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Ausgabe:

1912 Nr. 22

Spalte:

675-677

Autor/Hrsg.:

Whittaker, Thomas

Titel/Untertitel:

Priests, Philosophers and Prophets 1912

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 22.

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An zweiter Stelle find eine Reihe z. T. fehr bedeutender Artikel
aus dem Gebiet der Philofophie und Apologetik zu nennen. Von
Philofophen find behandelt Fechner, Feuerbach, Fichte, Fries, Hartmann,
Hegel, Herbart; Naturforfcher wie Du Bois-Reymond, Fleifchmann,
Häckel find entfprechend gewürdigt. Vor allem aber find hier mehrere
umfangreiche prinzipielle Artikel mit Dank zu nennen: voran zwei von
forgfältigfter Vertiefung zeugende Beiträge von Titius, über Energie und
Energetik (12 Sp.) und über Entwicklungslehre (34 Sp.— Über die ,reli-
giöfe Entwicklung des Menfchen' handelt Kaiweit noch befonders auf
8 Spalten); fodann E. W. Mayer über Erkenntnistheorie (16 Sp.), Eck
über Gefchichtsphilofophie (12 Sp.). Auch Troeltfch's Auffatz über Gefetz
(14 Sp.) darf hier aufgeführt werden, da er das Dogmatifche und
Ethifche auf breiter religionsphilofophifcher Grundlage behandelt. Themata
wie Dualismus (Steinmann) und Empirismus find kürzer behandelt
; für den Empiriokritizismus werden wir fachgemäß auf Pofitivis-
mus verwiefen.

Dem Kirchenrecht und der Kirchenpolitik find diefes Mal
viele, wenn auch nur wenige umfangreiche, Artikel gewidmet: z. B. Disziplinarverfahren
, Eherecht, Evang. Vereinigung, Feuerbeftattung, General-
fuperintendent, Gemeindeverfaffung. Stärker vertreten noch ift die
Sozialwiffenfchaft: Eigentum, Eifenbahnen, Frau (mehrere Artikel),
Fürforge, Geld und Kredit, Genoffenfchaften, Gewerbe, Gewerkfchaften,
Heimarbeiter. Aus der Pädagogik hebe ich heraus Erziehung (Schiele),
Erziehungsanftalten (Lempp), Fortbildungsfchulen (Tews, lehnt den Rel.-
Unt. ab), Fürforgeerziehung, Gymnafium.

Am fparfamften von allen Rubriken ift diefes Mal die Kunft bedacht
: Dürerbund, gregorianifcher Choral, griechifch-römifche religiöfe
Kunft (Plaftik, nicht Tempel, mit fchönen Bildern), Händel, Haydn.

Auf den Schluß habe ich die Gruppe aufgespart, die vielleicht die
intereffantefte und bezeichnendfte ift: religiöfes Leben der Gegenwart
. Schon manche früher genannte Artikel liefern auch zu diefem
Thema Beiträge; ausdrücklich hierher rechnen müffen wir befonders
folgende Stücke: Dichter und Denker des Auslandes (18 Sp. von Öfer.
Befonders behandelt find außerdem noch: Dickens, Eliot, Emerfon, Fo-
gazzaro). Die religiöfen Gedanken der neueren deutfchen Dichter foll
unter ,rel. Dichtung', die der Philofophen unter ,Ph. der Gegenwart'
behandelt werden. Doch find Eichendorf, Goethe, Frenffen, Hebbel,
Hebel fchon mit befonderen Artikeln bedacht. Auf 12 Sp. fchildert
Baumgarten Englands rel. Leben im 19. Jahrb.., derfelbe auch ,Eng-
länderei im kirchlichen Leben'. Über Erbauung fchreibt Niebergall, daneben
Mulert noch befonders über Erbauung an Natur und Kunft, und
derfelbe über moderne ,Erfatzreligionen', über Ethifche Kultur und
Egidy. Aktuell find Artikel wie rel. Diskuffionsabende, Friedensbewegung
, Gebetsheilung, Gemeindeorthodoxie, Gemeinfchaftschriftentum,
Evangelifation, Evangelifch-fozial, Germanifierung des Chriftentums, und
damit die katholifche Kirche nicht fehlt, Herz Jefu und Herz Maria.

Nenne ich endlich noch einige bedeutfame noch nicht
erwähnte Namen aus der von Mulert bearbeiteten Biographie
des 19. Jahrh., wie: De Wette, Döllinger, Dörp-
feld, Fliedner, Fr. W. Foerfter, Friedrich Wilhelm III.
und IV., Frommel, Gladftone, Göhre, v. d. Goltz, Goßner,
Cl. Harms, A. Harnack, Hafe, Hefele, Hengftenberg,
W. Herrmann, fo wirkt der Eindruck des vielfeitigften
und doch forgfältig ausgefuchten Reichtums in der Tat
überwältigend. Je länger man das Werk benutzt, um fo
mehr fteigt die Bewunderung vor den Schätzen des
Wiffens und des Urteils, die hier niedergelegt find, und
vor der überfchauenden Geifteskraft, die diefen gewaltigen
Stoff organifiert hat. Wenn man zufällig hier und da
einmal eine Lücke entdeckt (Stichwort Efchen, Hinweis
bei dem Artikel: /Dichter und Denker' auf Dickens; ge-
wiffe unvermeidliche Ungleichmäßigkeiten im Umfang), fo
wird einem gerade dadurch doppelt bewußt, welch eine
meifterhafte Leiftung hier gleich bei der erften Ausgabe
gelungen ift. Die freigerichtete proteftantifche Theologie
darf ftolz fein auf diefes Werk, das trotz der wichtigen
Unterftützung vieler_ nichttheologifcher Gelehrter doch
wefentlich ein Zeugnis ihres Könnens ift.

