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Ausgabe:

1912 Nr. 20

Spalte:

636

Autor/Hrsg.:

Philippi, Fritz

Titel/Untertitel:

Strafvollzug - und Verbrecher 1912

Rezensent:

Köhler, August

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635

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 20.

636

es war. Da die 1. Aufl. hier nicht angezeigt ift, mag diefe
zweite kurz charakterifiert werden. Ein Teil der Predigten
fchließt fich an das Kirchenjahr an; Advent, Weihnachten,
Epiphanien- und Paffionszeit, Oftern, Pfingften find berück-
fichtigt. Ein anderer Teil wählt eigene Wege; vier gelten
dem Vaterunfer, fünf bilden eine Serie ,ChriftlichesLeben';
eine ganze Anzahl befpricht fpezielle Fragen chriftlicher
Sittlichkeit. Eine für den angegebenen Zweck fehr geeignete
Auswahl; fie beleuchtet umfaffend die Stellung
des Predigers zu den wichtigften Glaubens- und Lebensfragen
. Befonders beachtenswert ift die Epiphanien- und
Paffions-Reihe, weil fie Chriftus von verfchiedenen Ge-
fichtspunkten aus würdigt. Mit der ,vollen Menfchheit'
macht B. ganz ernft; aber er bekennt auch: ,Hier ift mehr
als ein Menfch wie wir' (32). Chriftus ift nicht bloß
,erfter Erleber des Glaubens', fondern ,das Abbild der
Gottheit, ihr Vertreter und Mittler uns gegenüber' (ib.);
die Predigt über den Sünderheiland wird der religiöfen
Kraft des reformatorifchen Evangeliums gerecht; der
gleiche Ton klingt auch fonft oft an; die Erlöfung von
der Schuld und der Macht der Sünde wird mit ergreifender
Wucht verkündigt. Auch die ,Oftergewißheit' findet
in B. einen beredten Zeugen. Die nähere Faffung diefer
Gedanken entfpricht der fog. .modernen' Theologie; B.
felbft hat auf Robertfon hingewiefen. Von der modernften
myftifch unbeftimmten Frömmigkeit findet fich nichts;
der gefchichtliche Chriftus, der perfönliche Gott ftehen
im Mittelpunkt. Jede Bekämpfung anderer theologifcher
Anfchauungen fehlt erfreulicherweife. Die Predigten find
nicht voll ausgeführt; B. überläßt die rednerifche Ge-
ftaltung dem Augenblick. In energifchem Anfchluß an
den Text (eine Anzahl altteftamentlicher Texte ift fehr
gefchickt verwertet; über die dabei befolgte Methode
kann man freilich anderer Anficht fein) wird ein knappes
konkretes Thema herausgeftellt (z. B. Die Wirklichkeit der
Religion, Die Liebe Chrifti, Das Gefetz chriftlicher Bildung
, Chriftliche Gehaltenheit, Bruderliebe, Selbftlofigkeit)
und in klarer, fcharfer Teilung und Gedankenordnung
durchgeführt. Die zugrundeliegende Auffaffung der Predigt
ift nach B. felbft die eines .apologetifchen und er-
wecklichen Unterrichts im Chriftentum'; das Erkenntnismoment
tritt aber längft nicht fo ftark hervor, wie man
hiernach annehmen möchte; und doktrinär wird B. nie.
Sehr ftark tritt die Beziehung auf die Gegenwart mit ihren
Forderungen und Eigenheiten hervor. In den Partien,
die von der Bedeutung Chrifti handeln, begegnen natürlich
Gedankengänge, die namentlich dem Theologen von
heut geläufig find; aber auch fie find in eigener Weife
gefaßt; fehr viel ganz Eigenes aber fteckt in den ethifchen
Predigten, die für eine moderne chriftliche Sittenlehre
wertvolle Anregungen geben. Allzu zahlreich treten
Fremdwörter (Ingredienzien, intellektuell, fin de siecle u. a.),
auch feltene Wortbildungen (felbftlebig) auf; ich vermag,
ohne grundfätzlicher Gegner jedes Fremdwortes in der
Predigt zu fein, eine fo reichliche Verwendung felbft für
akademifche Gottesdienfte nicht für richtig zu halten.
Überhaupt ift die Diktion in nicht vereinzelten Fällen fehr
hoch gehalten; vielleicht änderte das aber der mündliche
Vortrag, der ja auch weniger mit Fremdwörtern gearbeitet
haben kann. Die Art, die Hörer anzureden, fcheint mir
nicht durchweg glücklich; fie erinnert zuweilen an eine
Zeit, in der die Kanzel in jeder Beziehung mehr über der
Gemeinde ftand als heute. Auch hier mag ein Vorbehalt
angebracht fein; wir haben ja nicht die endgültige Form.
Alles in allem: Predigten für Menfchen, deren Bildung
auf der Höhe der Zeit fteht, die auch in der Stunde reli-
giöfer Erhebung zu ernftem Denken bereit find, die neue
Formen der religiöfen Erkenntnis fuchen, ohne den religiöfen
Gehalt der alten aufgeben zu wollen.

Gießen. M. Schi an.

