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Ausgabe:

1912 Nr. 21

Spalte:

660-661

Autor/Hrsg.:

Bulle, Ferd.

Titel/Untertitel:

Franziskus Hemsterhuis u. der deutsche Irrationalismus des 18. Jahrhunderts 1912

Rezensent:

Hoffmann, Richard Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 21.

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geift zog damals ein, und die Freiheit mußte ihr Haupt verhüllen
. Denunziantentum und Gefinnungsfchnüffelei kamen
hoch und trieben mit fich allerlei Exiftenzen, wie den
Juden David Ferdinand Koreff, die dank der erforderlichen
Devotion fich maßgebende Pofitionen errangen.
Seinen Sitz aber hatte der reaktionäre Geift, deffen mini-
fterieller Vertreter Altenftein war, ,ganz in der Nähe des
Thrones, in einem Teil der Hofgefellfchaft und der oberften
ftaatlichen Organe, und der König felbft war von Natur
wie nach der Auffaffung, die er von feinen Rechten und
Pflichten hatte, nur zu fehr geneigt, den Einflüfterungen,
die ihm von dort her kamen, fein Ohr zu leihen' (II 34).
Er ließ alle Verbindungen unter der Studentenfchaft verbieten
und drohte mit Aufhebung der Univerfität, ,auf
welcher der Geift der Zügellofigkeit nicht zu vertilgen
ift'. Wie de Wette diefer Reaktion zum Opfer fiel, hatte
Lenz fchon in der Philotefia für Kleinert ausgeführt, die
Univerfitätsgefchichte bringt einige Ergänzungen, Schleiermacher
aber drohte die Strafverfetzung nach — Greifswald
. Überd em Ganzen aber fchwebte als wiffenfchaftlicher
Schutz die Hegelfche Philofophie, deren ftaatsregiment-
liche Natur ftärker denn je heraustritt; von daher fteckt
der Orthodoxie der philofophifche Zug im Blute und erklärt
es fich, daß Orthodoxie und Alt-Liberalismus fich
beffer vertragen als Orthodoxie und Ritfchlianismus; jene
haben in Hegel einen gemeinfamen Vater. Der die Pro-
fefforen beauffichtigende Regierungsbevollmächtigte wurde
Friedrich Schultz; traurig ift der Einfluß des Bifchofs
Eylert, der in feinen Gutachten eine Art Programm der
Reaktion gegen die andrängende Flut des Liberalismus
entwarf mit Forderung einer feierlichen Ablegung des
Glaubensbekenntnifies beim Reifeexamen, Zeugniffe über
fleißigen Befuch des öffentlichen Gottesdienftes feitens der
Studenten (mit der Begründung: ,denn, wenn gleich niemand
zur Religiofität gezwungen werden kann und darf,
fo ift es doch charakteriftifch und bedeutend, wenn der
akademifche Jüngling an den Übungen derfelben gar keinen
Anteil nimmt') etc. Eylert hat auch Hengftenberg die
Wege geebnet, neben dem Kronprinzen. Es ift von L.
ganz richtig beobachtet, daß diefe Reaktion keinen pie-
tiftifchen Charakter trägt, fondern noch deutlich Fühlung
mit dem Rationalismus verrät, der eine juriftifche Er-
ftarrung erlebt, aber das kann über das Verhängnisvolle
der Bewegung nicht hinwegtäufchen. Und jammervoll ift
der Subalterngeift, mit dem unter devoter Verbeugung
jede minifterielle Vergewaltigung hingenommen wird!
Schon die Akademie nimmt mit,freudigem, (dann korrigiert
in: .pflichtmäßigem') Gehorfam' (I 194) den Befehl des
allerhöchften Protektors auf Preisgabe ihrer Inftitute hin,
und fo gewiß minifterieller Eingriff gegenüber dem Cli-
quenwefen der Fakultäten nicht feiten gut war (vgl. II
460 ff. betr. den Chirurgen Dieffenbach), diefe fubmiffen
Verneigungen vor den gröbften Gewalttätigkeiten der
Regierung find dem, der fchweizerifchen Freiheitsgeift
kennt, einfach unerträglich. ,Der Herr Minifter hat's gegeben
.... der Name des Herrn Minifters fei gelobt!'
Diefe Subalternftimmung — fie ift leider noch nicht aus-
geftorben — ift geradezu fürchterlich.

