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Ausgabe:

1912 Nr. 21

Spalte:

657-660

Autor/Hrsg.:

Lenz, Max

Titel/Untertitel:

Rede zur Jahrhunderfeier der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, geh. in d. Neuen Aula d. Universität am 12. Oktober 1910 1912

Rezensent:

Köhler, Walther

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657

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 21.

658

Lenz, Max: Gefchichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-
Univerfität zu Berlin. Ausgabe in 2 Bänden. Halle a. S.,
Buchh. d. Waifenhaufes 1910. Lex. 8°.

M. 24—; geb. M. 30 —

Erfter Band: Gründung und Ausbau. (XV, 644 S.). — Zweiter
Band: Minifterium Altenftein. (XI, 514 S.)

— Rede zur Jahrhundertfeier der Königlichen Friedrich-Wil-
helms-Univerfität zu Berlin, geh. in der Neuen Aula der
Univerfität am 12. Oktober 1910. (32 S.) gr. 8°. Halle
a. S., Buchh. d. Waifenhaufes 1910. M. — 5°

Der Riefenaufgabe, als Feftfchrift für die Zentenar-
feier der Berliner Hochfchule ihre Gefchichte zu fchreiben,
hat fich der Hiftoriker Max Lenz unterzogen — diefes
Mal alfo (vgl. Theol. Literaturzeitung 1912, Nr. 9) kein
Theologe; die Theologie aber hatte fchon in Ad. Harnacks
Gefchichte der Berliner Akademie der Wiffenfchaften ihren
Tribut gebracht. Man muß die beiden Werke, das von
Harnack und das von Lenz, zufammennehmen, um ein
glänzendes Bild der kulturellen und geiftesgefchichtlichen
Entwicklung Preußens im 18. und 19. Jh. zu gewinnen.
Beide Werke können auch bezüglich der Form mit einander
konkurrieren: fie find ftiliftifche Meifterwerke und
feffeln den Lefer bis zur letzten Seite. Ganz gewiß
hat der ideale Inhalt oft genug gleichfam von felbft
Schwung und Temperament in die Darfteilung bringen
müffen, aber in eine Akademie- und Univerfitätsgefchichte,
zumal wenn es fich um die amtliche Feftfchrift handelt,
o-ehört auch das Verwaltungstechnifche und Statutarische
hinein, Satzungen, Berufungen, Zenfurmaßregeln u. dgl;
hier bedarf es hoher Kunft der Formgebung, um die
Trockenheit zu überwinden und den Aktenftaub nicht in
die Blätter eindringen zu laffen. Lenz hat in glücklichster
Weife gerade hier feinen feinen Humor und eine
nicht minder feine Ironie fpielen laffen und langweilt uns
nie mit trockener Rubrizierung. Befonderer Wert ift auf
die Ausarbeitung der Charaktere der hervorragendsten
Berliner Dozenten gelegt worden (die Perfonalien find
bei allen notiert), kleine faubere und hübfche Kabinetbilder
heben fich heraus, bis in die Wohnungunddas Arbeitszimmer
dringt der Hiftoriker vor und läßt das tägliche Leben
mit dem Menfchlich-Allzumenfchlichen der Geistesgrößen
auferftehen — mitunter wohl ein wenig zu detailliert, auf
Korten der univerfalen, geiftesgefchichtlichen Bedeutung;
z. B. über Ranke als Hiftoriker innerhalb der Gefchichte
der Historiographie oder über Hegel als Philofophen
hätte wohl mehr gefagt worden können, und über den
Berliner Dozenten und Menfchen etwas weniger. Mit vollem
Rechte wird auch die Gefchichte der Studentenfchaft
berückfichtigt; es handelt fich nicht fowohl um Korpora-
tionsgefchichte — unter der Reaktion wurden fogar alle
fogen. Verbindungen aufgehoben bis auf einen harmlofen
Gefangverein — als um eine Darfteilung des allgemeinen
ftudentifchen Geiftes, wie ihn die burfchenfchaftliche Bewegung
wefentlich gefchaffen hatte. Man hat feine helle
Freude an diefen idealbegeifterten Jünglingen; wohl nie
wieder hat Relimofität in fo Starkem Maße die akademifche
Bürgerfchaft durchweht als zu Beginn des ^.Jahrhunderts!
Luthers ,eine fefte Burg' aber gibt den Ton an.

Die Gefchichte der Univerfität Berlin ein Stück der
Gefchichte Preußens — unter diefem Gefichtspunkte hat
L. gearbeitet und fetzt mit einer prächtigen Ouvertüre
ein, deren Leitmotiv das Fortwirken des Fnederizianifchen
Geiftes am Anfang des 19. Jh.s ift. ,Der preußifche Geift
in den Jahren vor Jena' lautet die Einleitung, die den
idealen Schwung diefes Geiftes zeigt. ,Die Tendenz des
Königs ift, Berlin zu einer Freiftätte und einem Mittelpunkte
deutscher Art und Kunft und aller vernünftigen
Freiheit zu machen', das traditionelle Bild des preußifchen
Ancien regime vor Jena ift ,im wefentlichen erft durch
die Parteien, die liberalen fowohl wie die reaktionären,
hineingetragen, welche nach der Kataftrophe mit dem

