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Ausgabe:

1912 Nr. 23

Spalte:

724-728

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Theodor

Titel/Untertitel:

Ernst Tröltsch. Eine kritische Zeitstudie 1912

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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723 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 23. 724

Becher, Prof. Dr. Erich: Gehirn u. Seele. (Die Pfychologie
in Einzeldarftellungen. 5.) (XIII, 405 S.) Heidelberg,
C. Winter 1911. M. 540; geb. M. 6.40

In diefem ausgezeichneten Buch, das als fünfter Band
der von Ebbinghaus begründeten Sammlung pfycholo-
gifcher Monographien erfchienen ift, behandelt Becher in
drei Hauptabfchnitten das Nervenfyftem, die wichtigften
phyfiologifchen Erklärungen pfychifcher Erfcheinungen
und das ,Leib-Seele-ProblenV. Während er im erften
diefer Abfchnitte die wichtigften Ergebniffe namentlich der
hirnanatomifchen und hirnphyfiologifchen Forfchung zu-
fammenftellt, übt er im zweiten eine fcharffinnige Kritik an
denVerfuchen, diepfychologifchenAffoziations-,Reproduk-
tions- und Aufmerkfamkeitsgefetze phyfiologifch zu deuten
und überhaupt pfychifche Vorgänge phyfiologifch zu erklären
. Das Refultat diefer Kritik ift fehr negativ. Die
Schwierigkeiten, die Becher hier nachweift, Rheinen geradezu
unüberwindlich zu fein. Aber wenn an die phyfiologifche
Theorie ein fo ftrenger Maßftab angelegt wird, wenn es
ihr nicht erlaubt fein Poll, vorläufig noch unbekannte Abgrenzungen
der einer Vorftellung, einem Gedanken oder
auch einem Vorftellungs- oder Gedankenkomplex zu
Grunde liegenden Dispofitionen anzunehmen, dann muß
offenbar die pfychophyfifche Theorie in derfelben Weife
beurteilt werden. Die phyfiologifche Affoziationslehre hat
zunächft etwas ungemein Einleuchtendes: Wenn zwei Teile
des Zentralorgans gleichzeitig in Funktion verfetzt werden,
fo bilden fich zwifchen ihnen nervöfe Faferverbindungen
oder bereits ausgebildete gewinnen eine beffere ,Bahnung',
und wenn dann fpäter wieder einmal die eine der beiden
,affoziierten' Regionen in Erregung verfetzt wird, fo pflanzt
fich diefe Erregung auf dem Weg des kleinften Wider-
ftandes, alfo auf der gefchaffenen oder befonders aus-
fchliffenen Affoziationsbahn, zu der andern Region fort
und läßt dort die für diefe charakteriftifche Funktion
zuftandekommen. Ift mit der Erregung der einen Region
ein Bewußtfeinsvorgang a und mit der der andern ein
zweiter derartiger Vorgang b verbunden, dann fieht es
aus, als ob durch a (als ,Reproduktionsmotiv') b hervorgerufen
(reproduziert) worden wäre. Wenn a niemals
auftreten könnte, ohne b herbeizuführen, wenn es in jedem
Individuum zur Entftehung von b Veranlaffung
gäbe, dann würde man natürlich mit vollem Recht a als
die zureichende Urfache von b bezeichnen. Aber das
ift eben nicht der Fall. Deshalb bedarf man der Annahme
der Affoziation als einer Teilbedingung. Da a
und b flüchtige Prozeffe find, die entliehen und vergehen
und dann nicht mehr vorhanden find, fo kann die dauernde
Affoziation nicht zwifchen ihnen beliehen, fondern nur
zwifchen dem, was bleibt, wenn a und b verklungen find,
alfo zwifchen den ,Refiduen' von a und b, den ,Dispofitionen
', die durch den Ablauf von a und b beeinflußt
worden find, den ,Reproduktionsgrundlagen' für a und b
oder wie man diefes Beharrende fonft nennen will.

Nun zeigt Becher, daß die Affoziationstheorie in
große Schwierigkeiten gerät durch die Notwendigkeit,
die .Refiduen', zwifchen denen Affoziation befteht, zu
lokalifieren und durch die Erkenntnis, daß die Lokali-
fation des Refiduums der Vorftellung eines Gegenftandes
in einer eng umfchriebenen Region des Zentralorgans
und die Lokalifation des Refiduums der Vorftellung eines
andern Gegenftandes in einer ebenfo umfchriebenen
andern Region des Zentralorgans unmöglich ift. Die
Reproduktionsgrundlage für die Vorftellung eines Kirchturms
z. B. ift nicht in einer Gehirnzelle und die Reproduktionsgrundlage
für die Vorftellung des Dorfes, in
dem der Kirchturm fleht, nicht in einer andern Gehirnzelle
zu fuchen, fo daß, wenn uns der Anblick des Kirchturms
an das zugehörige Dorf erinnert, nur eine Überleitung
der Erregung von der einen an die andere
Gehirnzelle angenommen werden dürfte.

