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Ausgabe:

1912 Nr. 23

Spalte:

728-729

Autor/Hrsg.:

Ihmels, Ludwig

Titel/Untertitel:

Das Evangelium von Jesus Christus 1912

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 23.

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ich fei ohne die Kraft der abfoluten Wahrheit famt den !
von ihr erweckten Leidenfchaften, fei folglich .kirchlich im- |
potent'. Rein wiffenfchaftlich angefehen aber verfalle ich
der Halbheit, indem ich in der Gefamtheit des Lebens fo viel
Irrationales anerkenne, daß es reine Willkür fei, die im
Chriftentum befonders und einzigartig auftretende Irratio- j
nalität Gottes zu leugnen. Sofern ich zum letzteren durch
die hiftorifche Kritik des Urchriftentums gekommen zu fein
meine, fo fei das ein durch die Nichtunterfcheidung des
Hiftorifchen und des Gefchichtlichen, des Profan-Wiffen-
fchaftlichen und des Gläubig-Supranaturalen begründetes
höchft befchränktes Vorurteil. Aus alledem ergibt fich
am Schluß der gefperrt gedruckte Urteilsfpruch: ,Summa,
Tröltfch fteht und fällt mit dem Antifupranaturalismus.
Das ift fein Gericht'.

Was habe ich zu diefem Richterfpruch zu fagen?
Erftlich natürlich, daß ich ihn als einen rein chriftlichen
d. h. lediglich als eine Meinungsäußerung des konfervativ
gefinnten Chriften anfehe, der zu feiner Meinung moralifch
fo viel Recht hat wie ich zu der meinigen. Da Kaftan auf
fein Urteil nicht die Forderung der Abfetzung begründet, fo
kann ich es ihm in keiner Weife übel nehmen. Ein
konfervativer Theologe bin ich ja in der Tat nicht.
Zweitens ift es — das Urteil einmal als bloße Charakte-
riftik genommen — die Frage, wie ich mich zur Aberkennung
der Theologenqualität und der echten Chriftlich-
keit ftelle. Hier ift die Antwort einfach. Wenn zur Theologie
wirklich fo fchreckliche Dinge gehören wie die
Unterfcheidung von hiftorifcher und gefchichtlicher Erkenntnisweife
und folche Sophismen wie die Trennung des
antiken phantaftifchen und des echten biblifchen Supra-
naturalismus, von denen der erftere übrigens gleichfalls
auf die Bibel gewirkt habe und innerhalb der Bibel vom
echt biblifchen erft unterfchieden werden müffe, dann
will ich in der Tat lieber kein Theologe fein, fondern nur
ein chriftlicher Religionsplvilofoph, was, wie Kaftan zugibt, ja I
auch etwas .Ehrenhaftes' fei, und, wie ich hinzufüge, für die |
Unterweifung junger Geiftlicher auch feinen Wert hat. j
Dann beruht die Anerkennung der chriftlichen Lebenswelt ;
auf einer religionsphilofophifchen Theorie, fobald diefeAn- !
erkennung wiffenfchaftlich behandelt werden foll, und be- j
fteht die Selbftändigkeit der Theologie in ihrer Aufgabe,
praktifche Kunftregeln für die Verkündigung der fo im Prin- j
zip begründeten, im übrigen fich frei bewegenden Ideenwelt
zu fchaffen. Auf die Bezeichnung als Chrift leifte ich j
natürlich weniger gern Verzicht und brauche es auch nicht, j
da es eine alte Eigentümlichkeit der Chriften ift, in Streitfällen
fich gegenfeitig das Recht diefes Namens zu be-
ftreiten, und da jeder fchließlich darüber perfönlich zu ent-
fcheiden hat, ob er es ift oder nicht. Auch Kaftan felbft
hat um feines modern .pofitiven' Programms willen in (
diefer Hinficht fchon unangenehme Erfahrungen gemacht, j
Und was die Verfchmelzung chriftlicher und neuplatoni- |
fcher Gedanken betrifft, fo ift das feit Anbeginn eines
chriftlichen Denkens gefchehen und ift m. E. gerade das j
die entfcheidende und bleibende Synthefe des höchften j
geiftigen Erwerbs der Antike mit dem populären und
praktifchen Evangelium. Von Origenes bis Hegel zieht
fich diefe Verfchmelzung. Die ftärkere Betonung des
wiffenfchaftlichen und philofophifchen Geiftes in der Neuzeit
hat jene Verfchmelzung m. E. heute zur allein möglichen
Löfung des Problems gemacht, und ich zweifle nicht, daß
diefe Synthese die führende Kraft im modernen Denken
wieder erlangen wird. Damit aber komme ich zum dritten
Punkte. Eine folche Synthefe ift, wie ich wohl weiß,
eben eine Synthefe. Sie ift keine unbedingte Chriftlich-
keit mehr, wie es denn eine folche überhaupt nur in
einigen Sekten gegeben hat und gibt. In ihrer freien
Beweglichkeit und ihrer Einverleibung der chriftlichen
Offenbarung in den Prozeß der Selbftoffenbarung des
göttlichen Geiftes macht fie vollends die Chriftlichkeit zu
einer ftets neu zu löfenden Aufgabe, zum Zentrum immer
neu zu bildender Synthefen. Ift das aber heute noch