Umbau des Staates und der Erhebung unferer Nation
felbft emporkamen', die Kluft zwifchen dem Alten und
dem Neuen war in Wirklichkeit gar nicht fo groß (I 8).
Damals erft kam jene wundervolle Beamtentreue hoch,
die felbft auf dem Sterbebette an nichts anderes denkt
als an den Staat (vgl. das Beifpiel I 11 Anm.), und im
Gegenfatz zur zernagenden franzöfifchen Skepfis herrfchte
allgemeine Zufriedenheit und Zuverficht, auf religiöfem
Gebiete aber eine freie und mannhafte, gegen Bekenntniszwang
proteftierende (vgl. I 14 Anm.) Toleranz. ,Das
Oberkonfiftorium weigerte fich, den königlichen Befehlen
zum Trotz, bei der Kaffation neologifcher Prediger mitzuwirken
' — das klingt heute wie ein Märchen! Kant
aber wird der Führer der Epoche, ,weil er der Religion
einen Platz innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
gab'. Den erften Gedanken, auf diefem Fundamente eine
Univerfität in Berlin zu bauen, hat Karl Friedrich Beyme
gehabt, den L., aus dem Nachlaß B.'s fchöpfend, mit
befonderer Liebe gezeichnet hat, eine Persönlichkeit, die
,nichts anderes kannte als preußifches Staatsempfinden',
nicht ohne ein gut Stück Subalterngeift (I 33), aber ein
Förderer des wiffenfchaftlichen Lebens (er ift z. B. ,die
Seele der Neuorganifation der Univerfität Halle'); 1802
fetzte er den erften Plan zur Univerfität Berlin auf, für
die das Collegium medico-chirurgicum einen Anknüpfungspunkt
bot. Die politifche Reduktion Preußens nach der
Schlacht bei Jena, die den Verluft von Halle in fich
fchloß, ließ den Plan neu aufleben, man (Friedr. Aug.
Wolf vor allem) fprach von einer Verlegung der Hallifchen
Univerfität nach der Hauptftadt, die Überzeugung, der
Staat müffe durch geiftige Kräfte erfetzen, was er an
phyfifchen verloren habe, war nicht nur ein Königswort
(I 78), fondern allgemein, aber es koftete einen nicht leichten
Sichtungsprozeß unter denverfchiedenen Projekten (Beyme,
Fichte mit feinem Kosmopolitismus, in den nur die phi-
lofophifche Fakultät einfchl. der auf ,Religionsgefchichte'
zufammengefchrumpften Theologie hineinpaffen follte,
Schleiermacher, Schmalz), und vor allem war erft die
Räumung Berlins von den Franzofen erforderlich, ehe der
Gedanke Tat wurde durch Wilhelm v. Humboldt, deffen
Wirkfamkeit für Berlin durch prächtig ausgewählte Zitate
in den Zufammenhang feiner allgemeinen Anfchauung
über Staat und nationale Erziehung gerückt wird, wobei
fich die eigenartige Ironie ergibt, daß der Vorkämpfer
der Freiheit der Perfönlichkeit den ftaatlichen Einfluß
erhöhte. Endlos waren die Schwierigkeiten, bis nun Alles
glücklich eingerichtet wurde; Militärbehörde, die verfchie-
denen Infaffen des der Hochfchule beftimmten Palais,
fogar die alte Gräfin Voß, die Oberhofmeifterin, prote-
ftierten. Dann kam in verfchiedenfter Weife eine .fcharfe
Wendung' durch die Berufung von Friedrich v. Schuck-
mann an die Spitze der Unterrichtsverwaltung — die
Reaktion zieht ein, und ihr dumpfer Druck laftet auf der
ganzen, von Lenz dargeftellten Gefchichte und ift, fo füge
ich hinzu, bis zur Gegenwart noch nicht gefchwunden.
Sehr richtig hebt Lenz heraus, daß fich hier ein äußerft
verhängnisvoller Bund zwifchen juriftifchem Rationalismus
und religiöfen Elementen vollzog, die im Grunde ftaats-
feindlich waren. ,Es war nicht der Kampf geiftiger Reaktion
gegen die Aufklärung, fondern der des Staates,
der Monarchie, gegen Tendenzen, welche die Wiffenfchaft
und die Erziehung dem Dominat des Königs und feiner
Beamten gegenüber unabhängig ftellen und ihnen die
Mittel gewähren konnten, um eine von dem leitenden
Willen abweichende Bahn einzufchlagen' (I 316). Es ift
von Joh. Haller in feinem Referate über das L.fche Werk
im Literaturblatt der .Frankfurter Zeitung' 1912 I Quartal
das Verhängnisvolle diefer Wendung für die preußifche
Gefamtentwicklung aufgezeigt worden, ich begnüge mich
hier mit einigen Bemerkungen. Das preußifche Univer-
fitätswefen trägt bis zur Stunde noch fchwer, fehr fchwer
an der Laft von damals, ja, fie wird in der Gegenwart
drückender denn je. Ein Alles einfchnürender Beamten-