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Ausgabe:

1912 Nr. 22

Spalte:

697

Autor/Hrsg.:

Tschubrowitz, Pawle

Titel/Untertitel:

Die Anschauung im Moralunterricht 1912

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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697

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 22.

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auf ganz beftimmte Verhältniffe (diefe nur etwa in den
Abfchiedspredigten). Über diefe aller Feftpredigt eignenden
Merkmale hinaus zeigt fich D.s individuelle Art be-
fonders in den außerordentlich reichlichen Beziehungen
auf allerhand Gefchehniffe und Perfonen der Gefchichte
und Kirchengefchichte, in der geradezu virtuofen Ausnützung
aller fich darbietenden Möglichkeiten der Anknüpfung
an das, was der Anfchauung und der Erinnerung
des Hörers naheliegt, in der Fülle von Zitaten, An-
fpielungen, Beifpielen (auch PYemdworten), Liederverfen.
Dazu kommt die hübfche Form: nach einer nicht ganz
kurzen Einleitung folgen ein nur einen oder doch wenige
Verfe umfaffender Text und in gedrungener Faffung Thema
und Teile, eine nicht lange, klargegliederte Ausführung
und ein packender Schluß. Der theologifche Standpunkt
drängt fich nicht vor: Polemik findet fich nur in ganz
allgemeiner Form und ohne verletzende Art; fröhlicher
Mut, chriftlicher Optimismus herrfchen. Ich kann diefe
Predio-tweife, fo gewiß fie Eigenfchaften befitzt, die für
jede Predigt von großem Wert fein können, natürlich nicht
als die für alle Gelegenheiten richtige anfehen; namentlich
fcheint mir die regelmäßige Gemeindepredigt noch
vieles andere zu verlangen. Aber als Gelegenheits-
predioten zeigen fie eine Meifterfchaft, die ihnen hohe
Wirkung fichert. Befonders fei hingewiefen auf die Predigt
zur Eröffnung der Landesfynode 1911 und auf die
Antrittspredigt in der Dresdner Hofkirche 1910.

Gießen. M. Schian.

Tfchubrowitz, Dr. Pawle: Die Anfchauung im Moralunter-
richt. Ein neuer Beitrag zur Lehre über die Bildg.
des moral. Willens. (III, 50 S.) 8°. Leipzig, B. Lie-
bifch 1911. M. I —

Diefe in einem fchauderhaften Deutfch gefchriebene
und fehr fchlecht gedruckte Arbeit befaßt fich mit der
Frage, wie man in den Kindern moralifche Gefühle erwecken
kann. Die Herbartianer werden zuerft abgelehnt
; denn das Moralifche muß nicht, wie fie meinen,
bloß geweckt, fondern gefchaffen und entwickelt werden;
dazu helfen aber deren Anfchauungsmittel nicht, weil diefe
äußeren Mittel keine inneren Motive der Luft und Unluft
wecken können, fondern im .Gedankenkreis' ftecken bleiben
. Die experimentelle Pädagogik wird abgelehnt,
weil ihre Mittel, Beifpiel, Lehre und Strafe, fowie die
Einübung, nur zu mechanifchen, legalen Gewohnheiten,
aber nicht zu einem moralifchen Willen führen.

Diefer wird nur durch Betätigung als das einzige
Anfchauungsmittel des Moralifchen geweckt. Gegenfeitige
Hilfe in der Gemeinfchaft hilft den Zöglingen einzufehen,
daß einer den andern braucht, und gewöhnt ihn, auf alle
Schmerzen und Freuden der anderen zu reagieren, als
wäre er es felbft; das ift das Moralgefühl, aus dem die
Moralprinzipien gefchaffen werden. — Die Kritik an diefer
Schrift liegt nahe: Altruismus ift nur ein Teil des Moralifchen
aber von der inneren Freiheit weiß man nichts;
ferner:'velle non discitur, man kann nur hoffen, daß aus
Anfchauung, Übung.Lehre und Strafe undSelbftbetätigung,
wie eine neue Schöpfung, der Sinn für das unbedingte
Gute erwacht. Dazu helfen vor allem die Imponderabilien,
von denen T. nichts weiß: der anfteckende Geift der Er-
zieher und der Gemeinfchaft, der wie ein Wunder aus
kluger Selbftfucht, gemäß dem Gefetz des Motivwandels,
jenes Unbedingte entftehen läßt, oder entftehen laffen
kann. Wie viel zumutendes und zutrauendes Vertrauen
von Perfon zu Perfon wirken kann, ift T. natürlich auch
ganz unbekannt, ebenfo die Bedeutung des Gehorfams,
der erft allmählich in die moralifche Freude am Guten
übergeht. Aber wir wollen T. den Hinweis auf die Selbft-
betätigung im Sinne der modernen Pädagogik auch als
Theologen nicht ungedankt laffen.

Heidelberg. K. Niebergall.

Mitteilungen.

Als Ergänzung des Berichts über den Leidener Kongreß
in den Nrn.20 und 21 bringen wir ferner noch folgende Mitteilungen.

