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Ausgabe:

1912 Nr. 22

Spalte:

680-682

Autor/Hrsg.:

Dibelius, Martin

Titel/Untertitel:

Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer, untersucht 1912

Rezensent:

Hoennicke, Gustav

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679

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 22.

680

Die Handfchrift 557 von Monte Cafino ift zu ihrem
größeren Teil von einem Schreiber Ferro um 1166 dort
hergeftellt worden, teilweife durch Abfchrift aus dem
ebendafelbft erhaltenen cod. 292 (saec. XI). Zu den in
beiden Handfchriften erhaltenen Stücken gehört ein hebräi-
fches Alphabet: secundum Esdram veri characteres
Hebraeorum nomina et interpretationes eorum (Abb. auf
Tafel 2—4). Weiter einige Stücke, die in Migne PL. ,24,
1357—1470' und in der Bibliotheca Casinensis V, 292
herausgegeben find. Über den mutmaßlichen Verfaffer
diefer Stücke fagt Amelli, daß er Martianay (Migne PL.
,23, 1392') und S. Berger (Quam notitiam etc. Paris 1893, 1)
zuftimme, qui ea erudito cuidam Hebraeo tribuunt, saec.
IX ineunte, temporibus Ludovici Pii imperatoris et Ra-
bani Mauri, in scientia Legis florenti. Nun bietet unfere
Handschrift 4 lateinifche Pfalterverfionen hintereinander,
an erfter Stelle die des Hieronymus aus dem Hebräifchen,
an zweiter das Pfalterium Gallicanum, an vierter das Ro-
manum, an dritter die hier veröffentlichte, über die nihil
certi de eius origine aetate atque autore invenire potuimus,
quin potius indefinibile quidpiam ac veluti proteiforme,
quod diu incertos nos et hesitantes reliquit, utrum ab
ipso fönte hebraico, an a LXXvirali versione iuxta
antiquam versionem sit derivata vel potius tentamen ali-
quod novae correctionis veteris latinae versionis proferat.
Auf jeden Fall glaubt A., wir hätten hier novam fodinam
singularium lectionum tarn pro Hebraico textu quam
pro LXXvirali versione etiam pro Hexaplari, sed prae-
sertim pro antiquissima africana et itala versionibus, ex
quibus omnibus fontibus abunde hausisse ignotum eius
auctorem coniicimus. Schließlich ift § VII De praesu-
mibile huiusce recensionis auctore Rufino überfchrieben.
Hieronymus fchreibt nämlich offenbar mit Anfpielung auf
Rufin (epist. 106, 57): Daß man egotidevcoöacftatt mit despe-
xisti auch überfetzen könne secundum dissertissimum istius
temporis interpretem ,annichilasti' vel ,annullasti' vell ,nulli-
ficasti', et si qua alia possunt inveniriapudimperitosportenta
verborum. Tatfächlich findet fich in unferer Überfetzung
11S, 118 ,nullificasti'. In demfelben Brief fchreibt Hieronymus
, wenn man Pf. 105, 8 amaricaverunt ftatt irritaverunt
fchreiben wolle, fo wäre das fo fchlecht wie ,annullatio'
oder ,annichilatio'. In unferer Hdf. fteht examaricaverunt.
Trotz diefer und anderer beltechender Gründe glaube ich
nicht an fo hohes Alter. Das Latein der geänderten 1
Stellen fcheint mir fpäter und fchlechter als Rufins Zeit
und Feder: das entscheidende Wort müffen Romaniften
fprechen. Man vergleiche:

Pf. 62, 6 froniscat anima mea; 64, 5 fruniscamur
67, 4 iucundentur et denseantur (= dancer).
88, 40 arcanuisti 45 adlentasti
106, 41 condaminas (= Familien) 118, 74 timeriem
tuum

arguus 37, 15; 72, 14 (nicht im Thefaurus belegt);
expassare 123, 8.
Wie fchlecht die hebräifchen Kenntniffe oder die
Methode des ^.berfezers waren, einige Proben:

Pf. 118, 162 sextus ego sum = Tiiüiü, ich freute mich; 121, 4
sexagenariae = Btaui = denn dort; 123, 2 dominus erat nobis bacum
super nos homines; Pf. 136, 2 Unfere Harfen hingen wir ad occasasos
(Untergang = 313). Ganz fonderbar ift der Grundfatz, die Partikel
N2, XStt durch pius wiederzugeben: Pf. 113, 10 ne dicant gentes,
ubi pietates dei eorum; 117, 3. 4 dicant pia domusaaron; dicant pii
timentes; 25 pietas domini salvat nos, pietas domini diriget nos;
118, 76 sit pia misericordia tua; 108 accepto fer pie domine; 121, 8
loquebar pie pacem in te. Weil D23 auch ,der Knochen' heißt, lefen
wir bei Ableitungen von diefer Wurzel 34, 18 in populo osseo; 67, 36
ossafundabit populo suo; 68, 5 ossefacti sunt; 138, 17 ossata sunt; 141,7
ossuati sunt. Dies zugleich ein Beleg, wie frei der Mann mit der Sprache
fchaltet: ossäre, ossuare, ossefacere, ossafundare! Die finnlofeften Verwechslungen
an den bekanntelten Stellen: 129, 1 propter legem; 143, 3
quid adam et documentum eiusi filius hominis et cogitatus eius; V. 12
divitiae (= "Hütt). Daß die nota accusativi häufig, aber nicht immer,
durch cum wiedergegeben wird, hat an Aquila ein Vorbild; wer aber
21, 6 überfetzt: deitatem tuam ("yuStt) invocantes salvi facti sunt, I
dürfte fich dadurch wohl als Profelyten erweifen, der mit folcher Über- j
fetzung großtun oder gefallen will. Die parallelen Stellen in Pf. 60

und 107 lauten collem tabernaculi = vallem diliciarum; a firmamento
capitis = supsceptio cap.; moderatio mea = rex meus; spei meae =
spes mea, coassatio = copulabuntur; obsidii = civitate vallata.