Wenn die Vorftellung des Kirchturms in uns auftritt,
fo befinden fich beftimmte, recht weit verzweigte Gehirnpartien
in Erregung, und zu der Vorftellung des Dorfes
gehören teilweife diefelben, teilweife andere Gehirnregionen
als nervöfe Dispofitionen. Die Annahme einer Affoziationsbahn
, die zwifchen zwei Gehirnzellen oder größeren
von einander reinlich getrennten Gehirnpartien wohl ver-
ftändlich ift, verliert ihre Bedeutung angefichts der diffufen
Lokalifation der Erregungen, die zur Vorftellung eines
Gegenftandes gehören.

Aber wenn wir uns fo kein rechtes Bild mehr davon
machen können, was es heißt, zwei Dispofitionen feien
mit einander affoziiert, während wir uns doch gezwungen
fehen, der Intaktheit nervöfer Zentren und Faferverbindungen
eine wichtige Bedeutung für das Beliehen von
Reproduktionsgrundlagen und Affoziationen zuzufchreiben:
gewinnen wir dann etwas, wenn wir behaupten, die
Affoziation fei überhaupt nicht etwas zwifchen nervöfen
Organen fondern etwas zwifchen nicht nervöfen feelifchen
Dispofitionen Beftehendes? Wenn Becher zeigt, daß wilden
phyfiologifchen Mechanismus des affoziativ bedingten
Gefchehens gegenwärtig nicht verliehen, fo zeigt er doch
nicht, daß wir von der ,pfychophyfifchen' Gefetzmäßigkeit
, für deren Anerkennung er eintritt, klarere Begriffe
haben.

In dem dritten Hauptabfchnitt feines Werkes entwickelt
er eine Lehre, wonach die Seele als Naturfaktor
in Wechfelwirkung mit der Materie flehend zu denken
ift. Er geht auch hier fehr fcharffinnig ein auf die
mancherlei Schwierigkeiten, die den entgegen gefetzten
Auffaffungen, insbefondere der Theorie des pfychophy-
fifchen Parallelismus erwachten, und verteidigt feine, in
gewiffem Sinn dualiftifch zu nennende Anficht gegen die
wichtigften Einwände. Das Buch kann jedem, der in den
bedeutfamften Weltanfchauungsfragen fich felbftändig eine
Überzeugung bilden will, wärmftens empfohlen worden.

Bern. E. Dürr.

Kaftan, wirkl. Ob-Konfift.-Rat. Gen.-Superint. D. Thdr.:
Ernft Tröltfch. Eine krit Zeitftudie. (III, 85 S.) gr. 8°.
Schleswig, J. Bergas 1912. M. 1.50

Wenn die Redaktion mir die vorliegende Schrift des
Generalfuperintendenten Th. Kaftan zur Befprechung zu-
gewiefen hat, fo hat fie es jedenfalls in der Vorausfetzung
getan, daß es von Intereffe fei zu erfahren, wie ich mich
zu diefer Beurteilung Helle und wie weit ich das hier von
mir entworfene Bild für zutreffend halte. Das letztere muß
ich felbft natürlich am bellen wiffen. Diefer Vorausfetzung
entfprechend fei daher auch die Anzeige gehalten. Doch
muß hier von vornherein Eines hervorgehoben werden.
Die ,kritifche Zeitftudie' ift nicht etwa, wie man bei diefem
Untertitel vermutet, eine Analyfe meiner Lehre im Verhältnis
zu den fehr verfchiedenartigen Strömungen der
modernen religiöfen Krifis. Sie ift vielmehr ein kirchliches
Votum über meine Vereinbarkeit mit der wefent-
lichen Lehre des lutherifchen Kirchentums. Von der
,Zeit' ift nur infofern die Rede, als ich bei folcher Prüfung
als Opfer des Zeitgeiftes, der Mode, des Weltfinnes,
der einfeitig durch die Naturwiffenfchaften veranlaßten
Befchränktheit erfcheine. Mein Fall tut dar, wie wenig
es auch bei ernfthaft religiöfem Sinn möglich ift,
dem Zeit- und Weltgeift in dem Hauptpunkte des
Wundercharakters des Chriftentums keine Konzeffionen zu
machen. Es ift alfo ein Glaubensgericht über den Zeit-
und Weltgeift, ausgeübt an dem Exempel eines Mannes, der
fich durch unleugbar guten und ernften chriftlichen Erkenntniswillen
dazu als befonders geeignet erweift. Damit
ift der unbedingt theologifche und kirchliche Charakter,
d. h. der Urteilsftandpunkt einer feilen kirchlichen Vorausfetzung
im Gegenfatz zu allen vorausfetzungslofen, die
Vorausfetzungen tunlichft in das erreichbar Allgemeinfte