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Ausgabe:

1912 Nr. 2

Spalte:

44-49

Autor/Hrsg.:

Doumergue, Emile

Titel/Untertitel:

Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps. Tome IV 1912

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 2.

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zu halten'? (S. 98). Die apriorifche Deduktion fchlägt
doch anfcheinend ganz unvermittelt um in Betrachtungen
über die empirifchen Staatengebilde der bisherigen Ge-
fchichte, fpeziell über den römifchen Staat. Dabei wird
die römifche Eroberungspolitik kritifiert, zugleich aber
in der Rechtsordnung des konkreten Staats ein Stück
göttlicher Weltordnung anerkannt (S. 106). ,Das 20. Buch
ftellt uns plötzlich und unerwartet vor die Identität von
Reich Gottes und Kirche' (S. 109). Die zeitgefchichtliche
Erklärung der Apokalypfe, die von Scholz hier zum erften-
mal in einem genauen Stellennachweis auf Ticonius zurückgeführt
wird (S. 114 ff), rückt das Millenium aus der Zukunft
in die Gegenwart (S. 112). Aus den Inhabern der
himmlifchen Richterftühle werden ,die Vorfteher und Leiter
der gegenwärtigen Kirche' (S. 119). Wie ift diefer Übergang
von den deduktiv konftruierten zu den induktiv
vorgefundenen Größen zu verftehen? Das Problem liegt
nicht in der von Scholz hervorgehobenen Metamorphofe
der beiden Begriffe an und für fich, fondern darin, daß
diefer Übergang nicht einfach, wie es doch fo nahe gelegen
hätte, im platonifchen Schema des Verhältnifles
von Idee und Erfcheinung dargeftellt wird. Die Unter-
fcheidung zwifchen der diesfeitigen und jenfeitigen, exo-
terifchen und efoterifchen Kirche (S. 122 ff), die Auguftin
verwendet, führt doch nirgends zu einer reinlichen
Scheidung zwifchen einer empirifchen und einer über-
empirifchen Größe. Auguftins Kirchenbegriff gleicht ,einer
dreiftöckiger Pyramide, deren unterftes Stockwerk im
hierarchifchen Stil gebaut ift, während das mittlere eine
ethifche, das oberfte eine fpezififch religiöfe Struktur aufweift
'. ,Die mit dem Gottesreich identifche Kirche' . . .
wird ,erft in die Priefterkirche hineingefchaut, hinterher
auf die engere Sphäre der communio sanctorum und
zuletzt auf den engften Kreis des numerus praedeftina-
torum reduziert' (S. 124). Die jntelligiblen Mächte' find
,wie zwei exzentrifche Kreife in diefe fichtbaren Sphären
eingezeichnet, fo, daß fie fie teils umfchließen, teils begrenzen
, teils erweitern und entfchränken' (S. 125). Das
myftifche Zufammengefchautwerden von rechtlichorgani-
fierter Priefterkirche und Gottesftaat, das Immanenzverhältnis
zwifchen der intelligiblen und empirifchen Sphäre
bei Auguftin, das Scholz hier in feiner ganzen Unlösbarkeit
herausftellt, macht aber, wenn man es in feine Konfe-
quenzen verfolgt, das Recht der Alternative zweifelhaft,
mit der Scholz von Anfang an an Auguftins Gottesftaat
herantrat. Die Frageftellung, ob die beiden Staaten
politifch-rechtliche Größen oder ethifch-religiöfe Glaubensmächte
find, fcheint für Auguftin felbft gar nicht zu
exiftieren. Sonft wäre es unverftändlich, daß er ,in diefen
Widerfprüchen denken konnte, ohne fie felbft als folche
zu empfinden' (S. 134), daß er ,nirgend ein Wort darüber
fagt, daß hier Verfchiebungen eingetreten find . . ., ge-
fchweige denn, daß er den Vernich gemacht hätte, die
verfchiedenen Sphären aufeinander abzuftimmen und
gegeneinander auszugleichen' (S. 124). Damit ftehen wir
vor dem fchwierigften Problem der ganzen Auguftin-
auslegung, nämlich dem Widerftreit und der gleichzeitigen
Identifikation der gefchichtslofen Innenfeite des augu-
ftinifchen Gottesbegriffs und Gotteserlebniffes und der
hiftorifch-kirchlichen Heilsvermittlung. Der angehängte
Exkurs über den Begriff der Fruito Dei, in dem Scholz
diefen Begriff von feiner platonifch-neuplatonifchen Vor-
ftufe bis zu Schleiermacher verfolgt, bleibt trotz der Fülle
intereffanter hiftorifcher Einzelheiten darum doch nur an
der Oberfläche, weil er die Beziehungen übergeht, in die
der myftifche ,Gottesgenuß', fobald er aus feiner neu-
platonifchen Vorftufe in die chriftliche Atmofphäre übergeht
, zu der an Chriftus orientierten und an die Kirche
gebundenen fakramentalenHeilsvermittlungtritt.das Ringen
zwifchen gefchichtslofem Neuplatonismus und hiftorifch-
kirchlicher Gebundenheit, das manz.B.in Auguftins Pfalmen-
auslegung und Bonaventuras Itinerarium fo deutlich verfolgen
kann. Hier hätten die letzten Gründe des ungelöften