28. Indem er die Sektion für Mythologie der Germanen, Kelten
und Slaven eröffnete, hob Prof. Dr. Sijmons (Groningen) in geift-
reicher Weife hervor, daß er zur Mythologie in entfernteren Beziehungen
ftehe, da er ,nur Philologe' fei. Er knüpfte an diefe perfön-
liche Bemerkung aber die allgemeinere, daß vielleicht dem neueren
Betrieb diefer Forfchung ein mehr philologifcher Zug nicht fchaden
könne, befonders auf dem Wege der von Müllenhoff gelehrten und
geübtenQuellenkritlk. In feinem Vortrag ,Theophore und theriophore
Namen' knüpfte Prof. R. M. Meyer an die Eröffnungsworte des
Hrn. Sijmons an, indem er fich zwar der Empfehlung gründlicher
philologifcher Methode befonders für die Quellenkritik durchaus
anfchloß, doch aber betonte, daß Gefahren auch in einer allzu
literarifchen Auffaffung der Religionsforfchung liegen. Ift es
fchon für die nah verwandte ,Heldenfage' nicht unbedenklich,
wenn man fie neuerdings ausfchließlich auf die fchriftlichen
Quellen aufzubauen verfucht, fo darf der Mytholog vollends nicht
vergeffen, daß der wichtigfte Inhalt feiner Forfchungsgegenftände
immer erft hinter den überlieferten Urkunden zu finden ift. Ein
Beifpiel hierfür gibt grade auch das vorliegende Thema. Die
Namengebung ift von großer religionsgefchichtlicher Bedeutung
und zwar nicht bloß die der Götter (die früher fogar überfchätzt
worden ift), fondern auch die der Perfonen. Man hat aus dem
Vorkommen oder Fehlen beftimmter Götternamen in Perfonen-
namen oft wichtige Schlüffe gezogen. So behauptet man, im
Norden fei der Gott Odin nur bei den Dichtern, nicht beim Volk
beliebt gewefen, und führt dafür an, daß fein Name unter den
nordifchen Theophoris fehr feiten ift. Die Tatfache ftimmt, aber
fchwerlich die Folgerungen, die jetzt eben wieder Naumann in
feinen ,Nordifchen Namensftudien' daraus gezogen hat. Zunächft
gibt es merkwürdige Analogien: auch der Name der athenifchen
Schutzgöttin Athena ift in Attika verhältnismäßig feiten; der der
alten Göttin Heftia fehlt ganz. In Rom find Namen gerade mit
Mars fpät. Aber gerade hier zeigt fich vielleicht auch die Erklärung
. Es kommen nämlich die heiligen Tiere des Kriegsgottes,
Specht und Wolf, gern in Namen vor. Wir werden deshalb an
der alten Auffaffung fefthalten dürfen, daß auch im Norden Rabe
und Wolf in Namen den Gott Odin vertreten, dem fie heilig find.
Dafür fpricht, wenn man das Material durchmuftert, weiter auch
der Umftand, daß diefe Namensteile faft nur mit folchen anderen
Namensteilen in zweiteiligen ,Vollnamen' verbunden werden, die
zum Kult in Beziehung flehen, wie ,Eid', ,Keffel', ,Stein' u.dgl.,
während andere Tiernamen, wie befonders der ungemein häufige
Bär, fich mit Namensteilen jeder Art kombinieren laffen. Endlich
befitzen wir in dem fchon urgermanifchen Namen ,Walram',
Rabe des Schlachtfeldes, einen unzweideutigen Hinweis auf das
heilige Tier des Schlachtengottes. Man wird alfo annehmen dürfen,
daß grade die Heiligkeit des Gottes im Norden — wie in Rom
die des Mars — feine direkte Nennung in Namen verhinderte und
theriophore Namen ftatt theophorer einfetzen ließ. —

BerIin- R.M.M.

29. Der Verföhnungsgedanke in der Religion. Prof.
Bertholet fucht am Beifpiel des Verföhnungsgedankens in der
Religion zu zeigen, wie von der analytifchen Darfteilung der einzelnen
religiöfen Erfcheinungsformen zu ihrer fynthetifchen Verbindung
fortzufchreiten fei, indem er als letztes Ziel hinter der
Gefchichte der einzelnen Religionen die Gefchichte der Religion
betont. Die Verföhnung faßt er als Herftellung oder Wiederher-
ftellung des guten Verhältniffes zwifchen Menfch und Gott. Nun
durchzieht die gefamte Religionsgefchichte ein fundamentaler
Unterfchied menfchlicher Auffaffungsweife: fie ift einerieits dy-
namiftifch, andererfeits animiftifch-dämoniftifch. In Wirklichkeit
mifchen fich beide Vorftellungsreihen, und das Magifche, das in
der Konfequenz der dynamiftifchen liegt, greift in die Religion,
zumal nach Seiten des Kultifchen hin und fpeziell wieder auf
dem Boden der Sühne, fo tief ein, daß die Verföhnung keineswegs
nur rein persönlichen, fondern vielfach auch dinglichen
Charakter trägt. Will man ihr aber fozufagen in Reinkultur begegnen
, fo hat man fich auf das engere Gebiet des persönlichen
religiöfen Verkehres zu begeben, auf dem die in der Linie der
animiftifch-dämoniftifchen Auffaffung liegenden Gedanken fich
auswirken. Hier läßt fich fchon aus der Erfahrung rein menfch-
lichen Verkehres, von dem der Verkehr zwifchen Menfch und
Gott irgendwie ein Spiegelbild ift, die Entwickelung des Verföhnungsgedankens
innerhalb der Religionsgefchichte ablefen.
Objekt der Verföhnung ift zunächft die Gottheit, und was ihre