Philippi, Fritz: Strafvollzug — und Verbrecher. (Lebensfragen
, hrsg. v. H. Weinel 25.) (83 S.) 8°. Tübingen,
J. C. B. Mohr 1912. M. 1 --

Der Verfaffer fpricht von einem unbeftrittenen Mißerfolg
des heutigen Strafvollzugs, S. 3. (Vgl. dagegen
aber Wach, Die KTiminaliftifchen Schulen 1902, S. 15f.;
Leonhard, die modernen Strafrechtsideen 1910, S. 61).
An den Rückfälligen habe der Strafvollzug bankrott gemacht
, S. 8. (Vgl. dagegen die ftatiftifchen Erhebungen
von Hoegel, Einteilung der Verbrecher in Klaffen 1908,
S. 21.) Wir hätten im Strafvollzug einen Zickzackkurs;
faft jeder neue Strafanftaltsdirektor habe eine andere
Methode(S. 10), die übergroßeMehrheitderStrafgefangenen
habe es in der Anftalt beffer als draußen in der Freiheit,
S. 12 (Gilt auch für die äußeren Lebensverhältniffe nur
bedingt, nur die Tuberkulofegefahr ift gefteigert). Die klaf-
fifche Rechtsfchule könne fchuldig fprechen, aber nicht
ftrafen; nicht die Schuld bemeffen, nicht von ihr löfen,
S. 22. (Vgl. dagegen Wach, a. a. O., S. 19/20). Drei
Viertel aller Strafanftaltsleiter feien ehemalige Unteroffiziere
, S. 51; der Strafvollzug fei eine Schule der Heuchelei
, S. 51; die Verbrecherfeuche greife bei dem Ver-
tufchungsfyftem immer mehr um fich, folange nicht die
Abwehr gegen das Verbrechen organifiert fei in einer
ftarken Hand, S. 60. Der Anftaltsgeiftliche arbeite ohne
kirchlichen Rückhalt, und feine Hauptaufgabe fei das
Auskommen mit dem Anftaltsvorfteher, S. 61. Die alten
Milchkinder der inneren Miffion müßten längft felbftändig
und entwöhnt fein, damit die Mutter Kirche Kraft finde
zu neuen Aufgaben, S. 63. Die Kirche werde fich fernerhin
für die Gefangenenfürforge .intereffieren', foweit es
die Leifetreterei der Konfiftorien vor den Behörden ge-
ftatte, S. 62. Die Fürforgearbeit ftecke noch ganz in der
Vereinsatmofphäre. Zahlte der Minifter keine Diäten, fo
würden fich in den Vereinsfammlungen die Reihen der
Fachgenoffen bedenklich lichten, S. 68/69. — Ein redliches
Streben ift bei diefen Klagen nicht zu verkennen. Um-
fomehr ift zu bedauern, daß der Verfaffer teils alte Streitfragen
kritiklos übernimmt, ohne auf der Höhe der Literatur
zu ftehen, teils Vorwürfe erhebt, die den Stempel
der Einfeitigkeit tragen und ohne ftrikte Beweisführung
nicht erhoben werden follten. Die Vorfchläge des Ver-
faffers: z.B. Anerkennung des Menfchen im Verbrecher,
Trennung des Strafvollzugs von der Strafrechtspflege,
Schaffung von Verwahrungsanftalten (S. 73 ff.), beftehen
aus fehr vag gehaltenen Thefen, fowie aus der Vertretung
einiger Poftulate, die bereits vorher von Anderen präzifer
formuliert und begründet waren.

München. Auguft Köhler.

Referate.

Salvatorelli, Luigi: II signifioatio di .Nazareno'. (39S.) gr. 8".

Roma, Libreria Editrice Romana 1911. L. 1.50

Wenck, Frz.: Splrito e spiriti nel Nuovo Testamento. (27 S.) gr. 8".

Roma, Libreria Editrice Romana 1911. L. —75

Die beiden oben bezeichneten Abhandlungen find Auszüge
aus dem 3. Jahrgang der italienifchen Zeitfchrift ,La cultura con-
temporanea' (Roma, Libreria editrice Romana, in Italien L. 8, im
Ausland L. 10 p. a., Schriftleitung Guglielmo Quadrotta). Ich habe
fie in Berlin vergeblich einzufehen verfucht (die Kgl. Bibliothek
hält fie nicht) und verdanke ihre Kenntnis einem mir auf Wunfch
zugefandten Probeheft. Es fcheint daraus hervorzugehen, daß
das Unternehmen eine Fortfetzung der unter dem Druck der
Moderniftenverfolgung eingegangenen ,Nova et vetera' ift; jedenfalls
haben wir eine moderniftifch gerichtete Monatsfchrift für
Religion und Geifteskultur vor uns. Das erwähnte Heft enthält
z. B. u. a. den Schluß eines Beitrags von juriftifcher Feder, der
an den bisher vorliegenden Proben der kanoniftifchen Reformen
Pius'X ebenfo warm wie freimütig Kritik übt, und eine ausführliche
Wiedergabe von Harnacks bekanntem Vortrag über das
doppelte Evangelium im NT vor dem Berliner Weltkongreß für
freies Chriftentum und religiöfen Fortfchritt 1910. Es mag bei
diefer Gelegenheit erlaubt fein, die Aufmerkfamkeit der am
italienifchen Modernismus Intereffierten auf dies anfcheinend
mühfam feine Exiftenz friftende Organ zu lenken.