Widerftreits zwifchen apriorifchen und empirifchen Gedankenreihen
im ,Gottesftaat' hervortreten müffen. Der
Mangel der Arbeit von Scholz ift, daß er fich damit
begnügt, das ,Auguftinifche Gemälde' als einen aus ver-
fchieden ftark entwickelten Schichten zufammengefetzten
.Dreifarbendruck' anfchaulich vorzuführen, ohne es zu den
letzten Problemen und Diffonanzen der Theologie Auguftins
in Beziehung zu fetzen.

Halle a. S._Karl Heim.

Regesta pontificum romanorum. Iubente regia societate
Gottingensi congessit Paulus Fridolinus Kehr. Italia
pontificia sive repertorium privilegiorum et litterarum
a romanis pontificibus ante annum 1198 Italiae ecclesiis
monafteriis, civitatibus singulisque personis concesso-
rum. Vol. V. Aemilia sive provincia Ravennas
(LV, 534 S.) Lex.-8°. Berlin, Weidmann 1911. M.20_

Auf die Bände Rom, Latium, Umbrien (mit der
Mark und den Abruzzen) und Etrurien ift jetzt als V. Band
Aemilia sive Provincia Ravennas gefolgt. Dasfeiner-
zeit (1905) angekündigte Eilzugstempo, das uns jährlich
etwa zwei Bände' verhieß, ift ja nicht eingehalten worden,
dafür find aber aus den projektierten 10—15 Bogen jedes
Bandes — 31 (Band IV 1909) und jetzt gar 34 Bogen
geworden, alfo immerhin eine ganz erftaunliche Arbeits-
leiftung, die nur den Nachteil hat, daß der Ladenpreis
von befcheidenen 6 und 8 Mark der erlten Bände mit dem
jetzigen bereits auf 20 Mark geftiegen ift und damit für
das kaufende Privatpublikum fchon die Grenze des Er-
fchwingbaren erreicht haben dürfte.

Doch das ift nur ein äußerlicher Mangel. Über den
inneren Wert, fpeziell die Dafeinsberechtigung der großzügigen
Publikation Kehrs können wir uns diefes Mal
nähere Ausführungen erfparen, zumal die ganze Wertungs-
fkala, von der etwas überfchwenglichen Lobpreifung
Johannes Hallers angefangen, bis zum Verdammungsurteil
Karl Uhlirzs, fo ziemlich erfchöpft ift. Die Regelten beziehen
fich auf die Emilia und das Erzbistum Ravenna
mit den Suffraganbistümern: Cervia, Sarfina, Cefena, For-
limpopoli, Forli, Faenza, Imola, Comacchio, Adria, Ferrara,
Bologna, Modena, Reggio, Parma und Piacenza. Aus
den 800 Nummern bei Jaffe find nunmehr 1474 (inklufive
61 spuria) geworden. Die den einzelnen Abfchnitten
vorangehenden Literaturnachweife, find wiederum von
denkbar größter Vollftändigkeit. Über die Regifter, Tabellen
und die typographifche Ausftattung läßt fich nur
dasfelbe uneingefchränkte Lob ausfprechen, wie es bereits
bei Befprechung der früheren Bände in diefer Zeitfchrift
gefchehen ift.

Bonn. Siegmund Keller.

Doumergue, E.: Jean Calvin, Les hommes et les choses de
son temps. Tome IV. La pensee religieuse de Calvin.
(485 S.) gr. 8°. Lausanne, G. Bridel & Cie. 1910. fr. 30 —

Unter der allgemeinen, nicht auf die Zunftgelehrten
fondern auf die gebildeten Laien Rückficht nehmenden
Überfchrift ,La pensee religieuse de Calvin' handelt der
vierte Band der großartig angelegten Calvinbiographie
Doumergues (f. Theol. Litztg. 1900, Nr. 15; 1904, Nr. 4;
1906, Nr. 16; 1910, Nr. 4) von der Theologie des Genfer
Reformators. In fieben Büchern ftellt D. den Inhalt der
drei erlten Bücher der Institutio von 1559 dar. I. Prole-
gomena (21—82), II. Gott (83—133), III. Der Sünder
(135—177), IV. Das Gefetz (179—204), V. Der Mittler
(205—236), VI. Das chriftliche Leben (237—348), VII. Die
Prädeftination (349—416). In einem fehr reichhaltigen
Anhang (4^—476) fetzt fich der Verf. mit einer großen
Zahl längerer oder kürzerer aus Anlaß des Jubiläums
Calvins verfaßter Schriften über C.'s Theologie auseinander.
Ein letzter Zufatz (477—480) bringt einen bibliographifchen