Hannover. Schuft er.

Whittaker, Thomas: Priests, Philosophers and Prophets.

A Differtation on revealed Religion. (V, 251 S.) gr. 8°.
London, A. u. C. Black 1911. s. 5 —

Der Inhalt des Buches läßt fich kurz folgendermaßen
zufammenfaffen:

Mag es immerhin richtig fein, daß die Religion vielfach
wild ,wächft' und ohne Kontrolle durch den reflektierenden
Verftand entfteht und fleh entwickelt; ebenfo
ficher ift doch auch, daß fie unter Umftänden ,gemacht'
wird, ein im hellen Lichte des Bewußtfeins geschaffenes

Erzeugnis der theoretifchen Vernunft ift. Ein folches
Erzeugnis war zweifelsohne die efoterifche monotheiftifche
Religion der ägyptifchen und babylonifchen Priefterfchaft.
Und diefe Religion, diefe Schöpfung der Spekulation hat
nun den größten Einfluß ausgeübt auf alle höheren Religionen
des Weftens; von ihr ftammt durch eine Reihe
von Mittelgliedern hindurch der moderne ethifche Monotheismus
ab. Denn auf fle geht nicht nur der Monotheismus
der griechifchen Philofophie zurück, fondern auch
der Monotheismus der Zarathuftrareligion und der Monotheismus
Ifraels. Das Chriftentum aber ift eine Kombination
des jüdifchen Monotheismus mit Gedanken der
griechifchen Philofophie und allerdings noch anderen untergeordneten
Elementen. Der Iflam feinerfeits wieder
eine eigenartige Kombination jüdifch-chriftlicher und
anderer Elemente. Und noch Später in mannigfachen
Erfcheinungen, beifpielsweife im Deismus, wirkt jener alte
fpekulative Monotheismus nach! Zum Schluß gibt dann
der Autor der Überzeugung Ausdruck, daß einem derartigen
rational fundierten Monotheismus mit ethifcher
Zufpitzung, wie man ihn auch immer genauer faffen und
ableiten möge, eine bleibende Bedeutung und bleibender
Wert zukommen.

Indeffen liegt für ihn das Schwergewicht nicht auf
diefer letzten Ausfage, fondern auf den vorhergehenden
hiftorifchen Thefen. Deren Begründung nimmt den größten
Raum im Buche ein. Doch befteht fle weniger in dem
Nachweis, daß der behauptete Zufammenhang zwifchen
der ägyptifchen oder babylonifchen Religion und den
fpäteren Erfcheinungen tatsächlich ftattgefunden hat, als
in dem befcheideneren Hinweis darauf, daß er möglich
gewefen fei. Das darzutun ift natürlich nicht fchwer, fo-
fern die ägyptifche Religion und die griechifche Philofophie
in Betracht kommen. Dasfelbe gilt vielleicht auch noch
inbezug auf Babylonifches und Perfifches. Dagegen kann
der Autor feine Lehre von der Herkunft des jüdifchen
Monotheismus aus babylonifchen religiöfen Spekulationen
nur aufrecht erhalten mit Hülfe von Gewalttaten und
unter Aneignung der radikalen Hyperkritik von Havet,
Vernes und namentlich Dujardin: die ganze altteftament-
liche Literatur nachexilifch; die, unferer Beobachtung
zugängliche, ifraelitifch-jüdifcheReligionsgefchichtebeginnt
mit dem nachexilifchen Gefetz; die prophetifchen Schriften
bedeuten wohl eine Reaktion dagegen; die Propheten felbft
find aber Fiktionen; fie haben nie exiftiert. Ganz ähnlich
wird mit dem Chriftentum umgefprungen: der Inhalt der
Evangelien Mythus; die paulinifchen Briefe apokryph; Jefus
und Paulus Fiktionen! Einer der wenigen religiöfen Heroen,
inbezug auf den eine Ausnahme gemacht wird, ift Mu-
hammed: ,während die früheren Propheten legendär oder
myftifch find, fteht Muhammed deutlich erkennbar im
Lichte der Gefchichte da'.

Es muß dem Autor nachgerühmt werden, daß er in
diefen feinen überkühnen Ausführungen einzelne Theorien,
die er nicht gefchaffen fondern vorgefunden hat, recht
gefchickt verwendet und beleuchtet. Das erhält feinem
Werk trotz aller abenteuerlichen Paradoxien einen ge-
wiffen Reiz. Eine Auseinanderfetzung freilich mit feinen
Behauptungen muß als leichte Aufgabe für die einzelnen
hiftorifchen Disziplinen vorbehalten bleiben. Hier nur
ein Wort über feine religionsphilofophifche Stellung. Da
zeigt er fich einerfeits doppelt abhängig von dem Po-
fitivismus Comtes, anderfeits weicht er wieder davon ab.
Das letztere tut er, indem er wenigftens einem Beftand-
teil der Religion dauernde Bedeutung zufpricht: darin
nähert er fich eher H. Spencer. Dagegen hat er mit
Comte die intellektualiftifche Auffaffung vom Wefen der
Religion gemein. Gemein hat er aber auch mit ihm die
Anfchauung, daß die Religion, nachdem fie einmal in
grauer Vorzeit entftanden ift, fich gleichfam von felbft
kraft des Tätigkeitsgefetzes durch die Jahrhunderte hindurch
erhalten habe, indem höchftens ihre Elemente
immer wieder andere Kombinationen eingehen, ohne daß