Jüdifche Gelehrte mögen entfcheiden, ob die Überfetzung
einer beftimmten lexikalifchen Tradition folgt;
vgl. das über M Bemerkte; oder DS ftets = fossa, und
wo fie zu Haufe war. Mir fcheint das ganze eine Kurio-
fität, aus der mehr die Wiffenfchaft des Spätlateinifchen,
als die biblifche einen Gewinn ziehen mag.

Auf den Abdruck des Textes (bis S. 103) folgt eine
Appendix, die enthält:

1. Specimen Psalterii Casinensis critice iuxta fontes examinati (=
Pf. 21) bis S. 116. 2. Tertulliani et Cypriani tcstimonia. 3. Arnobii
Afri testimonium. 4. Notabilia philologica. 5. Augustini testimonia.
6. Ambrosii testimonia. 7. Hieronymi testimonia. 8. Specimen lectionum
Psalterii Cas. ex Hebraico textu derivatarum. 9. Specimen lectionum
Psalteri Casinensis Hexaplorum fragmentis consonantium. 10. Specimen
Duplicatarum Psalterii lectionum. 11. Index lectionum praetcrmissarum.
12. Additiones in Psalterio C.

Diefe Überficht zeigt, welche Sorgfalt der Herausgeber
aufbot; auch der Index nominum propriorum und ein
zweiter Index nominum et rerum beftätigt das. Doch
finden fich da und dort kleine Fehler und Lücken. Es
fehlt z. B. species 36, 10 als 2 sg. fut; hora 77, 55 (= bin?).
Die ,Doppelüberfetzungen' beginnen fchon 1, 4 ,non sie
dirigetur impii' wo dirigetur zweite Überfetzung von 'J3 ift.
Den zwiefpältigen Urfprung zeigt fchon 2, 12 osculate
diseiplinam, wo diseiplinam aus dem Griechifchen bezw,
Lateinifchen ftehen blieb, und osculate aus dem Hebräifchen
eingefetzt wurde. Für das letztere hatte der Verf.
eine unvokalifierte, darum aber nicht ,vormaforetifche' Hdf.
vor fich; daher die Verwechslungen von bi< und bfct und bs
9, 33; 55, 35 0? und 03? 46, 10; 72, 21; iä und i*j 72, io";
0© und 0© 86, 4. Wie aber felbft bei einem folchen
Stümper das Stilgefetz der varietas wirkt, zeigt 9, 14. 15
de portibus ... in portis; 71, 13 pauperem et animas pau-
peras, 93, 1 altissimus defensionum, altissimus ultionum.
Mich würde es für den Fleiß des Herausgebers freuen,
wenn der Überfetzung doch mehr Bedeutung zukommen
würde, als ich ihr bis jetzt zufchreiben kann; und als
Beweis für diefe Möglichkeit führe ich von S. 124 noch
an, daß Auguftin zu 41, 8 die Überfetzung suspensiones
befpricht, unfer Pfalterium hier und 92, 4 suspensationes
hat, beidemal für hebräifches "D1D12. Am eheften wird
man vom Neubearbeiter des Sabätier und von den Bearbeitern
des lateinifchen Thefaurus ein ficheres Urteil erwarten
dürfen.

Noch eins zum Titel: Die von Aidan Gasquet dem
Vorfitzenden der Vulgata-Kommiffion gefchriebene Vorrede
behandelt Collectanea als weiblichen Singular;
Collectanea, —ae, wie man im Mittelalter Biblia, — ae
fagte, und im Englifchen häufig Apocrypha als Singular
behandelt wird. Soll das fo bleiben?

Mögen weitere Veröffentlichungen bald folgen und
Wichtiges bringen.

Maulbronn. Eb. Neftle.

Dibelius, Priv.-Doz. Lic. Dr. Mart: Die urchriftliche Überlieferung
v. Johannes dem Täufer, unterfucht. (Forfchungen
zur Religion u. Literatur des Alten u. Neuen Teftaments.
Hrsg. v. Wilh. Bouffet u. Herrn. Gunkel. 15.) (VI, 150 S.)
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 191 r. M. 4.80

Befonders Theodor Keim hat auf das Problem der
gefchichtlichen Stellung Johannes des Täufers aufmerkfam
gemacht. Seit ihm find mannigfache Arbeiten über den
Täufer erfchienen, ohne daß felbft in den Hauptpunkten
des Problems eine Einigung erzielt wäre. Die Akten
über die Frage nach dem gefchichtlichen Wirken des
Täufers find noch nicht gefchloffen. Mit der Schwierigkeit
der Beurteilung der Quellen hängt es zufammen, daß
die Perfon Johannes des Täufers fo fchwer zu erkennen ift.
Dibelius bietet hier eine fehr dankenswerte, umfichtige
literarhiftorifche Unterfuchung, Er befchränkt fich auf