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Ausgabe:

1912

Spalte:

694-695

Autor/Hrsg.:

Kern, Berthold

Titel/Untertitel:

Weltanschauungen und Welterkenntnis 1912

Rezensent:

Wendland, Johannes

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Ein Leitgedanke ift die Gegnerfchaft gegen den .Monismus
', der .überall ein und dasfelbe' fieht (S. 3), im besonderen
auch dem Lebenden und fpeziell den Menfchen
alle Sonderstellung im Dafein nimmt. — Mit Hilfe ihrer
allgemeinen Erkenntnisfätze ift die Naturwiffenfchaft nicht
imftande, den pofitiven Inhalt des Weltgefchehens mit
feinen faktifchen Befonderheiten zu erklären; .das gegenwärtige
energetifche Weltbild ift völlig unvermögend,
auch nur einigermaßen Auffchluß zu geben über die Bedeutung
der unendlichen Mannigfaltigkeit im Univerfum,
die Innehaltung diefer mannigfaltigen Unterfchiede und
ihre kontinuierliche Weiterführung'. .Die Hauptfätze z. B.
von der ewigen Erhaltung von Stoff uud Kraft', find
.lediglich Auffaffungsformen, gewiffermaßen naturwiffen-
fchaftliche Kategorien'; .durch diefe Kategorien ift nicht
das Allergeringfte ausgefagt über die inhaltlichen Dinge
felber und deren Unterfchiede'. ,Um einen Auffchluß
über diefe bestehenden Mannigfaltigkeiten zu erhalten, ift
es gänzlich verfehlt, wie es z. B. Häckel tut, in den Haupt-
fätzen den Schlüffel zur Löfung zu erblicken' (S. 192, ähnlich
S. 179, 181, 243, 288).

Hier find alfo die Grenzen der naturwiffenfchattlichen
Begriffsbildung und Erkenntnisvermittlung klar erkannt.
Sie& fallen aber naturwiffenfchaftlich überfprungen werden.
Es gefchieht durch eine eigenartige, dabei zugleich anti-
mornftifch orientierte Naturfpekulation. Deren Anfänge
erinnern merkwürdig an die beiden antagonistischen Grundkräfte
der Schellingfchen Naturphilofophie. Es wird unterschieden
die eindimensionale Aktualitätsrichtung der chemischen
Maffenteilchen (S. IX), die, für fich allein wirkend,
dazu führen würde, allen Stoff fortlaufend immer mehr
in individuellen Maffeneinheiten zufammenzufaffen. Dem
legt fich eine .imponderabel-energetifche Gefchehensfeite'
(Wärme, Elektrizität ufw.) in den Weg. Wir haben alfo
einen .energetischen Antagonismus' zweier Gefchehens-
feiten in ursprünglicher Koordination und ein eigentümliches
Oszillieren der Gegenkräfte. Zu diefem Prinzip des
.energetischen Antagonismus' tritt hinzu ,das pythagoreifch-
atomiftifche Entwicklungsprinzip'. Es ift keineswegs alles
bloße Gefetzlichkeit; vielmehr mitten in Zufälligkeiten zur
Geltung kommende Gefetzlichkeit. Darum ift ein Anfang
diefes Gefchehens zu poftulieren als ein Zuftand größtmöglicher
Ungefetzlichkeit, in dem aber doch eine Gefetzes-
ordnung latent war. Das führt zu der Vorstellung von
unendlich vielen, ganz bestimmt zahlwertigen und infofern
an fich beftimmteOrdnungsfyftemeenthaltendenUrteilchen,
die aber tatfächlich vollständig durcheinander gewirbelt
waren. Diefe gruppieren fich nun beftändig nach ihrer
Zahhvertverwandfchaft um, alfo gefetzlich, dabei aber
doch zugleich abhängig von ihren zufälligen Lagerungs-
verhältniffen.

In diefen Geftaltungsprozeffen hat das Lebende eine
zentrale Stellung. Die anderen materiell - energetifchen
Systeme, die des Anorganifchen, unterstehen ganz der
eindimensionalen Aktualitätsrichtung der chemifchen Maffenteilchen
, das Einwirken der imponderabel-energetifchen
Gefchehensfeite führt hier nur zur Auflöfung des Systems.
Das Lebende dagegen ift ein folches mechanifches Syftem,
das fich ,in der Einheit des materiell-energetifchen Gleichgewichts
' zu erhalten vermag', da es .imftande ift, die imponderabel
-energetifchen Faktoren in feinen Bereich zu
ziehen' (S. 128), alfo eine eigentümliche Art, fich in beharrender
Einheitlichkeit behauptendes Gleichgewichts-
fvftem (es facht ,am unveränderlichen „Sem" zu bleiben',
S. 335). Damit meint Str. fowohl den einfeitigen Mechanismus
, der die Befonderheit des Lebenden nicht beachtet
, als auch den Vitalismus vermeidend, dem Berechtigten
beider Richtungen zugleich zu genügen. Das
plötzliche Auftauchen eines .Inneren', wie wir es an unferem
Seelifchen erleben, fcheint ihm dabei nicht viel Gedanken
zu machen. Die pfychifche Reizfamkeit (S. 351) und die
Intelligenz (S. 353) ift ganz überrafchend rafch da, wie
man fchon S. 350 ,mit einer zentralen Ganglienzelle und

einer beliebig großen Summe peripherer Zellen des Körpers
das Problem von Körper und Geift in feiner primitiven
Form' vor fich haben fall (vgl. auch S. 329: .pfychifche
Verfaffung'). Hier verfährt Str. felbft moniftifch; wenn
nämlich das moniftifch ift, überall ein und dasfelbe zu
fehen.