möglich? Ift heute nicht die Aufgabe, fich zu entfcheiden
zwischen der Rückbildung des Chriftentums auf feine
feften kirchlich-konfeffionellen Geftaltungen oder feiner
völligen Erfetzung durch eine der modernen Welt ent-
fprechende neue Religion? Ift nicht heute die Möglichkeit
der Vermittelungen zu Ende und das Chriftentum ein
der Neuzeit nicht mehr affimilierbarer Reft einer großen,
freilich auch vielfach fchrecklichen Vergangenheit? Ift
nicht alles freie Chriftentum Flalbheit, die im 18. Jahrhundert
und im deutfchen Idealismus möglich war, heute
aber unmöglich geworden ift? In der Aufwerfung diefer
Frage liegt die eigentliche Bedeutung des Kaftanfchen
Richterfpruches. Natürlich habe ich mir diefe Fragen
auch oft und ernftlich vorgelegt. Allein ,das Chriftentum
' ift nicht die wefentliche gefchloffene Macht, von der
es heißen muß: sit ut est, aut non sit. Es liegt zer-
fplittert in zahllofen Konfeffionen und Kirchen und zugleich
als eine außerkirchliche Geiftesmacht vor. Da
bleibt Aufgabe und Recht, es zu neuem Sinn zu geftalten.
Andererfeits halte ich eine neue Religion der modernen
Welt für eine Utopie, die von der modernen Reflexionskultur
Unmögliches erwartet und die die unaufgeblichen
Kräfte der chriftlichen Lebenswelt verkennt. Dann aber
bleibt nur die Neugeftaltung der chriftlichen Ideenwelt in
einer aus der lebendigen Gegenwart gefchöpften Synthefe,
fo gut oder fchlecht als man es fertig bringt. Daß einer
folchen Synthefe die Leidenfchaft und der Hochmut der
abfoluten Wahrheit und damit die eigentliche kirchliche
Potenz fehlt, ift gewiß. Aber das ift kein Unglück. Denn
neben allem Heroifchen, Gewaltigen und Maffenpfycho-
logifchen, das diefe Meinung fertiger abfoluter Wahrheiten
hat, bringt es auch eine Unfumme geiftiger Herrfchfucht,
kleinlichen Unfehlbarkeitsdünkels, verlogener Sophismen
und gefährlicher Maffenpfychofen mit fich. Das Abfolute
ift bei Gott, alle menfchliche Wahrheit ift etwas Relatives,
aber durch irgendeinen Zug auf das Abfolute bezogen.
Wir leben in Annäherungswerten und überwinden gerade
darin den Unterfchied des Relativen und Abfoluten; und,
um zu fchließen, meine Theologie lebt von dem Abfoluten,
das in ihren Annäherungswerten enthalten ift. Ich fehe
keine andere Möglichkeit, religiöfe Pofitionen zu gewinnen,
und daher ift fie mir lieber als die Radikalismen katho-
lifcher, lutherifcher ufw. Traditionsgläubigkeit einerfeits
und moderner Zukunftsreligion andererfeits. So gedenke
ich auch im wefentlichen bei ihr zu bleiben.

Heidelberg. Tröltfch.

Ihmels, Geh. Kirchenr. Prof. D. Ludwig: Das Evangelium
von Jefus Chriftus. (Biblifche Zeit- u. Streitfragen VII,
2.) 4. Tauf. (46 S.) 8°. Berlin-Lichterfelde, E. Runge
1911. M.—60

Die Frage, ob der Anfpruch des gefchichtlichen
Chriftentums, eine Frohbotfchaft in einzigartigem Sinne
zu befitzen, auch gegenwärtig noch fich aufrecht erhalten
läßt, will der Vf. durch die Löfung einer doppelten Aufgabe
beantworten: 1) Was hat als das von den urfprüng-
lichen Zeugen und dem Herrn felbft gewollte Evangelium zu
gelten? 2) Wie kommt es zu einem rechten Verftändnis
und zur Gewißheit um die Wirklichkeit und Wahrheit
diefes Evangeliums? — Der Schwerpunkt der Schrift liegt
in der Erörterung des erften Punktes.

Um zu beftimmen, was das urfprünglich in der Gemeinde
Jefu bezeugte Evangelium ift, geht L von der Darlegung
des paulinifchen Evangeliums aus, das unbefchadet
feiner Originalität und feiner Eigenart fich hinfichtlich
der zentralen Tatfachen durchaus mit der gefamten apo-
ftolifchen Verkündigung deckt. Diefe zentralen Tatfachen
find der Tod und die Auferftehung Jefu Chrifti. Mit feinem
Zeugnis von der Heilsbedeutung desfelben ift Paulus auf
keinen Widerfpruch innerhalb der Urgemeinde geftoßen.
Für die gefamte apoftolifche Verkündigung war der