Der Raum verbietet mir, noch weitere Details zu
bringen. Hinweifen aber möchte ich noch kurz auf den
äußerft wertvollen Beitrag, den L.'s Gefchichtsdarftellung
der Theologie des 19. Jahrhunderts gebracht hat.
Vor allem die herrliche Perfönlichkeit Schleiermachers
tritt glänzend heraus. Mit einem freudigen Stolze fpricht
man das: ,er war unfer' aus, wenn man ihn doch eigentlich
als den Größten an der ganzen Berliner Univerfität
fieht, diefen glühenden Patrioten (I, 488f, 516ff., vor allem
641), den frommen Menfchen, der den akademifchen
Gottesdienft begründet (I 221), den warmen Studenten-
freund, der an der burfchenfchaftlichen Bewegung den
lebhafteften Anteil nimmt (II 38, 54), vor allem den
Charakter, der in einer wundervollen Geradheit feinen
Weg geht gegen Regierung und Fakultätsgenoffen, gewiß

| nicht immer fehlerfrei, aber doch ftets großzügig. Man
vgl. das prächtige Bekenntnis zur Freiheit der Forfchung

| auf dem Boden der Reformation II 448. Nahe kommt
ihm de Wette, dann weiter Vatke, (über deffen geniales
Buch ,die Religion des A. T.s' Neander zu dem Ver-

1 faffer die bezeichnenden Worte äußerte: .Eigentlich gehören
Sie gar nicht zu uns' II 494), während Marheineke
nicht ganz den Zug des Parteifanatikers verliert, und
Neander als der gute, brave Menfch den Situationen fich
nicht gewachfen zeigt. Sehr eingehend hat L. das Eindringen
Hengftenbergs in die Fakultät gekennzeichnet;
in feiner Art war diefer Bibelorthodoxe groß. Kurz, die
L.fche Gefchichte der Univerfität Berlin ift ein die Geiftes-
lage in Deutfchland von Anfang bis Mitte des 19. Jhs.
glänzend beleuchtendes Buch; der muß es gelefen haben,
wer irgend wie über diefe Periode arbeitet. Es ift das
Höchfte, was L.s fchriftftellerifche Kunft geleiftet hat, nie

| den Rahmen einer Berliner Univerfitätsgefchichte ver-

j laffen und doch den wertvollften Beitrag zur allgemeinen
Geiftesgefchichte geliefert zu haben. So entfprach es im

I letzten Grunde den Intentionen der Gründer der Berliner

I Hochfchule; fie follte mehr fein als die anderen preu-
ßifchen Hochfchulen und ift es auch geworden. Sie wird
ihrem Hiftoriker dankbar fein gemeinfam mit allenFreunden
der Geiftesgefchichte des 19. Jhs., die, ohne .berlinifch' zu
fein, doch gerne anerkennen, was von Berlin gekommen
ift. Und die Theologen ftehen hier nicht in der letzten
Reihe. — Die von L. gehaltene Feftrede faßt in knappfter
Form die Grundzüge der Feftfchrift zufammen, naturgemäß
ftark das ,Einft — Jetzt' betonend. Offen gibt L.
das Verhängnisvolle der Reaktion zu: ,Nirgends brannte
die Flamme der nationalen Idee höher und reiner als bei
uns, aber auch nirgends ift man mehr bemüht gewefen,
fie auszutreten'. Den Optimismus freilich in puncto Selbft-
ergänzung der Fakultäten (S. 29) vermag ich für die
theologifchen in Preußen nicht zu teilen, fie können leider
noch nicht bekennen: ,wir wiffen heute von unferer Regierung
, daß fie unfere Freiheit will', und erhalten immer
wieder fchmerzhafte Narben (vgl. ebenda).

Zürich. Walther Köhler.

Bulle, Ferd.: FranziskusHemfterhuis u. derdeutfcheIrrationalismus
des 18. Jahrh. (95 S.) gr. 8°. Jena, E. Diederichs
1911. M. 1.50

Der holländifche Philofoph Hemfterhuis bildet ein
intereflantes Mittelglied in der Entwickelung des deutfchen
Geifteslebens von der Aufklärung zur Romantik. Gegenüber
dem einfeitigen Ideeenkult des Rationalismus erftrebt
er eine Bereicherung des Lebens durch Betonen des Individuellen
, Gefühlsmäßigen und Intuitiven. In der Natur fieht
er etwas Seelenvolles und fucht den Beziehungen der
Dinge unter fich und zu den Menfchen nachzufpüren. Auf
die Führer des deutfchen Geifteslebens am Ende des achtzehnten
und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hat er
mehr oder minder ftarken Einfluß geübt, diefen Einflüffen
geht Bulle in der vorliegenden Monographie mit gründlicher
Beherrfchung des Stoffes und nachfühlendem Ver-
ftändnis nach. Er behandelt nach einander ,die Erkenntnis',
,das Verftehn,' .Liebe und Selbftheit', ,die Ethik,' ,die Ge-
fchichtsphilofophie' und ,die Äfthetik). Dann folgt noch
eine fehr gründliche H. betreffende Bibliographie und ein
Verzeichnis der fonft benutzten Literatur. Leider kommt
feine Darfteilung, wohl beabfichtigter Maßen, über das
Skizzenhafte nicht recht hinaus, was das Verftändnis der
freilich an fich nicht immer klaren und fcharfen Gedanken
der behandelten Denker und Dichter fehr erfchwert.
Im ganzen hat man den Eindruck, daß es fich hier
um eine trotz aller Zartheit für uns tote Gedankenwelt
handelt. Wir können heutzutage Zentrifugal- und
Zentripetalkraft nicht mehr mit Liebe und Selbftheit oder
Ähnlichem identifizieren, wir können die Verquickung
exakt philofophifcher und künftlerifch-phantafievoller Be-