Auch in dem Streite zwifchen Darwinismus, der
übrigens in vielem trefflich kritifiert wird, auf der einen,
Lamarckismus auf der anderen Seite liegt die Entfeheidung
in jener eigentümlichen mechaniftifchen Gleichgewichtstheorie
. Alle Lebensentwicklung ift fortgefetzte Gleichgewichtsbehauptung
im Wechfel der kosmifchen Ver-
hältniffe. Die befondere, ja exzeptionelle Stellung des
Menfchen im Zufammenhang des Lebenden wird betonend
hervorgehoben. ,Wir erkennen, wie unfehlbar als die
j bemerkenswerte Befonderheit des Lebenden ein Zielpunkt
I fich herausarbeiten mußte, der Menfch' (S. 367). Alle
j anderen Lebensformen find Einfeitigkeiten; in der Linie
j Menfch allein behauptet das Lebende feinen vollen Gleichgewichtscharakter
. Alfo das Weltall ift in feiner Selbft-
entwicklung mit feinem energetifchen Antagonismus angelegt
auf das Lebende und in unferem Lebenskreis auf
den Menfchen. Im Menfchen läge danach für uns die
Löfung des Weltproblems. Wenn wirklich im Menfchen
dann wäre nun des Weiteren doch wohl die Gefchichte'
diefes Menfchen zu befragen. Statt deffen aber befchert
uns Str. nur abftrakte Unbeftimmtheiten — und fonft ift
er doch fo gegen alle abftrakten Allgemeinheiten — von
einem kosmifchen Gefamtlebenszufammenhang und einer
kosmifchen Gefamtzielrichtung im Menfchen und einem
neuen Gottesbegriff (namentl. S. 103 fr.), der, an der Gefchichte
gemeffen, alles andere fonft ift, nur nicht ein
Gottesbegriff, und noch unbeftimmter und abftrakter als
der Gottesbegriff der Religion innerhalb der Grenzen der
Humanität.

Gnadenfeld. Th. Steinmann.

Kern, Berthold: Weltanlchauungen und Welterkenntnis. (XII,
459 S.) gr- 8°. Berlin, A. Hirfchwald 1911. M. 10 —
B. Kern, Generalarzt der Armee, Prof. Dr. med. et
phil., verfolgt in dem vorliegenden Buche, ebenfo wie in
früheren in diefer Zeitfchrift noch nicht befprochenen
Büchern (,Das Wefen des menfehlichen Seelen- und Geiftes-
lebens als Grundriß einer Philofophie des Denkens', 1907 *
,das Problem des Lebens in kritifcher Bearbeitung', 1909;
,das Erkenntnisproblem und feine kritifche Löfung', 1910)
die Tendenz, eine Synthefe zwifchen naturwiffenfehaftlicher
und philofophifcher Forfchung zu gewinnen. Kern facht
zunächft das Recht der naturwiffenfehaftlichen Weltbetrachtung
bis in ihre letzte Konfequenz hindurchzuführen
. Kern braucht den fonft mit Recht angefochtenen
Ausdruck .naturwiffenfehaftliche Weltanfchauung'. Diefer
Terminus gewinnt bei ihm einen unbedenklichen Sinn.
Denn .Weltanfchauung' ift für ihn nicht das Höchfte,
Abfchheßende, was wir gewinnen können, fondern, wie
fchon der Titel des Buchs befagt, kennt Kern mehrere
Weltanfchauungen, die einfeitig find, die naturwiffenfehaftliche
und zwei idealiftifche Weltanfchauungen (der Idealismus
der Erkenntnis und der Idealismus des Gefühlslebens);
erft deren Synthefe ergibt eine abfchheßende ,Welt-
erkenntnis.' (Diefe Terminologie wird fchwerlich allgemein
durchdringen.) Als berechtigte naturwiffenfehaftliche
Weltanfchauung, die für die Welterkenntnis einen
einfeitigen Gefichtspunkt konfequent durchführen muß,
vertritt Kern einen Mechanismus, der zunächft nirgends
Halt machen kann. Er lehnt die vitaliftifche Auffaffung
der Lebensvorgänge mit der Begründung ab, daß die
komplizierten phyfikalifchen und chemifchen Vorgänge
in den Organismen noch längft nicht fo weit durchforfcht
feien, daß der Vitalismus die Behauptung wagen dürfte:
die phyfikalifchen und chemifchen Kräfte find keinesfalls
ausreichend, um die Lebensvorgänge zu erklären. Soweit