zwifchen
Jefus und Paulus aufs Neue blosgeftellt und zurückgewiefen
worden ift.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Hilbert, Gern.: Moderne Willensziele. Der Wille zumNichts:
Arthur Schopenhauer. Der Wille zur Macht: Friedrich
Nietzfche. Der Wille zur Form: Ernft Horneffer.
Der Wille zum Glauben: Hamlet. (80 S.) gr. 8°.
Leipzig, A. Deichert Nachf. 1911. M- *-25

Die vier Auffätze, die hier vereinigt find, darf man

als in ihrer Art mufterhaft bezeichnen. Urfprünglich

wohl als Vorträge gehalten, find fie ein vorbildliches Bei-
fpiel guter Apologetik. Ein wirklich intereffierendes
Thema: Was foll der Menfch wollen?, eine gründliche
Auseinanderfetzung mit modernen Geiftern (Schopenhauer
, Nietzfche, Horneffer) ein einfacher Stil, eine durchfichtige
Beweisführung, eine vornehme Behandlung des
Gegners und nicht zuletzt ein Verzicht auf jede Phrafe:
das find Vorzüge diefer Effays. Die Willensziele, um
die es fich handelt, formuliert der Verf. fo: 1. der Wille
zum Nichts: Arthur Schopenhauer; 2. der Wille zur
Macht: Friedrich Nietzfche; 3. der Wille zur Form: Ernft
Horneffer; 4. der Wille zum Glauben: Hamlet. Schopenhauer
, Nietzfche, Horneffer fehlt das wahre Verftändnis
für die fittliche Perfönlichkeit. Schopenhauer verwechfelt
das Sittliche mit der Luft, Nietzfche mit der Natur, Horneffer
mit der Kultur. Von Schopenhauer kann man
lernen, daß alle rein innerweltlichen Willensziele unmöglich
find (S. 11), von Nietzfche, daß ,Leben' der oberfte
Wert ift (S. 28), von Horneffer? Hier bleibt dem Verf.
nur der fcharfe Schluß: Horneffers Moral ift etwas für
Menfchen, die den Schein des Idealismus brauchen und
doch bleiben wollen, wie fie find in philiftröfer Selbft-
genügfamheit, in eitler Selbftbewunderung und Selbftver-
götterung (S. 56). Schopenhauer und Nietzfche kranken
am Atheismus und treiben dem Theismus zu, wenn man
fefthalten will, was fie fuchen. Sein eigenes Willensziel,
den Willen zum Glauben, knüpft H. an Hamlet an. Man
wird ftreiten können, ob das pfychologifche Rätfei des
Hamlet auf diefe Weife gelöft ift. Da es fich nur um
eine Uluftration handelt, an die das Schwergewicht der
eigenen Ausführungen über den Willen zum Glauben fich
anhängt, ift das nebenfächlich. Immerhin wäre vielleicht
ein anderes Beifpiel (etwa Carlyle) glücklicher gewefen.
Was der Verf. vom Willen zum Glauben felbft hinzufügt,
ift gut. Er weift nach: 1. daß alles Erkennen auf Glauben
beruht, 2. daß der Wille zum Glauben die grundlegende
Tat der Perfönlichkeit ift, 3. daß es gar fehr darauf ankommt
, was der Menfch glaubt, 4. daß nur der Glaube
an einen perfönlichen Gott erlöfend und erhebend wirkt,
5. daß Wille zum Glauben gehört, aber ein Wille, der
fich nur der Wahrheit beugt, 6. daß in Jefus fich uns
Gott als Wahrheit und Wirklichkeit innerlich aufdrängt.

Ich möchte dem Büchlein eine weite Verbreitung in
fog. gebildeten Kreifen wünfchen.

Göttingen. Heinzelmann.

Rucktelchell, Paft. D.Nicolai von, f 19.X. 1910:Predigten.
(XVI, 224 S. m. Bildnis). 8°. Hamburg, Herold 1911.

M. 3.50; geb. M. 4.80
Nicolai v. Rucktefchell ift im Oktober 1910 geftorben.
Ein Jahr fpäter hat fein Kollege an der Friedenskirche
in Hamburg-Eilbeck, Paftor Reme, eine Sammlung von
etwa 25 feiner Predigten herausgegeben, die der Gemeinde
R.s gewidmet find. Gewiß für die vielen, die R. perfön-
lich nahegeftanden und ihn in feiner amtlichen Wirksamkeit
verehrt haben, eine willkommene Gabel Sie werden
fich beim Lefen der Perfönlichkeit erinnern, die hinter
diefen Predigten Stand und die an ihrer Wirkung gewiß
das Befte getan hat. R. war ein Mann von ausgeprägter
Eigenart: lebhaft bis zur Leidenfchaftlichkeit, fchnell
umfchlagend in feiner Stimmung, einmal ausfchließend
orthodox, dann wieder Andersdenkenden weit entgegenkommend
, von zäher Energie zur Erreichung feiner Ziele,
vielfeitig intereffiert, literarifch, volkswirtfchaftlich, politifch
eingehend unterrichtet, ein Volksredner von nie vertagendem
Eindruck, ein liebenswürdiger Gefellfchafter, der die
Fäden des Gefprächs immer fchnell in feine Hand bekam.
Die Mitglieder des Evangelifch-fozialen Kongreffes haben
ihn nach mancher diefer Seiten kennen gelernt in feinem
immer wirkfamen Auftreten bei den Tagungen des Kon-

Preffes. Es ift begreiflich, daß man von einer folchen
erfönlichkeit aus gedruckten Predigten nicht den vollen